M ichael, kriege ich mal …« Mit diesen Worte stürmte ich in die Küche, nur um festzustellen, dass Michael und Sloane dort nicht allein saßen. Judd kochte, und Agent Briggs stand mit dem Rücken zu mir, eine schmale schwarze Aktentasche zu seinen Füßen.
»… den Schinken«, beendete ich meinen Satz schnell.
Agent Briggs drehte sich zu mir um. »Und warum hat Michael deinen Schinken?«, wollte er wissen.
Als ob die ganze Situation nicht schon schlimm genug wäre, suchte sich Lia ausgerechnet diesen Moment aus, um in die Küche zu schlendern und mit einem bösartigen Grinsen nachzuhaken: »Ja, Cassie, erklär uns doch mal, warum Michael deinen Schinken hat.«
So, wie sie es sagte, ließ das wenig Zweifel daran, dass sie mich herausfordern wollte.
»Lia«, warnte Judd und wedelte mit einem Pfannenwender in ihre Richtung, »das reicht.« Dann wandte er sich an mich. »Das Essen ist gleich fertig. Ich denke, du wirst es so lange aushalten?«
»Ja«, bestätigte ich, »kein Schinkenbedarf.«
Michael schlug sich hinter Briggs’ Rücken mit der Handfläche vor die Stirn. Offensichtlich ließen meine Täuschungsmanöver zu wünschen übrig. Ich versuchte, mich schleunigst aus dem Staub zu machen, doch Agent Briggs hielt mich auf.
»Auf ein Wort, Cassie!«
Ich fragte mich, ob Briggs etwas darüber wusste, was Michael, Sloane und ich getan hatten – und falls ja, wie viel er wusste.
»Subkontinental«, sagte Sloane plötzlich.
»Das wird spannend«, murmelte Lia.
Sloane räusperte sich. »Agent Briggs hat um ein Wort gebeten. Subkontinental ist ein gutes Beispiel. Weniger als fünf Prozent aller Wörter enthalten alle fünf Vokale.«
Ich war dankbar für die Ablenkung, doch leider fiel Agent Briggs nicht darauf herein. »Cassie?«
»Ich komme«, antwortete ich und folgte ihm hinaus. Ich war erst nicht sicher, wohin er mich führte, aber nachdem wir an der Bibliothek vorbei waren, erkannte ich, dass wir den einzigen Raum im Erdgeschoss ansteuerten, in dem ich noch nicht gewesen war: Briggs’ Arbeitszimmer.
Er machte die Tür auf und ließ mich Platz nehmen. Während ich mich setzte, sah ich mich um. Das Zimmer war voller ausgestopfter Tiere.
Jagdtrophäen.
Ein Braunbär stand auf den Hinterbeinen, das Maul zu einem stummen Schrei aufgerissen. Auf der anderen Seite hockte ein lebensechter Panther mit glänzenden Reißzähnen, während eine andere Raubkatze auf der Jagd zu sein schien.
Das Verwirrendste an dem ganzen Zimmer – und vielleicht der ganzen Situation – war, dass ich Agent Briggs nicht für einen Jäger gehalten hatte.
»Es sind Raubtiere. Sie erinnern mich daran, womit mein Team es zu tun hat, wenn wir da hinausgehen.«
Etwas an der Art, wie Agent Briggs dies sagte, machte mir unmissverständlich klar, dass er wusste, was Michael, Sloane und ich in seiner Abwesenheit getrieben hatten. Er wusste, dass wir die genauen Details des Falles kannten, an dem er und Agent Locke arbeiteten.
»Wie haben Sie es herausgefunden?«, fragte ich.
»Judd hat es mir gesagt.« Briggs durchquerte den Raum und setzte sich auf die Schreibtischkante. »Er hält sich hier zwar im Hintergrund, doch es gibt nicht viel, was ihm entgeht. Informationsbeschaffung war schon immer seine Spezialität.«
Ohne den Blick von mir abzuwenden, machte Briggs seine Aktentasche auf und nahm eine Akte heraus. Es waren alle Blätter, die wir zuvor ausgedruckt hatten.
»Das hier habe ich von Michael konfisziert und das hier«, er hielt den USB-Stick hoch, »von Sloane. Ihr Laptop wird unserem technischen Labor einen Besuch abstatten, damit wir sicherstellen können, dass alle Spuren der Daten darauf von der Festplatte gelöscht werden.«
Ich hatte noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt, Agent Briggs von meinen Vermutungen zu erzählen, und trotzdem bremste er mich schon aus – und vor allem schloss er mich aus.
Er fuhr sich mit einer Hand übers Kinn, und ich erkannte, dass er sich mindestens einen Tag lang nicht rasiert hatte.
»Der Fall läuft nicht gut, nicht wahr?«, fragte ich.
»Du musst mir jetzt gut zuhören, Cassandra.«
Es war erst das zweite Mal, dass er mich bei meinem vollen Namen nannte, nachdem ich ihm gesagt hatte, dass ich lieber Cassie genannt werden wollte.
