A gent Locke tauchte am Montagmorgen mit tiefen Ringen unter den Augen auf. Zu spät fiel mir ein, dass Briggs und sie an einem Fall gearbeitet hatten, während wir fernsahen oder Wahrheit oder Tat? spielten. An einem richtigen Fall, bei dem es um etwas ging.
Um einen richtigen Killer.
Eine ganze Weile saß Locke nur schweigend am Küchentisch. Wir wussten es besser, als sie zu drängen, und schließlich brach sie doch die Stille: »Briggs und ich sind am Wochenende gegen die Wand gefahren. Wir haben drei Leichen und der Killer wird immer schneller.« Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das offensichtlich nicht gebürstet war. »Das ist nicht euer Problem. Es ist meines. Aber dieser Fall erinnert mich wieder daran, dass der Täter nur die Hälfte der Geschichte ist. Dean, was kannst du Cassie über Viktimologie erzählen?«
Dean starrte Löcher in den Küchentresen. Ich hatte ihn seit dem Wahrheit oder Tat? -Spiel nicht mehr gesehen, doch es schien, als habe sich zwischen uns nichts geändert, als hätten wir uns nie geküsst.
»Die meisten Killer haben einen bestimmten Typ Opfer«, erklärte er. »Manchmal ist es das Aussehen, bei anderen liegt es vielleicht an der Erreichbarkeit – vielleicht konzentriert man sich auf Tramper, weil sie zumindest ein paar Tage lang niemand als vermisst meldet, oder Studenten, weil man leicht an ihre Stundenpläne kommt.«
Agent Locke nickte. »Gelegentlich stehen die Opfer stellvertretend für jemanden im Leben des Täters. Manche Mörder töten ihre erste Freundin, ihre Frau oder ihre Mutter immer und immer wieder.«
»Und was uns die Viktimologie noch erzählt«, fuhr Dean fort und sah kurz Agent Locke an, »ist, wie das Opfer darauf reagiert haben könnte, wenn es entführt oder angegriffen wurde. Wenn du ein Killer wärst …« Er hielt inne und suchte nach den richtigen Worten. »Zwischen dir und den Menschen, die du tötest, gibt es eine Art Geben und Nehmen. Du wählst sie aus. Du lockst sie in die Falle. Vielleicht wehren sie sich. Vielleicht fliehen sie. Manche versuchen, mit dir zu verhandeln, manche sagen Dinge, die dich in Rage bringen. Auf jeden Fall reagierst du.«
»Wir haben nicht den Luxus, jedes Detail der Persönlichkeit des Täters zu kennen«, warf Agent Locke ein, »aber die Persönlichkeit und das Verhalten des Opfers machen schon die Hälfte des Tatorts aus.«
In dem Moment, als ich den Ausdruck »Tatort« vernahm, stand ich im Geiste wieder vor der Tür zur Garderobe meiner Mutter. Ich hatte immer geglaubt, so wenig darüber zu wissen, was damals geschehen war. Denn als ich zum Umkleideraum zurückkam, war der Mörder weg. Meine Mutter war weg. Da war so viel Blut …
Viktimologie, mahnte ich mich. Ich kannte meine Mutter.
Sie hätte sich gewehrt, hätte gekratzt, ihm Lampen über den Schädel geschlagen, um das Messer gerungen – sie hätte gekämpft . Und es gab nur zwei Dinge, die sie hätten aufhalten können: ihr Tod oder die Erkenntnis, dass ich jede Sekunde wiederkommen konnte.
Vielleicht war sie mit ihm gegangen? Die Polizei war davon ausgegangen, dass sie tot war – oder zumindest bewusstlos –, als der Täter sie aus dem Raum mitgenommen hatte. Doch meine Mutter war nicht klein und die Garderobe lag im zweiten Stock des Theaters. Sie wäre nicht freiwillig mitgegangen, um ihr eigenes Leben zu retten – aber vielleicht war sie ihrem Angreifer gefolgt, um mich zu retten.
»Cassie?«, holte mich Agent Lockes Stimme wieder in die Gegenwart zurück.
»Genau«, sagte ich.
