Kapitel 12

I n dieser Nacht träumte ich, dass ich durch einen engen Gang lief. Der Boden war gefliest, die Wände weiß getüncht. Das einzige Geräusch stammte von meinen Turnschuhen, die über den frisch gewischten Boden schlurften.

Das ist nicht richtig. Hier stimmt irgendetwas nicht.

Über mir flackerten Neonröhren und mit ihnen flackerte mein Schatten am Boden. Am Ende des Ganges befand sich eine Metalltür, in der gleichen Farbe gestrichen wie die Wände. Sie stand leicht offen, und ich fragte mich, ob ich sie offen stehen gelassen hatte oder ob meine Mutter sie einen Spalt geöffnet hatte, um nach mir Ausschau zu halten.

Geh nicht hinein. Stopp. Du musst stehen bleiben!

Ich lächelte und ging weiter. Einen Schritt, zwei, drei, vier. Irgendwie wusste ich, dass es ein Traum war, ich wusste, was ich hinter dieser Tür finden würde – aber ich konnte nicht stehen bleiben. Von der Taille an schien ich kein Gefühl im Körper zu haben und mein Lächeln brannte mir wie Feuer im Gesicht.

Ich legte die Hand flach auf die Metalltür und stieß sie auf.

»Cassie?«

Meine Mutter stand vor mir, in einem blauen Kleid. Mir stockte der Atem – nicht weil sie so schön war, obwohl das stimmte, und auch nicht weil sie drauf und dran war, mich auszuschimpfen, da ich so lange gebraucht hatte, um ihr meinen Bericht über das Publikum zu liefern.

Ich bekam keine Luft mehr. Das hier war nie geschehen, doch ich wünschte bei Gott, es wäre so gewesen.

Bitte lass das keinen Traum sein. Nur dieses eine Mal, lass es real sein. Lass es nicht …

»Cassie?« Meine Mutter stolperte zurück. Sie stürzte. Blut färbte die blaue Seide rot. Es spritzte an die Wände. Es war so viel Blut, viel zu viel.

Auf allen vieren kroch sie darin vorwärts, glitt aus, aber wohin sie sich auch wandte, das Messer war überall.

Hände griffen nach ihren Knöcheln. Ich drehte mich um und versuchte, das Gesicht ihres Angreifers zu erkennen, doch mit einem Mal war meine Mutter verschwunden, und ich stand wieder vor der Tür. Meine Hand stieß sie auf.

So ist es passiert , dachte ich benommen. Das ist real.

Ich trat ins Dunkle. Unter meinen Füßen spürte ich etwas Nasses, Glitschiges und dieser Geruch – oh Gott, dieser Geruch! Hastig tastete ich nach dem Lichtschalter.

Nicht. Nicht einschalten, nicht …!

Mit einem Ruck wachte ich auf.

Im Bett neben mir schlief Sloane wie eine Tote. Ich hatte den Traum oft genug gehabt, um zu wissen, dass es keinen Zweck hatte, die Augen wieder zuzumachen. Leise stieg ich aus dem Bett und ging ans Fenster. Ich musste etwas tun – entweder den Tipp von der Frau annehmen, deren Profil ich am Morgen erstellt hatte, und joggen, bis mir der ganze Körper wehtat, oder Deans Beispiel folgen und mich an ein paar Gewichten austoben. Aber dann fiel mein Blick in den hinteren Garten – genauer gesagt, auf den Pool.

Der Garten war nur schwach erleuchtet und im Mondlicht glänzte das Wasser schwarz. Leise nahm ich einen Badeanzug und glitt aus dem Zimmer, ohne Sloane zu wecken. Wenige Minuten später saß ich am Rand des Pools. Selbst mitten in der Nacht war es draußen heiß. Ich ließ die Beine über den Beckenrand baumeln.

Langsam ließ die Anspannung nach, mein Gehirn schaltete ab, und ich glitt ins Wasser. Ein paar Minuten lang ließ ich mich nur treiben und lauschte den hohlen Klängen der Umgebung bei Nacht. Dann hörte ich auf – hörte auf, Wasser zu treten, hörte auf, dem Zug der Schwerkraft entgegenzuwirken, und ließ mich hinabsinken.

Unter Wasser machte ich die Augen auf, konnte allerdings nichts sehen. Um mich herum war es dunkel, doch dann flackerte plötzlich ein Licht an der Pooloberfläche auf.

Ich war nicht allein.

