Z wei Tage später kam die Bestätigung, dass das Haar aus der schwarzen Schachtel vom letzten Opfer stammte.
»Als Entschuldigung nehme ich gerne Geschenke an«, klärte Lia Agent Locke auf. »Und zwar jederzeit.«
Locke antwortete nicht. Wir alle außer Sloane – Briggs, Michael, Dean, Locke, Lia und ich – befanden uns in Briggs’ Arbeitszimmer.
Du hast mir Haare geschickt. Unwillkürlich redete ich im Geiste mit dem Mörder. Ich musste ständig an das Geschenk denken und was es bedeutete, dass er es mir geschickt hatte. Hat sie geschrien, als du sie abgeschnitten hast? Hast du sie anschließend mit der Schere geschnitten? Ging es überhaupt um sie? Oder ging es um mich? Oder um meine Mutter?
»Bin ich in Gefahr?« Ich klang bemerkenswert ruhig, als gehöre meine Frage zum Puzzle und als gehe es nicht um Leben oder Tod, vor allem nicht um mein Leben oder meinen Tod.
»Was glaubst du?«, fragte Locke zurück.
Briggs runzelte die Stirn, als könne er es nicht fassen, dass sie die Gelegenheit zum Unterrichten nutzte, aber ich beantwortete die Frage dennoch.
»Ich glaube, der Täter will mich töten, allerdings noch nicht jetzt.«
»Das ist doch krank.« Michaels Gesichtsausdruck sagte mir, dass er am liebsten jemanden schlagen wollte. »Cassie, hörst du dir eigentlich selber zu?« Dann wandte er sich an Briggs. »Sie steht unter Schock.«
»Lass gut sein«, sagte ich. Dass Michael in meiner Anwesenheit von mir in der dritten Person sprach, fand ich zwar mehr als daneben, aber ich widersprach ihm nicht. Bei seiner Fähigkeit, Menschen zu interpretieren, musste ich davon ausgehen, dass er recht hatte. Vielleicht stand ich unter Schock. Die Tatsache, dass meine Gefühle irgendwie eingefroren waren, konnte ich nicht leugnen.
Ich war nicht zornig.
Ich hatte keine Angst.
Ich dachte nicht einmal an meine Mutter oder daran, dass dieser Täter vielleicht auch sie ermordet hatte.
»Du tötest Frauen«, sagte ich laut. »Frauen mit rotem Haar. Frauen, die dich an jemanden erinnern. Und eines Tages siehst du mich und aus irgendeinem Grund bin ich anders als die anderen. Mit ihnen musstest du nicht sprechen. Sie mussten nicht nachts wach liegen und an dich denken. Doch ich bin anders. Du schickst mir ein Geschenk – vielleicht willst du mir Angst machen. Vielleicht spielst du mit mir oder benutzt mich, um mit dem FBI zu spielen. Aber so wie du das Geschenk gepackt hast, die Sorgfalt, mit der du meinen Namen auf die Karte geschrieben hast – ein Teil von dir glaubt tatsächlich, dass du mir ein Geschenk gemacht hast. Du redest mit mir. Du machst mich zu etwas Besonderem, und wenn du mich tötest, muss auch das etwas Besonderes sein.«
Die anderen starrten mich an. Aber ich achtete nicht darauf, sondern wandte mich an Dean. »Irre ich mich?«
Dean überlegte. »Ich töte schon seit langer Zeit«, sagte er und versetzte sich ebenso leicht in den Killer wie ich. »Und jedes Mal ist es ein bisschen weniger gut als beim Mal davor. Ich will nicht geschnappt werden, aber ich brauche die Gefahr, die Aufregung, die Herausforderung.« Dean schloss einen Moment die Augen, und als er sie wieder öffnete, war es, als seien wir beide die einzigen Menschen im Raum. »Du irrst dich nicht, Cassie.«
»Das ist krank«, wiederholte Michael mit erhobener Stimme. »Da draußen ist ein Psycho, der sich auf Cassie fixiert hat, und ihr zwei tut so, als sei das eine Art Spiel.«
»Es ist ein Spiel«, antwortete Dean. »Es ist immer ein Spiel.«
Ich wusste, dass Dean das nicht genoss, dass er mich nicht freiwillig durch die Augen eines Killers sah, aber Michael hörte nur seine Worte. Er sprang vor und packte Dean am T-Shirt.
