Kapitel 20

D eans Vater ist ein Serienmörder.

Während ich mit meiner Mutter im Land herumgereist war, hatte Dean gleich neben dem Schuppen gewohnt, in dem sein Vater mindestens ein Dutzend Frauen gequält und getötet hatte.

Dean hatte mir nichts davon erzählt. Nicht, als er mich das erste Mal am Swimmingpool überrascht hatte, nicht, als wir mit Locke im Einkaufszentrum waren und uns die Ideen zugespielt hatten, und auch nicht, nachdem wir uns geküsst hatten. Er hatte mir erzählt, dass es mein Untergang wäre, dass es mich zugrunde richten würde, wenn ich versuchte, mich in Serienkiller hineinzuversetzen, hatte es aber nicht für nötig gehalten, mir mitzuteilen, dass seine Erfahrungen auf dem Gebiet keineswegs nur theoretischer Natur waren.

Plötzlich ergab alles einen Sinn. Der Ton von Lias Stimme, als sie sagte, dass die Fotos an der Treppe Dean daran erinnerten, warum er hier sei. Die Tatsache, dass Agent Briggs Dean bei einem Fall um Hilfe gebeten hatte, als dieser erst zwölf war. Dass Michael mir ihn mit den Worten vorgestellt hatte, Dean wisse mehr über die Denkweise von Killern als sonst jemand. Dass Lia mich um den Gefallen gebeten hatte, Dean nichts über diese Vernehmungsprotokolle zu sagen. Michaels Anspielung auf Böse Saat.

Ich stand auf, schob den Ordner in meine Tasche und war schon auf halbem Weg zum Haus, als ich erst merkte, dass ich rannte.

Was hatte ich eigentlich vor?

Auf diese Frage hatte ich keine Antwort. Doch umkehren konnte ich auch nicht. Also lief ich bis zum Haus einfach weiter. Ich ging die Treppe hinauf zu meinem Zimmer, aber oben erwartete mich Dean, als habe er gewusst, dass es heute so weit sein würde.

»Du hast die Interviews gelesen«, stellte er fest.

»Ja«, antwortete ich leise, »habe ich.«

»Hast du bei Friedman angefangen?«, fragte Dean.

Ich nickte und wartete darauf, dass er das benannte, was unausgesprochen zwischen uns stand.

»Das ist der Kerl mit der Strumpfhose, nicht wahr? Bist du bis zu der Stelle gekommen, wo er erzählt, wie er seiner Schwester beim Anziehen zugesehen hat? Oder das mit dem Nachbarshund?«

So hatte ich Dean noch nie reden gehört – so oberflächlich und grausam.

»Ich will nicht über Friedman reden«, erklärte ich.

»Na gut«, erwiderte Dean. »Du willst über meinen Vater reden. Hast du das ganze Interview gelesen? Am dritten Tag hat ihn Briggs dazu überredet, über seine Kindheit zu sprechen. Weißt du, womit er ihn bestochen hat? Mit Bildern von mir. Und als das nicht funktioniert hat, mit Bildern von ihnen. Von den Frauen, die er ermordet hat.«

»Dean …«

»Was? War das nicht das, was du wolltest? Darüber reden?«

»Nein«, antwortete ich. »Ich will über dich reden.«

»Über mich?« Dean hätte nicht ungläubiger klingen können, selbst wenn er es versucht hätte. »Was gibt es denn da noch zu sagen?«

Ja, was gibt es dazu zu sagen?