Das kannst du nicht wissen , sagte ich mir, aber auf einmal nahm ich eine schwache Bewegung wahr, woraufhin sich mein Verdacht doch bestätigte. Dort oben war jemand – und ich konnte nicht ewig hier unten bleiben.

Plötzlich hatte ich wieder das Gefühl, in dem engen Gang aus meinem Albtraum zu sein und langsam auf etwas Schreckliches zuzugehen.

Es ist nichts, nur ein Licht.

Dennoch kämpfte ich gegen den Drang an, Luft zu holen. Paradoxerweise wollte ich hier unter Wasser bleiben, wo es sicher war. Doch das konnte ich nicht. Wasser verstopfte mir die Ohren, und während meine Lunge nach Luft schrie, umgab mich das Hämmern meines Herzschlags.

Langsam tauchte ich auf und durchbrach die Wasseroberfläche so leise, wie ich konnte. Wassertretend sah ich mich um und suchte den Garten nach dem Eindringling ab. Nichts. Als ich schon dachte, mich tatsächlich getäuscht zu haben, entdeckte ich es doch noch: ein Paar Augen. Mondlicht glänzte in ihnen.

Und sie schauten direkt in meine.

»Ich wusste nicht, dass du hier draußen bist«, sagte der Besitzer der Augen. »Ich sollte gehen.«

Mein Herz hämmerte weiter, selbst als ich erkannte, dass es Deans Stimme war. Jetzt, wo ich ihn identifiziert hatte, konnte ich weitere Einzelheiten erkennen. Das Haar hing ihm ins Gesicht. Seine Augen – die mir gerade noch wie die eines Raubtieres vorgekommen waren – blickten einfach nur verwundert.

Offensichtlich hatte er nicht erwartet, dass jemand um drei Uhr morgens schwimmen ging.

»Nein«, sagte ich. Meine Stimme klang über der Wasseroberfläche wie ein Gewehrschuss in der Nacht. »Das ist auch dein Garten. Bleib ruhig hier.«

Meine Nervosität erschien mir lächerlich. Wir waren hier in einer ruhigen, verschlafenen kleinen Stadt. Der Garten war von einem Zaun umgeben, und niemand wusste, wozu uns das FBI ausbildete. Keiner hatte es auf uns abgesehen. Dies war nicht mein Traum.

Ich war nicht meine Mutter.

Einen langen Augenblick dachte ich, dass sich Dean umdrehen und weggehen würde, doch stattdessen setzte er sich dicht an die Kante des Pools. »Was machst du hier draußen?«

Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich gezwungen, ihm die Wahrheit zu sagen. »Ich konnte nicht schlafen.«

Dean sah über den Garten. »Ich habe schon vor einiger Zeit aufgehört zu schlafen. Meistens klappt es nur drei, vielleicht vier Stunden lang.«

Ich hatte ihm etwas mitgeteilt und er mir. Danach schwiegen wir, er am Beckenrand und ich wassertretend in der Mitte des Pools.

»Es war nicht real, weißt du«, sagte er leise, aber es war so still, dass er auch hätte flüstern können.

»Was war nicht real?«

»Das heute.« Dean schwieg eine Weile, bevor er fortfuhr: »Im Einkaufszentrum mit Locke. Diese Spiele auf dem Parkplatz. So ist es nicht.«

In diesem Licht waren seine Augen so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten, und die Art, wie er mich ansah, machte mir plötzlich klar, dass er mich gar nicht kritisierte.

Er versuchte, mich zu beschützen.

»Ich weiß, wie es ist«, erwiderte ich. Wahrscheinlich wusste ich es besser als jeder andere. Ich hörte auf, Wasser zu treten, und drehte mich auf den Rücken, starrte den Himmel an und war mir vollkommen bewusst, dass er mich ansah, wie ich hier mit nichts als dem Badeanzug am Körper im Wasser trieb.

»Briggs hätte dich nicht herbringen sollen«, sagte er schließlich. »Dieser Ort hier wird dich zugrunde richten.«

»Hat er Lia zugrunde gerichtet?«, fragte ich. »Oder Sloane?«

»Sie sind keine Profiler.«

»Hat er dich zugrunde gerichtet?«

»Da gab es nicht viel zu ruinieren«, antwortete Dean wie aus der Pistole geschossen.

Ich schwamm zum Rand neben ihm.

