Kapitel 21

L angsam ging ich die Treppe wieder hinunter und versuchte zu verarbeiten, was gerade geschehen war. Was hatte ich mir dabei gedacht, Dean auf so etwas anzusprechen? Es war sein Recht, Geheimnisse zu haben. Es war sein Recht, wütend zu sein, dass Locke mir aufgetragen hatte, diese Interviews zu lesen, obwohl sie wusste, dass eines davon mit seinem Vater geführt worden war. Ich hätte nicht hinaufgehen sollen, ich hätte ihn in Ruhe lassen sollen.

»Lia oder Dean?«

Ich sah auf und bemerkte Michael an der Haustür.

»Wie bitte?«

»Dein Gesichtsausdruck«, erwiderte Michael. »Lia oder Dean?«

»Beide?«, gab ich schulterzuckend zurück.

Michael nickte, als sei meine Antwort eine Tatsache, an der nicht zu rütteln war. »Alles in Ordnung?«

»Du bist doch hier der Gefühlsleser«, entgegnete ich. »Sag du es mir.«

Er fasste das als Aufforderung auf, näher zu kommen, blieb nur ein oder zwei Schritte vor mir stehen und sah mir forschend ins Gesicht. »Du bist verwirrt. Wütend mehr auf dich als auf die beiden anderen. Einsam. Zornig. Dumm.«

»Dumm?«, stieß ich hervor.

»He, ich sage nur, was ich sehe.« Michael war offensichtlich zu schonungsloser Offenheit aufgelegt. »Du kommst dir dumm vor. Das heißt nicht, dass du dumm bist.«

»Warum hast du es mir nicht gesagt?«, fragte ich und setzte mich auf die unterste Treppenstufe. Nach kurzem Zögern ließ sich Michael neben mir nieder und streckte die Beine auf dem Holzfußboden aus. »Warum machst du nur vage Andeutungen über Böse Saat , anstatt mir einfach die Wahrheit zu sagen?«

»Ich habe darüber nachgedacht«, erzählte Michael und lehnte sich auf die Ellbogen zurück. Wie üblich widersprach seine entspannte Haltung vollkommen der Anspannung, die in seiner Stimme zu hören war.

Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es gewesen wäre, über Deans Vater ausgerechnet etwas von Michael zu hören, der in seiner Gegenwart ja kaum höflich bleiben konnte. Okay, das war eine üble Untertreibung. Michael nutzte im Grunde jede Gelegenheit, um Dean zu provozieren.

»Genau.« Michael tippte mir an die Lippen, als hätten die ihm verraten, was in meinem Kopf vor sich ging. »Du hättest mir nicht gedankt, wenn ich es dir erzählt hätte, du hättest mich dafür gehasst.«

Ich schlug nach Michaels Hand. »Ich hätte dich nicht gehasst.«

Michael wedelte mit der Hand vor meiner Stirn herum, vermied es aber, mich tatsächlich zu berühren. »Dein Mund sagt das eine, deine Augenbrauen sagen aber etwas anderes.« Er hielt inne und verzog selbst den Mund zu einem trägen Lächeln. »Dir ist es vielleicht nicht bewusst, Colorado, aber du kannst ganz schön scheinheilig sein.«

Dieses Mal ließ ich nicht mein Gesicht für mich sprechen, sondern hieb ihm kräftig auf die Schulter.

»Na gut!«, ergab sich Michael mit erhobenen Händen. »Du bist nicht scheinheilig. Du bist ehrenhaft.« Er hielt inne und richtete den Blick geradeaus. »Vielleicht wollte ich nur vermeiden auszusprechen, dass ich es nicht bin.«

Einen winzigen Moment lang ließ Michael diese Worte, sein Geständnis, in der Luft hängen.

Dann ruinierte er die Spannung mit den Worten: »Außerdem: Wenn ich dir gesagt hätte, dass du, wenn du die Wahl zwischen mir und Redding hättest, bei mir sicherer fahren würdest, hätte ich meinen sorgfältig aufgebauten Ruf als Bad Guy zunichtegemacht.«

In weniger als zwei Sekunden von Selbsthass zu Hohn. Das schaffte nur Michael.

»Glaub mir«, gab ich zurück, »du hast gar keinen Ruf.«

»Tatsächlich?«, fragte Michael. Als ich nickte, stand er auf und nahm meine Hand. »Dagegen müssen wir etwas unternehmen, findest du nicht?«

Ein vernünftiger Mensch hätte Nein gesagt. Ich holte tief Luft. »Und an was hast du dabei gedacht?«

•••

Sachen in die Luft zu jagen, hatte eine überraschend therapeutische Wirkung.

»Fertig!«, schrie Michael, woraufhin wir uns hastig zurückzogen. Gleich darauf ging eine Reihe von Feuerwerkskörpern hoch und hinterließ eine Brandspur in einem nachgestellten Foyer.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Agent Briggs an so etwas gedacht hat, als er den Keller bauen ließ«, meinte ich.