Sie sah mich kritisch an. »Genau was?«
»Tut mir leid«, sagte ich, »könnten Sie bitte wiederholen, was Sie zuletzt gesagt haben?«
Sie musterte mich lange und prüfend, dann wiederholte sie: »Ich sagte, dass man, wenn man einen Tatort aus dem Blickwinkel des Opfers durchgeht, darauf schließen kann, ob die Annahmen über den Täter korrekt waren. Nehmen wir den Fall von Annabelle Harrison. Cassie, du hast dich in Annabelle hineinversetzt, aber Dean war dort und hat die andere Hälfte übernommen. Auf welche Vermutungen wärst du sonst nicht gekommen?«
Dean antwortete an meiner Stelle. »Dass er männlich ist. Wir haben angenommen, dass ihr Entführer männlich ist, weil die meisten Täter bei Kindesentführungen männlich sind, vor allem wenn das Kind ein fremdes ist.«
»Das Alter«, fügte ich hinzu. »Wir haben den Täter irgendwo zwischen achtzehn und zweiunddreißig Jahren geschätzt.«
Wie viel davon war Täterprofil und wie viel hatten wir vermutet?
»Ihr hattet recht«, sagte Agent Locke. »Mit beidem. Annabelle Harrison wurde von einem achtundzwanzigjährigen Mann entführt. Aber was wäre, wenn es nicht so gewesen wäre? Wenn ich euch gesagt hätte, dass Annabelle von jemandem über sechzig entführt worden ist?«
Dean musste nur ein bis zwei Sekunden überlegen. »Je älter der Täter, desto weniger bedrohlich würde er auf ein kleines Mädchen wirken. Es war Weihnachtszeit … wenn er alt erschien oder als Weihnachtsmann verkleidet gewesen wäre …«
Es war merkwürdig, Dean in der Rolle des Opfers zu sehen.
»Ihr braucht beide Seiten der Medaille.« Locke wippte auf den Hacken zurück. »Kontrolle und Gegenkontrolle, Opfer und Täter – denn bei irgendetwas werdet ihr immer falschliegen. Irgendetwas wird euch immer entgehen. Was, wenn der Täter älter ist, als ihr glaubt? Was, wenn er eine Sie ist? Wenn es zwei Täter sind, die zusammenarbeiten? Was, wenn er selbst nur ein Kind ist?«
Wir sprachen nicht mehr vom Fall Annabelle Harrison. Jetzt ging es um die Zweifel, die Locke im Moment quälten, die Vermutungen, die sie bezüglich des aktuellen Falls angestellt hatte. Wir sprachen über einen Täter, den Locke und Agent Briggs nicht hatten schnappen können.
»Neunzig Prozent aller Serienkiller sind männlich«, kündigte Sloane ihr Erscheinen an, als sie in die Küche trat. »Sechsundsiebzig Prozent sind Amerikaner, wobei ein großer Teil aus Kalifornien, Texas, New York und Illinois stammt. Die überwiegende Mehrheit sind Weiße und über neunundachtzig Prozent der Opfer von Serienmördern sind ebenfalls Weiße.«
Mir fiel auf, dass Sloane deutlich langsamer sprach, wenn sie nicht unter dem Einfluss von Koffein stand.
Briggs kam hinter Sloane durch die Tür hinein. »Lacey«, forderte er Agent Lockes Aufmerksamkeit, »Starmans hat mich gerade angerufen. Wir haben eine vierte Leiche.«
Diese Worte – und ihre Bedeutung – vermittelten mir fast das Gefühl, ich würde etwas hören, was nicht für mich bestimmt war. Eine weitere Leiche. Ein weiterer Mensch tot.
Wie meine Mutter.
Locke presste die Zähne aufeinander. »Dasselbe Muster?«, fragte sie Briggs.
Der nickte knapp. »Eine Handleserin in Dupont Circle. Und die Recherche in der nationalen Datenbank erbrachte mehr als eine Übereinstimmung für den M. O. unseres Killers.«
Welcher Modus Operandi? Die Frage ließ mich nicht los, genauso wenig wie die nach dem neuen Opfer, ob die Frau eine Familie gehabt hatte und wer den Hinterbliebenen die Nachricht von ihrem Tod überbracht hatte.
»So schlimm?«, fragte Locke, die in Briggs’ Gesicht zu lesen schien. Ich wünschte mir, Michael wäre da und könnte mir helfen, dasselbe zu tun. Dieser Fall ging mich nichts an – doch ich wollte es wissen.
»Wir sollten uns anderswo unterhalten«, schlug Briggs vor und blickte bedeutungsvoll zu Sloane und dann zu mir. Da ich kaum die Tatsache verhehlen konnte, dass ich jedes Wort, das sie sagten, förmlich in mich aufsaugte, versuchte ich es mit einem anderen Argument.
