Kapitel 15

S amstagmittag erwachte ich von zwei verschiedenen Geräuschen: dem Rascheln von Spielkarten und dem hohen Sirren von Metall auf Metall. Ich schlug die Augen auf und drehte mich auf die Seite. Sloane saß im Schneidersitz auf dem Bett, einen Kaffeebecher in der Hand. Mit der anderen legte sie sieben Reihen mit unterschiedlicher Anzahl von verdeckten Karten aus.

»Was machst du da?«, wollte ich wissen.

Sloane betrachtete einen Moment lang die Rückseiten der Karten, nahm dann eine und verlegte sie. »Patience spielen«, erklärte sie.

»Aber die Karten sind doch alle verdeckt.«

»Ja.« Sie nahm einen Schluck aus ihrem Becher.

»Wie kannst du Patience spielen, wenn alle Karten verdeckt sind?«

»Sloane ist so was wie ein Kartenhai. Briggs hat sie in Las Vegas entdeckt.« Lia steckte den Kopf aus dem Wandschrank. »Wenn sie das Kartenspiel nur ein Mal kurz ansieht, kann sie die Karten ziemlich gut aufspüren, selbst wenn sie gemischt wurden.«

In diesem Moment registrierte ich erst, dass Lia in unserem Schrank steckte. Metall auf Metall , dachte ich. Metallbügel, die über eine Kleiderstange aus Metall rutschen.

»He«, rief ich mit einem genaueren Blick auf Lias derzeitiges Outfit, »das ist mein Kleid!«

»Jetzt ist es meines«, behauptete Lia lächelnd. »Hat dir das FBI nicht gesagt, dass ich Leim an den Fingern habe? Kleptomanie, pathologisches Lügen – im Grunde ist es alles dasselbe.«

Das sollte wohl ein Witz sein, jedenfalls nahm ich das an. Bei Lia konnte man sich da allerdings nicht so sicher sein. So viel war mir inzwischen klar.

»Das war doch nur Spaß«, bestätigte Lia aber gleich darauf. »Das mit der Kleptomanie, meine ich, nicht die Tatsache, dass ich nicht beabsichtige, dieses Kleid zurückzugeben. Ehrlich gesagt ist Sloane hier die Kleptomanin, aber die Farbe des Kleides steht mir eigentlich besser als dir, das musst du doch zugeben.«

Ich wandte mich an Sloane, die bei ihrem Spiel einen Gang höher geschaltet hatte – oder auch drei.

»Sloane?«, begann ich.

»Ja?«

»Warum durchwühlt Lia unseren Kleiderschrank?«

Sloane sah auf, ohne in ihrem Spiel innezuhalten. »Motivation ist doch eher dein Fachgebiet als meines. Ich finde die meisten Menschen ein wenig verwirrend.«

»Warum lässt du Lia in unserem Schrank herumwühlen?«, formulierte ich meine Frage um.

»Oh«, machte Sloane, als sie begriff, was ich sagte, »sie hat mich bestochen.«

»Bestochen?«, fragte ich, und erst da kapierte ich, was in Sloanes Becher war. »Du hast ihr Kaffee gegeben?«

Lia strich sich mit der Hand mein Kleid glatt. »Ich bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage.«

•••

Sloane auf Koffein war in etwa wie ein Auktionator auf Speed. Wie Schnellfeuer schossen die Zahlen aus ihrem Mund, eine Statistik für jede Gelegenheit. Acht Stunden lang.

»Sechzehn Prozent der Amerikaner haben blondes Haar«, informierte sie mich fröhlich. »Aber nur fünf Prozent der Fernsehdoktoren.«

Mit einem aufgeputschten Statistikjunkie fernzusehen, wäre schon Herausforderung genug gewesen, doch leider war Sloane nicht die Einzige, die mir nach dem Essen in den Medienraum gefolgt war.

»Ihr Mund sagt zwar: Darren, ich liebe dich , aber ihre Haltung sagt: Nicht zu fassen, was die Autoren meiner Figur antun – sie würde sich nie auf so einen Trottel einlassen. « Michael warf sich ein Stück Popcorn in den Mund.

»Würdest du bitte still sein?« Ich gestikulierte zum Bildschirm hin, vermied aber, in seine Richtung zu sehen.

»Gerne doch.« Dass er grinste, war seiner Stimme deutlich anzuhören.

Ich versuchte, die beiden auszublenden, bemühte mich allerdings umsonst. Ich konnte mich genauso wenig auf das medizinische Melodram konzentrieren wie sie, denn alles, woran ich denken konnte – immer und immer wieder –, war, dass das VPU von Dr. Darren, dem Trottel, einfach nicht stimmte.

»Sollten wir zum Reality-TV umschalten?«, schlug Michael vor.

»Ungefähr ein Prozent der Bevölkerung sind voraussichtlich Psychopathen«, verkündete Sloane. »Kürzlichen Schätzungen zufolge sind es vierzehn Prozent unter den Stars von Realityshows.«

»Wessen Schätzungen?«, wollte Michael wissen.

Sloane lächelte wie die Grinsekatze. »Meinen.«

Michael verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich zurück. »Vergesst das Profiling von potenziellen Mördern. Verhaften wir einfach vierzehn Prozent der Realitystars und machen Feierabend.«

Sloane rutschte tiefer in ihren Sessel und spielte mit dem Ende ihres Pferdeschwanzes. »Es ist aber kein Verbrechen, ein Psychopath zu sein.«

»Verteidigst du jetzt Psychopathen?«, erkundigte sich Michael und zog die Augenbrauen hoch. »Das ist der Grund, warum wir dir keinen Kaffee geben.«

»He«, verteidigte Sloane jetzt sich selbst, »ich sage doch nur, dass statistisch gesehen ein Psychopath eher ein CEO wird als ein Serienkiller.«

»Soso.« Lia war wohl der einzige Mensch, den ich kannte, der seine Gegenwart mit einem »Soso« ankündigen würde. Als sie unsere Aufmerksamkeit hatte, sah sie uns der Reihe nach an. »Judd ist heute Abend mit einem alten Freund in die Stadt gegangen. Das heißt, wir haben sturmfrei!« Sie faltete die Hände vor dem Körper und verlangte: »Wohnzimmer. In fünfzehn Minuten. Seid vorbereitet!«

»Vorbereitet worauf?«, fragte ich, aber sie war schon weg, bevor ich die Frage vollständig gestellt hatte.

»Das verheißt nichts Gutes«, behauptete Michael, doch es klang nicht wirklich überzeugend. Er stand auf. »Meine Damen, wir sehen uns in fünfzehn Minuten.«

Während ich ihm nachsah, kam mir der Gedanke, dass ich den größten Teil meines Lebens als Zuschauer verbracht hatte. Lia aber war der Typ Mensch, der einen von der Seitenlinie direkt aufs Spielfeld beförderte.

»Irgendeine Vermutung, worauf wir uns da einlassen?«, fragte ich Sloane.

»Ausgehend von früheren Erfahrungen, habe ich sogar eine sehr starke Vermutung. Auf Ärger«, erwiderte Sloane ernsthaft.