»Du kennst mich nicht«, sagte ich und zog mich aus dem Wasser. »Ich habe keine Angst vor diesem Ort. Ich habe keine Angst zu lernen, wie die Denkweise eines Killers tickt, und ich habe auch keine Angst vor dir.«

Ich war mir nicht sicher, warum ich die letzten Worte hinzugefügt hatte, aber seine Augen blitzten dabei auf. Ich war schon halb im Haus, als ich hörte, wie er aufstand und über das Gras zu dem winzigen schuppenartigen Poolhaus ging.

Und dann betätigte er einen Schalter.

Plötzlich war es nicht mehr dunkel. Erst nach einem Moment erkannte ich, wo das Licht herkam. Der Pool … leuchtete. Es gab kein anderes Wort dafür. Es sah aus, als hätte jemand ein Leuchten in die dunkle Farbe am Rand geschüttet, als wäre hier und dort ein Tropfen fluoreszierender Farbe ins Wasser gelangt. Lange Striche. Flecken. Vier parallele Streifen auf den Fliesen neben dem Pool.

Ich warf Dean einen Blick zu.

»Schwarzlicht«, sagte er, als sei das die einzige Erklärung, die ich benötigte.

Ich konnte nicht anders, ich musste es mir aus der Nähe ansehen. Am Beckenrand hockte ich mich hin, um mehr erkennen zu können. Und dann sah ich auf dem Grund des dunklen Pools den leuchtenden Umriss eines Körpers, den einer Frau.

»Ihr Name war Amanda. Sie haben sie mit dem Gesicht nach unten im Pool treibend gefunden«, erzählte Dean, »aber es ist schwierig, einen Umriss auf die Wasseroberfläche zu zeichnen.«

Erst da wurde mir klar, was die Farbspuren und die Streifen auf dem Beton und am Beckenrand darstellen sollten.

Blut.

Die Farbe hatte mich in die Irre geleitet, obwohl mir das Muster nur allzu vertraut war.

»Drei Mal wurde mit dem Messer auf sie eingestochen.« Dean weigerte sich, mich anzuschauen, er sah nicht einmal auf den Pool. »Als sie in ihrem eigenen Blut ausrutschte, schlug sie mit dem Kopf auf dem Beton auf. Dann legte er ihr ihre Finger um den Hals und drückte ihren Oberkörper über den Beckenrand.«

Ich konnte es vor mir sehen, ich sah den Mörder über dem Körper eines Mädchens stehen. Sie musste getreten haben. Sie musste seine Hände gekratzt und versucht haben, sich am Beckenrand abzustoßen.

»Er hat sie unter Wasser gedrückt.« Dean kniete sich neben den Pool und zeigte es mir. »Er hat sie ertränkt. Und dann hat er sie losgelassen.« Auch er ließ von seinem imaginären Opfer ab und gab ihr einen Schubs, der sie in die Mitte des Pools beförderte.

»Das hier ist ein Tatort«, sagte ich schließlich. »Einer von den gefakten Tatorten, mit denen sie uns testen, wie die Szenen unten im Keller.«

Dean starrte auf die Mitte des Pools, wo die Leiche getrieben haben musste.

»Er ist kein Fake«, korrigierte er mich dann. »Der Mord ist wirklich geschehen. Nur nicht hier.«

Aus irgendeinem Instinkt heraus, wollte ich ihm die Hand auf die Schulter legen, doch er hinderte mich daran und wandte sich zu mir um, sodass er gefährlich dicht vor mir stand. Seine Augen strahlten eine Intensität aus, die ich so noch nie gesehen hatte. »Alles hier – Haus, Garten, Pool – wurde zu einem einzigen Zweck erschaffen.«

»Vollständiges Eintauchen in die Materie«, erwiderte ich und hielt seinem Blick stand. Er sollte mir bloß nicht noch einmal sagen, dass ich hier nicht hergehörte. »Wie in diesen Schulen, wo sie ausschließlich Französisch sprechen.«

Dean deutete mit dem Kopf zum Pool. »Diese Sprache sollte kein Mensch lernen wollen.«

Normale Menschen – das meinte Dean. Aber ich war nicht normal. Ich war ein Naturtalent, wie sie es nannten. Ich war dazu bestimmt, hier in der Cold Case Academy ausgebildet zu werden. Und dieser nachgestellte Tatort war nicht das Schlimmste, was ich je gesehen hatte.

Zum zweiten Mal in dieser Nacht ging ich wieder zum Haus. Ich hörte Dean über den Rasen laufen und den Schalter umlegen. Und als ich über die Schulter zurücksah, war der Pool wieder einfach nur ein Pool. Der Garten war nur ein Garten und die Blutspritzer waren unsichtbar.