»Ist mir egal.« Ich war immer noch ganz außer Atem, ob vom Laufen oder weil das Gespräch so seltsam verlief, wusste ich nicht. Aber mir war durchaus klar, dass ich die Sache falsch rüberbrachte. »Dein Vater … das ändert nichts daran, wer du bist.«

»W as ich bin«, korrigierte er mich. »Und doch, tut es. Warum gehst du nicht Sloane fragen, was die Statistiken über Psychopathen und Erblichkeit aussagen? Oder was sie über das Aufwachsen in einer Umgebung aussagen, wo das das Einzige ist, was man kennt?«

»Auch Statistiken sind mir egal«, erklärte ich. Irgendwie musste ich ihn dazu bringen, mir zu glauben. »Wir sind Partner. Wir arbeiten zusammen. Du wusstest, dass ich es herausfinden würde. Du hättest es mir sagen können.« Ich biss mir auf die Lippe. Mit einem Vorwurf würde ich wohl nicht weit kommen.

»Wir sind keine Partner.«

Okay, das tat weh – und genau das hatte er beabsichtigt.

»Wir werden nie Partner sein«, fuhr Dean kalt fort. Er schien das nicht zu bedauern. »Willst du wissen, warum? Weil du zwar gut darin bist, die Denkweise und die Motivation von normalen Menschen nachzuvollziehen, ich mich allerdings nicht einmal anstrengen muss, um mich in einen Killer hineinzuversetzen. Stört dich das nicht? Hast du nie bemerkt, wie leicht es für mich ist, das Monster zu spielen, wenn wir zusammen arbeiten?«

Ich hatte es bemerkt, aber der Tatsache zugeschrieben, dass Dean mehr Erfahrung darin hatte, Täterprofile zu erstellen. Mir war nur nicht klar gewesen, dass er Erfahrungen aus erster Hand hatte.

»Wusstest du das von deinem Vater?« Ich bereute die Frage, sobald ich sie ausgesprochen hatte, doch Dean schien sie nicht zu stören.

»Nein«, erwiderte er. »Zuerst nicht, aber ich hätte es wissen sollen.«

Zuerst nicht?

»Ich habe dir doch gesagt, Cassie, als Briggs mit seinen Fragen zu Fällen ankam, war bei mir schon alles zu spät.«

»Das stimmt nicht, Dean.«

»Mein Vater saß im Gefängnis. Ich war bei Pflegeeltern, und selbst damals wusste ich schon, dass ich anders war als andere Kinder. Wie ich dachte … die Dinge, die für mich Sinn ergaben …« Er wandte sich ab. »Ich glaube, du solltest jetzt gehen.«

»Gehen? Wohin?«

»Wohin auch immer, das ist mir egal.« Bebend stieß er die Luft aus. »Lass mich einfach in Ruhe!«

»Ich will dich nicht in Ruhe lassen.« Da war es plötzlich, etwas, was ich seit dem Wahrheit oder Tat? -Spiel nicht einmal zu denken gewagt hatte.

»Wie genau hätte ich es dir denn sagen sollen?«, wollte Dean wissen. Er sah mich dabei nicht an. »He, ist das nicht seltsam: Deine Mutter wurde ermordet und mein Vater ist ein Killer?«

»Hier geht es nicht um meine Mutter.«

»Was willst du von mir hören, Cassie?« Endlich richtete Dean wieder den Blick auf mich. »Lass es mich einfach wissen, und dann sage ich, was du hören willst.«

»Ich will nur, dass du mit mir sprichst.«

Deans Hände ballten sich neben seinem Körper zu Fäusten. Durch die Haare in seinem Gesicht konnte ich seine Augen kaum erkennen.

»Ich will aber nicht mit dir sprechen«, sagte er. »Versuch dein Glück lieber bei Michael.«

Michael? Was sollte das denn jetzt? Doch bevor ich noch etwas sagen konnte, packte mich eine Hand an der Schulter und wirbelte mich herum, und zwar ziemlich heftig.

»Er hat gesagt, er will nicht mit dir reden, Cassie.« Lias Gesicht war zwar vollkommen ruhig, aber ihre Stimme war es keineswegs. »Sieh ihn nicht an und sag kein einziges Wort mehr! Und noch etwas.« Sie neigte sich vor und flüsterte mir ins Ohr: »Erinnere mich daran, dich nie wieder um einen Gefallen zu bitten. Und jetzt geh einfach.«