A m nächsten Tag konnte ich Lia kaum ansehen. Das Spiel der letzten Nacht hatte ich als kleines Kind mit Fremden gespielt: mit Kindern, die ich in Restaurants gesehen hatte, oder Leuten, die bei der Show meiner Mutter gewesen waren. Sowohl sie selbst als auch die Dinge, die ich mir vorgestellt hatte, wenn ich sozusagen geistig in ihren Schuhen steckte, hatte nie der Realität entsprochen. Doch nun musste ich mich fragen, wie viel davon tatsächlich nur Vorstellungskraft gewesen war – und wie viel ich meinem Unterbewusstsein verdankte, das sich Lias VPU vorgeknöpft hatte.
Hatte ich mir nur vorgestellt, dass Lia schlampig war – oder hatte ich mir das erarbeitet?
»Im Schrank stehen Cheerios und im Kühlschrank sind Eier«, sagte Judd zur Begrüßung hinter seiner Zeitung hervor, als ich immer noch gedankenverloren in die Küche kam. »Ich werde gleich einkaufen fahren. Wer etwas braucht, möge jetzt sprechen oder für immer schweigen.«
»Ich brauche nichts«, erklärte ich.
»Du bist ja pflegeleicht«, stellte Judd fest.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich versuch’s.«
Judd faltete seine Zeitung zusammen und brachte seine leere Tasse zur Spüle. Eine Minute später war ich in der Küche allein. Während ich mir eine Schüssel Cheerios nahm, versuchte ich noch einmal die Lia-Simulation durchzugehen und herauszufinden, warum ich wusste, was ich wusste – und ob ich überhaupt etwas wusste.
»Ich habe keine Ahnung, was diese Cheerios dir angetan haben, aber ich bin mir sicher, es tut ihnen sehr, sehr leid«, bemerkte Michael, als er sich neben mich an den Tisch setzte.
»Wie bitte?«
»Seit über fünf Minuten rührst du sie nun schon erbarmungslos herum«, erklärte Michael, »das ist sittenwidrige Gewalt mit einem Löffel.«
Ich schnippte mit einem Cheerio nach ihm. Michael fing ihn ungerührt auf und steckte ihn in den Mund, wobei er mich schelmisch angrinste.
»Welcher von uns ist es dieses Mal?«, erkundigte sich Michael und stellte seinen Röntgenblick mit diesen unverschämt hübschen Augen scharf.
Plötzlich fand ich meine Cheerios außerordentlich interessant.
»Komm schon, Colorado. Wenn dein Kopf anfängt, ein Profil zu erstellen, strahlt dein Gesicht eine Mischung aus Konzentration, Neugier und Ruhe aus.« Michael hielt inne und ich nahm einen großen Löffel Cheerios. »Deine Nackenmuskeln entspannen sich«, fuhr er fort. »Deine Mundwinkel sinken ganz leicht nach unten, dein Kopf neigt sich ein wenig zur Seite, und du bekommst Krähenfüße in den Augenwinkeln.«
Ruhig legte ich den Löffel in die Schüssel. »Ich kriege keine Krähenfüße.«
Michael klaute mir den Löffel – und ein paar Cheerios. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du süß bist, wenn du dich aufregst?«
»Ich hoffe, ich störe euch nicht?« Lia kam herein, nahm mir die Cheerio-Packung weg und aß gleich aus der Tüte. »Obwohl: Das stimmt nicht ganz. Egal, was hier gerade los ist, es ist mir ein Vergnügen, es zu unterbrechen.«
Ich bemühte mich, sowohl Michaels Bemerkung als auch Lia nicht zu analysieren – und vor allem keine Falten in den Augenwinkeln zu bekommen –, aber beides erwies sich als äußerst schwierig. Was in Lias Fall vor allem daran lag, dass sie ein Nichts von einem Seidenpyjama und Perlen trug. Was Michaels Bemerkung über mich betraf – davon fing ich lieber erst gar nicht an. So was von unpassend, sich in einer Akademie wie dieser von einem Typen ablenken zu lassen.
»Also, Cassie, bist du bereit für deinen ersten Tag in der Cold Case Academy – auch bekannt als der Lehrgang Wie man sich in böse Typen hineinversetzt? « Lia stellte die Packung ab und ging zum Kühlschrank, steckte den Kopf hinein und suchte darin irgendetwas. Ihre Pyjamahose überließ nur sehr wenig der Fantasie.
»Ich bin bereit«, antwortete ich und wandte den Blick ab.
»Cassie wurde schon bereit geboren«, erklärte Michael. Lia hörte einen Moment auf, im Kühlschrank zu rumoren. »Auf jeden Fall ist alles, was Agent Locke für sie hat, besser, als sich fremdsprachige Filme anzusehen«, fuhr Michael ein wenig gequält fort. »Und zwar ohne Untertitel.«
Ich musste ein Lächeln unterdrücken. »Musstest du das an deinem ersten Tag tun?«
»Das«, erwiderte Michael, »musste ich in meinem ganzen ersten Monat tun. Bei Emotionen geht es nicht um das, was Menschen sagen«, äffte er Locke nach, »es geht um Haltung, Gesichtsausdruck und kulturspezifische Manifestationen universeller phänomenologischer Erfahrungen.«
Lia tauchte mit leeren Händen aus dem Kühlschrank auf, schloss die Tür und öffnete die Gefriertruhe.
»Du Armer«, sagte sie zu Michael, »ich bin seit drei Jahren hier, und das Einzige, was sie mir beigebracht haben, ist, dass Psychopathen echt gute Lügner sind und FBI-Agenten echt schlechte.«
»Hast du schon viele getroffen?«, wollte ich wissen.