Michael machte ein ernstes Gesicht. »Simulationen gehören zu unseren wichtigsten Werkzeugen«, imitierte er Agent Briggs. »Wie sonst sollen wir uns die Arbeit des jeweiligen Täters vorstellen können?«

Hinter uns ging die Kellertür auf und knallte gleich darauf wieder zu. Ich erwartete schon, dass Judd gekommen war, um sich zu erkundigen, was wir hier unten eigentlich machten, doch Michael hatte mir versichert, dass der Keller schalldicht war. Und tatsächlich war es nicht Judd, sondern Sloane.

»Ich wusste gar nicht, dass jemand hier ist.« Sloane beäugte uns misstrauisch.

Michael und ich blickten uns an, und ich öffnete schon den Mund, um zu antworten, als Sloane angesichts der Beweise die Augen aufriss.

»Ein Feuerwerk?«, sagte sie und verschränkte die Arme vor dem Körper. »Im Foyer?«

Gelassen zuckte Michael mit den Schultern. »Cassie brauchte eine Ablenkung, und ich musste dafür sorgen, dass Briggs noch ein paar graue Haare mehr bekommt.«

Sloane sah ihn trotzig an. Angesichts der vielen Zeit, die sie hier unten verbrachte, konnte ich verstehen, dass sie den Missbrauch der Tatortszenen keineswegs guthieß.

»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich.

»Sollte es auch«, erwiderte sie streng. »Ihr macht das total falsch.«

Daraufhin folgten ein zehnminütiger Vortrag über Pyrodynamik sowie mehrere weitere Explosionen.

»So«, meinte Michael nach der letzten und betrachtete unser Werk, »das sollte Briggs und Locke eine Lehre sein, uns zu lange uns selbst zu überlassen.«

Ich schob mir mit dem Handballen die Haare aus dem Gesicht. »Sie arbeiten an einem Fall«, erinnerte ich ihn. »Ich glaube, das hat eine etwas höhere Priorität als unsere Ausbildung.«

»Sloane«, sagte Michael plötzlich ganz langsam und runzelte dabei die Stirn.

»Nichts«, antwortete Sloane schnell.

»Nichts was?«, wollte ich wissen. Hab ich was verpasst?

»Als ich Lockes Namen gesagt habe, hat Sloane nach unten gesehen und die Augenbrauen zusammengezogen«, erklärte Michael, und als er weitersprach, klang er ein wenig weicher. »Was hast du geklaut, Sloane?«

Sloane betrachtete eingehend ihre Fingernägel. »Agent Locke mag mich nicht.«

Ich musste an das letzte Mal denken, als ich Agent Locke und Sloane zusammen gesehen hatte. Sloane war in die Küche gekommen und hatte eine Statistik über Serienkiller heruntergerattert. Locke hatte keine Gelegenheit zu einer Antwort bekommen, weil Briggs mit einem Update zu ihrem Fall hereingekommen war. Ich konnte gar nicht mit Sicherheit sagen, ob ich Locke und Sloane je schon mal miteinander hatte sprechen sehen. Mit Michael und Lia tauschte Locke allerdings ganz locker Sticheleien aus.

»Da war so ein USB-Stick«, gab Sloane schließlich zu, »in Agent Lockes Aktentasche.«

Michaels Gesicht leuchtete auf. »Und ich gehe mal davon aus, dass du den jetzt hast?«

Sloane vermied immer noch direkten Blickkontakt. »Die Möglichkeit besteht, ja.«

»Du hast Locke einen USB-Stick aus der Aktentasche geklaut?« Diese Information musste ich erst mal verarbeiten. Als Lia sich in meinem Kleiderschrank bedient hatte, hatte sie zwar gesagt, dass Sloane die Kleptomanin im Haus war, doch ich hatte das für einen Scherz gehalten.

Offenbar wurde ich gerade eines Besseren belehrt.

»Konzentrieren wir uns mal auf das Wesentliche«, verlangte Michael. »Was glaubt ihr beiden Süßen denn, welche Geheimnisse Locke wohl mit sich herumträgt, während sie an einem Fall arbeitet?«

Ich ignorierte Michaels Schmeicheleien und sah von Sloane zu Michael. »Glaubt ihr, dass das etwas mit dem aktuellen Fall zu tun hat?«, fragte ich, unfähig, die Neugier aus meiner Stimme zu verbannen.

»Die Möglichkeit besteht durchaus«, bestätigte Sloane deutlich fröhlicher.

Michael legte ihr den Arm um die Schulter. »Habe ich dir schon mal gesagt, dass du hier meine Lieblingsleidensgenossin bist?«, fragte er sie und warf mir dann einen verschmitzten Blick zu. »Brauchst du immer noch eine Ablenkung?«