Kapitel 9

W ir entdeckten Dean in der Garage, wo er flach auf einer schwarzen Hantelbank lag, den Kopf von der Tür abgewandt. Das blonde Haar klebte ihm schweißnass im Gesicht, während er mit zusammengepressten Kiefern langsam und methodisch Gewichte stemmte. Bei jedem Durchdrücken der Ellbogen fragte ich mich, ob er aufhören würde, doch er machte immer weiter.

Er war muskulös, aber schlank, und mein erster Eindruck war, dass das kein Training war. Sondern eine Strafe.

Michael verdrehte die Augen und stellte sich hinter Dean. »Achtundneunzig«, spottete er mit gequälter Stimme, »neunundneunzig, hundert.«

Dean schloss einen kurzen Moment die Augen und stieß die Hantel dann wieder nach oben. Als er das Gewicht absetzen wollte, zitterten seine Arme leicht. Michael hatte offensichtlich nicht die Absicht, ihm zu helfen, doch zu meiner Überraschung lief Sloane an ihm vorbei, packte die Hantel mit ihren zierlichen Händen und wippte auf den Hacken zurück, um sie in die Halterung zu legen.

Dean wischte sich die Hände an seiner Jeans ab, nahm das neben ihm liegende Handtuch und setzte sich auf.

»Danke«, sagte er zu Sloane.

»Drehmoment«, erklärte Sloane nur. »Meine Arme dienten als Hebel.«

Dean stand auf und lächelte leicht, aber bei meinem Anblick verflüchtigte sich dieses Lächeln sofort.

»Dean Redding«, sagte Michael äußerst selbstzufrieden, »darf ich dir Cassie Hobbes vorstellen?«

»Schön, dich kennenzulernen«, erwiderte Dean und wandte seine dunklen Augen von mir ab, um auf den Boden zu sehen.

Lia, die bislang bemerkenswert still gewesen war, zog bei Deans Worten die Augenbrauen hoch. »Also, wenn das mal nicht –«

»Lia.« Obwohl Deans Stimme weder laut noch streng war, hielt Lia augenblicklich inne.

»Nicht was?«, fragte ich, auch wenn mir klar war, dass ihre nächsten Worte »gelogen ist« gewesen wären.

»Ach nichts«, behauptete Lia leichthin.

Ich sah mir Dean genauer an. Blondes Haar, dunkle Augen. Offene Haltung. Geballte Fäuste. Ich katalogisierte die Art, wie er stand, die Linien seines Gesichts, das schmuddelige weiße T-Shirt und die zerschlissenen Jeans. Er brauchte einen neuen Haarschnitt und hielt sich mit dem Rücken zur Wand und dem Gesicht im Schatten, als sei das sein für ihn vorgesehener Platz.

Was hat er dagegen, mich kennenzulernen?

»Dean«, setzte Michael zu einer Erklärung an – ganz im Plauderton, als würde er gleich eine faszinierende, völlig nutzlose Information preisgeben, »ist ein geborener Profiler. So wie du.«

Die letzten drei Worte schien er mehr an Dean zu richten als an mich, und als sie ihr Ziel trafen, hob dieser seinen Blick zu Michael. Deans Gesicht war völlig emotionslos, aber in seinen Augen blitzte etwas auf – etwas, was mich fast vermuten ließ, dass Michael das Blickduell als Erster beenden würde.

»Dean«, fuhr Michael fort, ohne jedoch die Augen von ihm zu wenden, »weiß mehr darüber, wie Serienkiller denken, als irgendjemand sonst.«

Dean warf das Handtuch fort und stürmte mit angespannten Muskeln vorbei an Michael und Sloane, dann an Lia und mir. Eine Sekunde später war er fort.

»Dean hat einen Wutanfall«, erklärte mir Michael mit einem wissenden Grinsen und lehnte sich an die Hantelbank.

»Ach komm, Michael, wenn Dean einen Wutanfall hätte, wärst du jetzt tot«, spottete Lia.

»Dean würde nie jemanden umbringen«, stellte Sloane fest. Ihr ernsthafter Tonfall war beinahe schon amüsant.