Gleich darauf hatte er ihn gegen die Wand gedrückt. »Jetzt hör mir mal zu, du Arsch–«
»Michael!«, rief Briggs und zog ihn zurück, doch im letzten Moment sprang Dean vor, packte Michael und drehte den Spieß um, indem er ihn an die Wand drückte und ihm den Ellbogen unter die Kehle setzte.
Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern herab: »Ich habe nie gesagt, dass es für mich ein Spiel ist, Townsend!«
Für den Täter war es ein Spiel. Der Preis war ich. Und wenn wir nicht aufpassten, würden sich Michael und Dean gegenseitig umbringen.
»Das reicht!« Locke legte Dean eine Hand auf die Schulter. Er erstarrte, und ich dachte schon, dass er sie schlagen wollte.
»Es reicht!«, wiederholte er aber nur und stieß die Luft aus. Er ließ Michael los, trat zurück und ging weiter rückwärts, bis er an die gegenüberliegende Wand stieß. Er verlor nicht leicht die Kontrolle, das konnte er sich nicht leisten. Aber gerade mit Michael war er so kurz davor gewesen, dass es ihn erschreckt hatte. Um das zu erkennen, brauchte niemand hier im Raum Michaels Fähigkeiten.
»Also was tun wir jetzt?«, fragte ich und lenkte die Aufmerksamkeit von Dean ab, damit er Zeit bekam, sich zu erholen.
Briggs zeigte mit dem Finger in meine Richtung. »Du arbeitest immer noch nicht an diesem Fall! Ihr alle nicht!« Er warf Dean einen wütenden Blick zu, bevor er sich wieder an mich wandte. »Ich habe ein Team geordert, das das Haus beobachtet. Ich stelle euch alle den Agenten Starmans, Vance und Brooks vor. Bis auf Weiteres wird keiner von euch das Haus verlassen und Cassie bleibt nie allein.«
Mich zu bewachen würde uns diesem Täter nicht näher bringen.
»Sie sollten mich mitnehmen«, schlug ich Briggs vor. »Wenn dieser Kerl mich will, sollten wir das ausnutzen. Stellen Sie ihm eine Falle.«
»Nein!«, riefen Michael, Dean und Briggs gleichzeitig. Flehend wandte ich mich an Agent Locke.
Sie sah aus, als wolle sie mir zustimmen, doch dann biss sie sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. »Der Täter hat nur ein Mal mit dir Kontakt aufgenommen. Er wird es wieder versuchen, egal, wo du bist, und hier haben wir zumindest den Heimvorteil.«
So etwas wie einen Heimvorteil gibt es nicht.
»Der Täter durchbricht das Muster.« Locke berührte sanft mein Gesicht. »So furchterregend das auch ist, es ist gut für uns. Wir wissen, was er will, und wir können verhindern, dass er es bekommt. Je mehr er sich aufregt, desto wahrscheinlicher ist es, dass er einen Fehler macht.«
»Aber ich kann nicht einfach nichts tun«, beschwerte ich mich und warf meiner Mentorin einen eindringlichen Blick zu, damit sie mich verstand.
»Okay.«
»Lacey!«
Locke ignorierte Briggs’ Einwand.
»Du kannst eine Liste machen«, schlug sie vor. »Schreibe jeden auf, mit dem du gesprochen hast, jeden, den du getroffen hast, alle Orte, an denen du gewesen bist, jeden, der dich auch nur eine Sekunde angesehen hat, seit du hier bist.«
Sofort musste ich an den Mann denken, der mich an dem Nachmittag am Potomac angesprochen hatte – ohne mir seinen Namen zu nennen. War er das? Oder hatte diese Begegnung rein gar nichts zu bedeuten?
Bei allem, was ich nun wusste, war es schwer, nicht paranoid zu werden.
»Der Täter hat das Päckchen per Post geschickt«, erklärte Lia und riss mich aus meinen Gedanken. »Er muss nicht von hier sein.«
Dean stieß die Fäuste in die Hosentaschen. »Er will sie sehen«, behauptete er und ließ seinen Blick ebenfalls für eine Sekunde über mein Gesicht flackern.
»Das Päckchen konnten wir nicht zurückverfolgen«, meinte Locke ernst. »Der Täter ist ein Profi und er spielt mit uns. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir nichts ausschließen.«