»Sie hatten keine Bedenken, Dean um Rat zu fragen, als er erst zwölf war«, warf ich ein. »Warum haben Sie jetzt auf einmal Skrupel?«
Briggs warf Dean einen wütenden Blick zu, der ihn, ohne zu blinzeln, erwiderte. Okay, das war vielleicht kein besonders kluger Schachzug von mir gewesen, denn offensichtlich hätte Dean diese Information nicht mit uns anderen teilen dürfen, aber ebenso offensichtlich war, dass Dean bestimmt nicht als Erster die Augen senken würde. Briggs sollte bloß nicht glauben, dass er uns alles vorschreiben konnte.
Judd betrat die Küche, stellte sich zwischen Briggs und Dean und lockerte die angespannte Stimmung auf, indem er verkündete: »Die Blumenbeete müssten mal gejätet werden. Wenn ihr für heute mit den Kids fertig seid, kann ich sie für etwas Arbeit gebrauchen. Vielleicht tut es ihnen gut, sich mal die Hände schmutzig zu machen und an die Sonne zu kommen.«
Judd richtete seine Worte zwar an Agent Briggs, doch es war Locke, die ihm antwortete.
»Schon gut, Judd«, sagte sie und blickte von Dean zu mir. »Sie können bleiben. Tanner, du hast gesagt, die Datenbankrecherche hat mehr als einen Fall mit dem gleichen M. O. hervorgebracht?«
Einen Moment lang sah Agent Briggs aus, als wolle er Lockes Entscheidung, diese Dinge vor uns zu bereden, widersprechen, und Judd sah aus, als hätte er ihr am liebsten gesagt, sie schulde ihm etwas dafür, dass er ihr Gespräch unterbrochen hatte. Aber Locke blieb von alldem unbeeindruckt und wartete hartnäckig ab.
Schließlich gab Briggs nach und beantwortete die Frage seiner Partnerin. »Unsere Suche in der Datenbank zeigte, dass es in den letzten neun Monaten drei ähnliche Fälle gegeben hat«, sagte er und betonte jedes einzelne Wort. »In New Orleans, Los Angeles und American Falls.«
»In Illinois?«, fragte Locke nach.
Briggs schüttelte den Kopf. »Idaho.«
Wenn die Fälle miteinander in Verbindung standen, dann hatten wir es mit einem Mörder zu tun, der Staatsgrenzen überschritt und seit fast einem Jahr tötete.
»Meine Reisetasche ist im Auto«, sagte Locke, und mir wurde auf einmal klar, dass wir es mit gar nichts zu tun hatten. Locke hatte es zwar verhindert, dass Briggs uns drei aus dem Raum scheuchte, aber letztendlich war das keine Übung, und es war nicht mein Fall, nicht einmal unser Fall.
Es war ihr Fall.
»Wir fahren um 16 Uhr«, beschloss Briggs und zog sich die Krawatte gerade. »Ich habe Arbeit für Lia, Michael und Sloane dagelassen. Lacey, hast du etwas für Cassie und Dean – abgesehen von Unkrautjäten?«, fügte er mit einem Blick auf Judd hinzu.
»Ich will ihnen keinen alten Fall dalassen«, wandte sich Locke fast entschuldigend zu mir. »Cassie, du hast unglaublich viel Talent, aber du hast zu viel Zeit in der realen Welt verbracht und noch zu wenig in unserer.«
»Sie wird mit allem fertig, was Sie ihr vorlegen.«
Echt jetzt? Überrascht sah ich Dean an. Von ihm hätte ich als Letztes erwartet, dass er sich für mich starkmachte.
»Danke, dass du dich so für sie einsetzt, Dean, doch ich werde das nicht überstürzen. Nicht bei ihr.« Sie hielt inne und forderte mich dann auf: »Bibliothek, drittes Regal von links. Dort steht eine Reihe von blauen Ordnern. Es sind Interviewprotokolle aus dem Gefängnis. Arbeite dich hindurch, dann werden wir uns darüber unterhalten, ob du an alten Fällen arbeiten kannst, wenn ich zurückkomme.«
»Das halte ich für keine gute Idee.« Auf einmal klang Deans Stimme merkwürdig tonlos.
Locke zuckte nur ungerührt mit den Schultern. »Du hast gesagt, sie sei bereit.«