Michael nahm einen Vierteldollar aus der Hosentasche und schnippte ihn in die Luft. »Wollen wir wetten?«

•••

Ich hatte eine traumlose Nacht, was allerdings auch daran lag, dass ich dank der Tatsache, dass Sloane zwar den Körper eines Showgirls hatte, aber offensichtlich die Nasenhöhlen eines übergewichtigen Truckers, nicht besonders viel Schlaf abbekam. Während ich versuchte, ihr Schnarchen auszublenden, schloss ich die Augen und dachte über die einzelnen Naturtalente nach, die in diesem Haus wohnten. Michael. Dean. Lia. Sloane.

Sie waren nicht so, wie ich es erwartet hätte. Keiner von ihnen passte in ein bekanntes Schema. Ein halb wacher Dämmerzustand kam in dieser Nacht Schlaf am nächsten, und so spielte ich ein Spiel, das ich als kleines Kind erfunden hatte. Ich schlüpfte im Geiste aus meiner eigenen Haut und legte die eines anderen Menschen an.

Lias.

Ich begann mit den Äußerlichkeiten. Sie war größer als ich und geschmeidig. Ihr Haar war länger, und sie würde es nachts nicht unter dem Kopf verstecken, sondern auf dem Kissen ausbreiten. Sie hatte lackierte Fingernägel, und wenn sie vor Energie fast platzte, rieb sie mit dem Daumen der rechten Hand über den linken Daumennagel. Im Geiste wandte ich den Kopf – Lias Kopf – zur Seite und sah in ihren Kleiderschrank.

Wenn Michael Agent Briggs ein Auto abgeluchst hatte, so würde Lia Kleider gewählt haben. Ich konnte den zum Bersten gefüllten Schrank fast vor mir sehen. Während der Raum immer deutlicher wurde, überließ ich mich ganz meinem Unterbewusstsein und spürte, wie ich die reale Welt zugunsten der Vorstellung in meinem Kopf verließ.

Ich löste mich von meinem Bett und meinem Schrank, von allen körperlichen Empfindungen. Ich wurde ganz Lia und plötzlich strömten von allen Seiten Informationen auf mich ein. Wie ein Schriftsteller sich in seinem Buch verliert, ließ ich die Simulation ihren Lauf nehmen. Sloane und ich waren ordentlich, aber die Lia in meinem Kopf war schlampig und ihr Zimmer ein vielseitiges Archiv der letzten paar Monate. In ihrem Schrank gab es kein Ordnungssystem. Die Klamotten hingen nur halb auf den Bügeln, und auf dem Boden lagen Kleidungsstücke – schmutzige, saubere, neue und in allen möglichen Zwischenzuständen.

Ich stellte mir vor, wie ich an ihrer Stelle aufstand. Ich selbst würde mich erst hinsetzen, doch dazu würde sich Lia nicht die Zeit nehmen. Stattdessen würde sie sich aus dem Bett rollen und sofort einsatzbereit sein. Fertig zum Angriff. Langes Haar fiel mir auf die Schultern, und ich zwirbelte eine Strähne davon um meinen Zeigefinger – eine weitere nervöse Angewohnheit von Lia, die aussehen sollte, als sei sie kein bisschen nervös.

Ich sah zur Zimmertür. Natürlich geschlossen. Wahrscheinlich auch verschlossen. Was wollte ich ausschließen? Wovor hatte ich Angst?

Angst? , höhnte ich innerlich, und meine innere Stimme klang immer mehr nach Lia. Ich habe vor gar nichts Angst.

Ich ging zu ihrem Schrank – leichtfüßig und mich in den Hüften wiegend – und nahm die erste Bluse heraus, die ich fand. Ich griff völlig willkürlich danach, das nächste Kleidungsstück – einen verspielten Rock – wählte ich jedoch sorgfältig aus. Dann zog ich mich an wie eine Puppe, und mit jedem Augenblick brachte ich mehr Abstand zwischen meine Körperoberfläche und alles, was darunterlag.

Ich machte mir die Haare und die Fingernägel und trug Make-up auf.

Doch die kleine Stimme in meinem Kopf war immer noch da, diejenige, die behauptet hatte, dass ich keine Angst hätte. Nur, dass sie dieses Mal immer und immer wieder dasselbe sagte: dass ich hier war – hinter der verschlossenen Tür, die weiß Gott was draußen ausschließen sollte –, weil ich nirgendwo anders hinkonnte.