»FBI-Agenten?«, missverstand mich Lia absichtlich und zog eine Packung Pfefferminzschokoladeneis aus dem Gefrierfach.
Ich verdrehte die Augen. »Psychopathen.«
Lia nahm einen Löffel aus der Schublade und schwang ihn wie einen Zauberstab. »Das FBI versteckt uns in einem hübschen kleinen Haus in einer hübschen Gegend in einer hübschen kleinen Stadt. Glaubst du echt, Briggs würde mich zu Vernehmungen ins Gefängnis mitnehmen? Oder mich rausgehen lassen, damit ich tatsächlich etwas unternehmen könnte?«
Michael übersetzte Lias Worte in eine etwas diplomatischere Sprache: »Das FBI hat Videoaufnahmen, Tonbänder und Transkriptionen. Hauptsächlich von alten Fällen, von Fällen, die kein anderer hat lösen können. Cold Cases eben. Und gemeinsam mit jedem alten Fall, den sie uns bringen, haben sie zehn im Gepäck, die bereits gelöst sind. Die dienen als Tests, um zu sehen, ob wir wirklich so gut sind, wie Agent Briggs behauptet.«
»Selbst wenn man ihnen die Antworten gibt, nach denen sie suchen«, fuhr Lia fort, »selbst wenn die höheren Mächte wissen, dass man recht hat, wollen sie von dir hören, warum.«
Warum was? Dieses Mal stellte ich die Frage nicht laut, doch Michael beantwortete sie trotzdem. Genau wie Agent Locke es prophezeit hatte.
»Warum wir es können und sie nicht.« Er nahm sich einen weiteren Löffel von meinen Cheerios. »Sie wollen uns nicht nur ausbilden. Sie wollen uns nicht nur einsetzen. Sie wollen wir sein.«
»Ganz bestimmt«, fiel eine neue Stimme ein. »Ganz tief in meinem Inneren möchte ich nichts mehr als Michael Townsend sein.«
Agent Locke schlenderte in die Küche direkt auf den Kühlschrank zu. Sie fühlte sich hier offensichtlich wie zu Hause, auch wenn sie woanders wohnte.
»Briggs hat euch beiden Akten hiergelassen«, sagte sie zu Michael und Lia. »Sie sind in seinem Arbeitszimmer. Er will heute eine neue Simulation mit Sloane durchgehen, und ich werde damit anfangen, Cassie einzuarbeiten.« Sie stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Das ist zwar nicht ganz so glanzvoll, wie ein siebzehnjähriger Junge mit einem gestörten Elternhaus und einer Haargel-Abhängigkeit zu sein, aber damit muss ich wohl oder übel leben.«
Michael hob die Hand, um sich im Gesicht zu kratzen – und Agent Locke dabei unauffällig anzuschnipsen.
Lia wirbelte mit dem Löffel in der Luft umher. »Meine Damen und Herren: Lacey Locke!«, rief sie, als sei die FBI-Agentin eine Zirkusnummer, die sie ankündigte.
Locke grinste und fragte mit einem Blick auf Lias Pyjama: »Hat Judd nicht eine Regel bezüglich des Tragens von Nachtwäsche in der Küche?«
Lia zuckte mit den Schultern, doch Agent Lockes Gegenwart schien sie irgendwie ein wenig zu dämpfen.
Nur wenig später waren meine beiden Mit-Naturtalente verschwunden. Weder Lia noch Michael schienen scharf darauf zu sein, sich in der Gesellschaft einer FBI-Profilerin aufzuhalten.
»Ich hoffe, sie machen es dir nicht zu schwer«, meinte Locke.
»Nein.« Ganz im Gegenteil: Für kurze Zeit war es irgendwie völlig normal gewesen, mit den beiden zu frühstücken und zu reden.
»Weder Michael noch Lia hatten eine große Wahl, als es darum ging, der Akademie beizutreten«, erklärte Locke und machte eine Pause, damit ich die Information verarbeiten konnte. »Da neigt man dazu, ein wenig empfindlich zu sein.«
»Sie sind beide nicht dafür gemacht, unter Druck gesetzt zu werden«, bemerkte ich langsam.
»Nein«, erwiderte Agent Locke. »Wirklich nicht. Ich habe eine Menge Fehler gemacht, aber der gehört nicht dazu. Briggs mangelt es ein wenig an … Finesse. Der hat noch nie einen runden Nagel gefunden, den er nicht in ein eckiges Loch hämmern wollte.«
Diese Beschreibung deckte sich genau mit meinem Eindruck von Agent Briggs. Agent Locke sprach offensichtlich meine Sprache. Fast hätte ich sie wegen meines Spiels von letzter Nacht gefragt, nach den Vermutungen, die ich im Halbschlaf über Lia angestellt hatte – doch ich ließ es lieber bleiben.
Denn Dean stand in der Tür.
Agent Locke bemerkte ihn und nickte. »Du kommst gerade richtig.«
»Wozu denn?«, fragte ich.
Im Gegensatz zu der rothaarigen Agentin gingen seine Mundwinkel eher nach unten als nach oben. Nichts an seiner Miene sah freundlich aus. Und eines war mehr als deutlich: Er wollte nicht hier sein. Und auch bei meiner zweiten Vermutung war ich mir ziemlich sicher, dass ich damit richtiglag: Er mochte mich nicht.
Mürrisch blickte er an mir vorbei, beantwortete aber dennoch meine Frage. »Zu deiner ersten Stunde.«