»Ich habe es ernst gemeint, als ich dir sagte, worum es hier in der Akademie geht und worum nicht. Das FBI wird Teenagern nicht erlauben, sich mit aktiven Fällen zu befassen.«
Seine Wortwahl enthüllte mir mehr, als er ahnte. Das FBI hatte Bedenken, Teenager damit zu betrauen. Briggs persönlich hatte sie nicht.
»Sie sagen also, es war in Ordnung, den zwölfjährigen Sohn eines Serienmörders als Ihr persönliches Lexikon für Mördergehirne zu benutzen, aber jetzt, wo die Ausbildung in der Akademie offiziell ist, dürfen wir uns die Akten nicht einmal mehr ansehen?«
»Was ich sage«, entgegnete Briggs, »ist, dass dieser Täter gefährlich ist. Er ist von hier. Und ich habe nicht die Absicht, einen von euch da hineinzuziehen.«
»Selbst wenn der Fall etwas mit meiner Mutter zu tun hätte?«
Briggs machte eine lange Kunstpause. »Du ziehst voreilige Schlüsse.« Er fragte mich nicht, warum ich glaubte, dieser Fall hätte etwas mit dem meiner Mutter zu tun. Nun, da ich es angesprochen hatte, brauchte er das auch nicht. »Die Berufe, das rote Haar, das Messer. Das reicht nicht.«
»Der Täter hat dem letzten Opfer die Haare gefärbt.« Ich fragte nicht, ob meine Vermutung stimmte, sondern ging davon aus, dass mein Instinkt richtig war. »Das geht über die Opferwahl hinaus. Das ist nicht mehr nur ein Modus Operandi. Das ist ein Teil der Handschrift des Täters.«
Briggs verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich werde nicht mit dir darüber sprechen.«
Dennoch verließ er nicht den Raum.
»Hat der Täter ihre Haare gefärbt, bevor oder nachdem er sie getötet hat?«
Briggs antwortete nicht. Er hielt sich an sein Skript, aber er verlangte auch nicht von mir aufzuhören.
»Die Haare des Opfers zu färben, ehe er sie tötet, könnte ein Versuch sein, eine idealere Zielperson zu finden, eine, die vorgibt, ein Medium zu sein, und die rote Haare hat. Aber ihr die Haare hinterher zu färben …« Ich schwieg lange genug, um zu sehen, dass Briggs zuhörte. Er lauschte jedem einzelnen Wort. »Ihr die Haare zu färben, wenn sie schon tot ist, das ist eine Botschaft.«
»Und was für eine Botschaft soll das sein?«, fragte Agent Briggs so scharf, als würde er die Theorie verwerfen, obwohl wir beide wussten, dass er das nicht tat.
»Eine Botschaft für Sie: Die Haarfarbe spielt eine Rolle. Der Täter will, dass Sie den Zusammenhang zwischen den Fällen erkennen. Er glaubt nicht, dass Sie von selbst darauf kommen, also hilft er Ihnen dabei.«
Briggs schwieg ein paar Sekunden lang.
»Wir können das nicht tun, Cassie. Ich kann dein Interesse an diesem Fall verstehen. Ich verstehe, dass du helfen willst, aber egal, was du vorhast, das hört sofort auf.«
Ich wollte etwas einwenden, doch er hob die Hand und brachte mich zum Schweigen.
»Ich sage Locke, dass sie mit dir an alten Fällen arbeiten soll. Du bist offensichtlich dazu bereit. Aber wenn du auch nur ein weiteres Mal in Richtung dieses Falles schnüffelst, wird das Konsequenzen haben, und ich kann dir garantieren, dass die unangenehm sein werden.« Er neigte sich vor und seine Haltung ähnelte unbewusst der eines brüllenden Bären. »Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Ich antwortete nicht. Wenn er das Versprechen von mir wollte, dass ich mich da heraushalten würde, so würde er bitter enttäuscht werden.
»Ich habe bereits ein Naturtalent als Profiler in der Akademie«, erklärte Briggs und sah mich direkt an, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. »Ich hätte gerne zwei, aber ich werde dafür nicht meinen Job riskieren.«
Da war sie, die ultimative Drohung. Wenn ich zu weit ging, würde mich Briggs nach Hause schicken, nach Hause zu Nonna und den Tanten und Onkeln und der ständigen Gewissheit, dass ich nie so sein würde wie sie oder wie überhaupt jemand außerhalb dieser Wände.
»Sie haben sich klar ausgedrückt«, antwortete ich.
Briggs klappte die Aktentasche zu. »Lass noch ein paar Jahre ins Land gehen, Cassie. Sie werden dich nicht für immer von der Arbeit da draußen ausschließen.«
Er wartete auf meine Antwort, doch ich schwieg nur. Schließlich stand er auf und ging zur Tür.
»Wenn er anfängt, ihnen die Haare zu färben, dann ändern sich die Regeln«, rief ich ihm nach, ohne darauf zu achten, ob er stehen blieb oder nicht. »Und das bedeutet vor allem eins: Bevor die ganze Sache besser wird, wird es erst noch sehr viel schlimmer.«