M ehr über den Fall meiner Mutter wissen zu wollen und zu entscheiden, wie ich am besten an ihre Akte kam, waren zwei völlig verschiedene Dinge. Vierundzwanzig Stunden nachdem Dean meine Vermutungen über unseren Täter bestätigt hatte, stand ich immer noch mit leeren Händen da.
»Sieh mal einer an …«
Ich hörte Lias Stimme, weigerte mich aber, mich umzudrehen und ihrem Auftritt zuzusehen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Oberfläche des Küchentischs und das Sandwich auf meinem Teller.
»Da hat jemand ein Päckchen bekommen«, säuselte Lia, setzte sich neben mich und stellte eine rechteckige Schachtel vor sich auf den Tisch. »Sonderlieferung. Vielleicht ein heimlicher Verehrer?« Oben auf der Schachtel lag ein Umschlag. Lia nahm ihn und wedelte mit der Karte vor meiner Nase.
Auf dem Kuvert stand mein Name, dessen Buchstaben in gleichmäßigem Abstand und nur ein klein wenig geschwungen waren, als habe sich der Absender nicht entscheiden können, ob er Druckbuchstaben oder Schreibschrift verwenden sollte.
»Du bist ja echt unglaublich beliebt, was?«, sagte Lia. »Das widerspricht jeglicher Logik. Ich dachte, du seiest nur die neue Entdeckung. In einer Akademie mit nur fünf Schülern wäre es ja wirklich sehr merkwürdig, wenn das neue Mädchen nicht die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts auf sich ziehen würde. Aber weder Michael noch Dean hätten Grund, dir mit der Post ein Päckchen zu schicken, daher kann ich nur davon ausgehen, dass sich deine – nennen wir sie mal Anziehungskraft – nicht nur auf die Leute beschränkt, die hier wohnen.«
Ich blendete Lia aus und betrachtete die Schachtel. Sie war mattschwarz mit perfekt passendem Deckel. Um das Ganze war zweimal ein schwarzes Band gewickelt worden, sodass es auf der Vorderseite ein Kreuz bildete, in dessen Mitte eine Schleife saß.
»Habe ich da gerade meinen Namen gehört?« Michael schlenderte zu uns. »Findet ihr es nicht auch grässlich, wenn ihr einen Raum betretet und alle reden gerade über euch?« Sein Blick fiel auf das Geschenk und das Lächeln gefror auf seinen Lippen.
»Da mag wohl jemand keine Konkurrenz«, stellte Lia fest.
»Und jemand anders ist viel empfindlicher, als er zeigen möchte«, erwiderte Michael. »Stimmt’s oder habe ich recht?«
Das brachte Lia zum Schweigen – zumindest vorerst. Ich sah wieder auf die Schachtel und ließ meinen Finger über das Band gleiten.
Es war aus Seide.
»Du hast das nicht geschickt, oder?«, fragte ich Michael ein wenig heiser.
»Nein«, antwortete er und verdrehte die Augen. »Bestimmt nicht.«
In meiner Familie gab es niemanden, der mir ein in Seide gewickeltes Päckchen geschickt hätte, und ich wusste beim besten Willen nicht, wer es sonst hätte tun sollen.
Michael hatte es nicht geschickt.
Dean war nicht der Typ, der Geschenke machte.
Ich wandte mich an Lia. »Du warst das.«
»Als ob.« Sie starrte mich einen Moment lang an und schnappte dann nach der Karte.
»Nicht …«, begann ich, doch ich stieß auf taube Ohren. Sie nahm eine schlichte weiße Karte aus dem Umschlag und räusperte sich.
»V on mir für dich .« Lia zog die Augenbrauen hoch und warf die Karte wieder auf den Tisch. »Wie romantisch.«
Mir lief ein Schauer über den Rücken. Mein Atem brannte in der Lunge, doch meine Hände waren eiskalt. Das Päckchen, das Band, diese Schleife … Da stimmte etwas nicht.
»Cassie?« Michael musste es mir angesehen haben. Er neigte sich zu mir. Ich schaute zu Lia, doch die hatte ausnahmsweise mal nichts zu sagen. Langsam hob ich meine Hand zu der Schleife. Ich zog sie auf und sie fiel in einem eleganten schwarzen Häufchen auf den Tisch.
Jetzt, wo ich begonnen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören.
Ich fasste den Deckel der Schachtel, hob ihn an und legte ihn vorsichtig zur Seite. In der Schachtel lag sorgfältig gefaltetes weißes Seidenpapier.
»Was ist das?«
Ich ignorierte Lias Frage, griff in die Schachtel und schlug das Papier auseinander.
Und dann schrie ich auf.
In dem Seidenpapier lag eine rote Haarsträhne.