I ch ging früh zu Bett. Es war in den letzten vierundzwanzig Stunden so viel geschehen, dass ich fast körperliche Schmerzen hatte. Ich wollte einfach nicht mehr wach sein. Das funktionierte auch für ein paar Stunden, aber kurz nach Mitternacht wachte ich auf, weil ich vor der Tür Schritte vernahm und die wohltuende Melodie von Sloanes Schnarchen neben mir.
Einen Moment lang glaubte ich, ich hätte mir die Schritte nur eingebildet, dann sah ich allerdings einen Schatten unter der Tür.
Da draußen ist jemand.
Wer immer dort stand, verharrte jetzt an Ort und Stelle. Mit schweißnassem Haar und wild pochendem Herzen schlich ich mich zur Tür.
Und machte sie auf.
»Willst du heute Nacht nicht schwimmen?«
Im Dunkeln konnte ich Michaels Gesicht erst allmählich ausmachen, doch seine Stimme erkannte ich sofort.
»Mir ist nicht nach Schwimmen«, antwortete ich leise, aber nicht so leise, wie ich gewesen wäre, wenn die Nasenhöhlen meiner Zimmergenossin nicht gedroht hätten, mich innerhalb eines Jahres taub werden zu lassen.
»Ich habe etwas für dich.« Michael trat vor, bis sein Gesicht nur noch Zentimeter von meinem entfernt war.
Langsam hielt er eine zwei Zentimeter dicke Akte hoch.
Ich sah von ihm zu der Akte und wieder zurück.
»Du hast doch nicht …«
»Oh doch«, erwiderte er, »habe ich.«
»Wie?« Mir juckte es schon in den Fingern, ihm die Akte abzunehmen.
»Briggs hat Sloane den Computer weggenommen. Aber mir meinen nicht.«
Ich dachte an Briggs’ Drohung, mich nach Hause zu schicken. Dann schloss ich langsam die Finger um die Akte. »Du hast die Dateien auf deinen Laptop kopiert.«
»Gern geschehen.« Michaels Mundwinkel verzogen sich zu diesem verdammt charmanten Lächeln.
•••
Ich steckte die Akte unter meine Matratze. Vielleicht gab es darin noch einen weiteren Hinweis. Vielleicht auch nicht. Bei der ersten Gelegenheit würde ich sie Dean zeigen. Dummerweise war er nicht allein, als ich ihn am nächsten Morgen aufsuchte.
»Hast du mich vermisst?«, fragte Agent Locke und forderte mich, ohne eine Antwort abzuwarten, auf: »Setz dich.« Das tat ich, Dean ebenfalls. »Hier.« Agent Locke hielt eine dicke Mappe hoch, die prall gefüllt war.
»Was ist das?«, wollte ich wissen.
»Briggs meint, du seiest bereit für den nächsten Schritt, Cassie. Hat er recht?«
»Ein alter Fall?« Die Mappe war verblasst und viel, viel schwerer als die unter meiner Matratze.
»Eine Reihe ungelöster Morde aus den Neunzigern«, erklärte Locke. »Überfall zu Hause, ein Kopfschuss, wie eine Hinrichtung. Ansonsten finden sich noch ähnliche ungelöste Morde in der Mappe, die seitdem in der gleichen Gegend verübt wurden.«
»Kein Wunder, dass die Akte so dick ist«, stöhnte Dean. »Ein Drittel aller Überfälle in Verbindung mit Drogen sehen wahrscheinlich genauso aus.«
»Dann sollte euch beide das ja eine Weile beschäftigen.« Locke warf mir einen Blick zu, der mir sagte, dass Briggs ihr von unserer kleinen Unterhaltung erzählt hatte. »Ich sehe gegen Ende der Woche noch einmal nach euch. Ihr müsst eine Menge lesen und ich muss einen Fall lösen.«
Damit ließ sie uns beide allein. Ich machte den Mund auf, um etwas über die Akte unter meiner Matratze zu sagen, klappte ihn dann jedoch wieder zu. Lia hatte ihre Ohren überall und offensichtlich war Judd auch kein bisschen besser.
»Was hältst du davon, im Keller an diesem Cold Case zu arbeiten?«, fragte ich. Im schalldichten Keller.
Es brauchte einen Moment, bis Dean verstand, doch dann ging er voran die Treppe hinunter und schloss fest die Tür hinter uns.
Wir passierten all die Filmsets, und nachdem ich mich versichert hatte, dass wir allein waren, begann ich: »Als ich gestern die Akte holen wollte, hat mich Briggs erwischt. Bis ich wieder in meinem Zimmer war, warst du schon weg.«
»Wie ist es gelaufen?«
»Ich habe ihm von meiner Theorie erzählt und ihn gebeten, am Fall mitarbeiten zu dürfen. Er hat Nein gesagt.«
»Du willst trotzdem daran arbeiten?«, erkundigte sich Dean und blieb vor einem der Outdoorszenarien stehen, einem Park. Ich setzte mich auf die Parkbank und er stützte sich auf die Armlehne.
»Ich habe eine Kopie der Akte«, sagte ich. »Willst du sie dir ansehen?«
Er nickte. Fünf Minuten später nahm er nichts mehr um sich herum wahr, so vertieft war er – und ich hatte Lockes alten Fall in der Hand, zur Tarnung, falls jemand nach uns sehen kam.
»Manchmal sind die Opfer nur ein Ersatz«, sagte Dean, nachdem er die Akte komplett durchgelesen hatte. »Ich bin verheiratet, weiß aber, dass ich nie damit durchkommen werde, wenn ich meine eigene Frau ermorde, also ermorde ich Prostituierte und stelle mir vor, dass sie es sei. Mein Kind ist gestorben, daher muss ich jedes Kind mit einer Baseballkappe zu meinem machen.«
Dean verwendete immer das Pronomen ich , um sich in einen Killer hineinzuversetzen, doch da ich mittlerweile seine eigene Geschichte kannte, fand ich diese Vorgehensweise gruselig.
»Vielleicht war es nicht geplant, als ich das erste Mal jemanden umgebracht habe, aber jetzt fühle ich mich nur lebendig, wenn ich sehe, wie jemand anderem das Leben entweicht. Jemandem wie ihr .«
»Du siehst es auch, nicht wahr?«, fragte ich.
Er nickte. »Ich würde Geld darauf verwetten, dass diese Person entweder den ersten Mord immer wieder durchlebt oder sich dabei jemanden vorstellt, den sie töten will, aber nicht töten kann.«
»Und wenn ich dir sagen würde, dass vor fünf Jahren ein rothaariges Medium mit einem Messer angegriffen wurde, man die Leiche aber nie gefunden hat?«
Dean hielt inne. »Dann würde ich alles wissen wollen, was es über diesen Fall zu wissen gibt«, erklärte er.
Ich auch.