A ls am späten Vormittag die Sonnenstrahlen durch das Fenster fielen, wachte ich auf. Sloane war nirgends zu sehen. Nach einem vorsichtigen Blick in den Flur huschte ich ins Bad und schloss mich ein.
Allein. Zumindest für einen kurzen Moment.
Ich zog den Duschvorhang über die ganze Länge der Wanne und stellte die Dusche so heiß wie möglich. Das Geräusch des Wassers in der Porzellanwanne war beruhigend und hypnotisch. Ich ließ mich davor auf den Boden sinken und zog die Knie an die Brust.
Vor vier Tagen hatte ein Serienmörder mit mir Kontakt aufgenommen, und das Einzige, was ich getan hatte, war, mich in ihn hineinzuversetzen, vollkommen ruhig und beherrscht. Doch als ich gestern Abend den gleichen Lippenstift benutzt hatte wie meine Mutter, hatte ich vollkommen die Fassung verloren.
Es war ein Zufall , sagte ich mir. Ein schrecklicher, verquerer, zeitlich unpassender Zufall, dass Lia mich – nur ein paar Tage nachdem ich von einem Killer kontaktiert wurde, der vielleicht meine Mutter ermordet hatte – genauso aussehen ließ wie sie.
Das ist eine beliebte Farbe. Sag einfach Danke.
Dampf wirbelte in der Luft um mich herum und erinnerte mich daran, dass ich heißes Wasser verschwendete, was in einem Haushalt mit fünf Teenagern eine Todsünde war. Ich stand auf und wischte mit dem Arm über den Spiegel, auf dessen bedampfter Oberfläche ich einen Streifen hinterließ.
Ich starrte mich an und versuchte, das Bild von Rose Red auf meinen Lippen zu verbannen. Das da bin ich. Alles ist gut.
Ich zog den Pyjama aus und stieg in die Dusche, wo ich mir das Wasser ins Gesicht prasseln ließ. Und plötzlich kam ohne Vorwarnung ein Flashback.
Neonlichter flackern an der Decke und auch mein Schatten auf dem Boden flackert. Die Tür zur Garderobe steht leicht offen.
Ich konzentrierte mich auf das Geräusch des Wassers, das Gefühl auf meiner Haut und drängte die Erinnerungen zurück.
Der Geruch …
Abrupt stellte ich die Dusche aus. Ich wickelte mir ein Handtuch um den Körper und stellte mich tropfnass auf die Badematte. Ich kämmte mir die Haare mit den Fingern und wandte mich zum Waschbecken.
In diesem Augenblick hörte ich einen Schrei.
»Cassie!« Ich brauchte einen Moment, um meinen eigenen Namen zu verstehen, und noch einen, um zu erkennen, dass es Sloane war, die da schrie. Nur im Handtuch rannte ich in unser Zimmer.
»Was ist denn, Sloane? Was ist los?«
Sie trug noch ihren Pyjama. Das Haar klebte ihr auf der Stirn.
»Es stand mein Name drauf«, sagte sie gepresst. »Es ist nicht gestohlen, wenn mein Name daraufsteht.«
»Wo stand dein Name drauf?«
Mit zitternden Händen hielt sie einen gepolsterten Umschlag hoch.
»Von wem hast du es nicht gestohlen?«, wollte ich wissen.
Sloane machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Von einem der Agenten unten.«
Sie hatten all unsere Post durchgesehen, nicht nur meine.
Ich neigte den Kopf, um zu sehen, was in dem Kuvert war, und verstand plötzlich, warum Sloane geschrien hatte.
In dem Umschlag steckte eine kleine schwarze Schachtel.
•••
Als wir die Schachtel aus dem Kuvert genommen hatten, gab es keinen Zweifel mehr daran, dass sie zur ersten passte: das Band, die Schleife, die weiße Karte mit meinem Namen in einer nur leicht geschwungenen Schrift. Der einzige Unterschied war die Größe – und dass der Täter diesmal über Sloane an mich herangekommen war.
Du weißt, dass mich das FBI bewacht. Aber du willst mich trotzdem.
»Du hast die Schachtel nicht aufgemacht«, stellte Agent Briggs überrascht fest. Ungefähr zehn Sekunden nachdem ich gesehen hatte, was sich in dem Umschlag befand, waren die Agenten Starmans und Brooks ins Zimmer gestürmt. Sie hatten Locke und Briggs gerufen, und ich hatte gerade genug Zeit, mich anzuziehen, bevor das dynamische Duo auftauchte. Sie brachten einen weiteren, älteren Mann mit.
»Ich wollte keine Beweise vernichten«, sagte ich.
»Das war richtig«, meldete sich der Mann zu Wort, der mit Briggs und Locke gekommen war. Er hatte eine raue Stimme, die gut zu seinem sonnengebräunten, wettergegerbten Gesicht passte. Ich schätzte ihn auf irgendwo zwischen fünfundfünfzig und sechzig. Er war nicht groß, aber er strahlte Autorität aus und sah mich an, als sei ich ein Kind.
»Cassie, das ist Direktor Mullins«, stellte Locke ihn vor, doch all die Dinge, die sie nicht sagte, waren wesentlich wichtiger.
Zum Beispiel, dass dieser Mann ihr Boss war.
Oder, dass er derjenige war, der die Cold Case Academy genehmigt hatte.
Sie sagte auch nicht, dass es Direktor Mullins gewesen war, der Briggs zur Verantwortung gezogen hatte, weil er Dean bei einem aktuellen Fall eingesetzt hatte.
Aber sie musste das alles auch gar nicht sagen.
»Ich will dabei sein, wenn Sie es aufmachen«, verlangte ich von Agent Locke, aber Direktor Mullins antwortete:
»Ich glaube nicht, dass das notwendig ist.«
Der Mann bekleidete beim FBI zwar einen hohen Rang, aber er hatte Kinder, vielleicht sogar Enkel. Das konnte ich mir zunutze machen.
»Ich bin eine Zielperson«, erklärte ich und riss dabei die Augen auf. »Mir diese Information vorzuenthalten macht mich angreifbar. Je mehr ich über diesen Täter weiß, desto sicherer bin ich.«
»Wir sorgen schon dafür, dass du sicher bist«, meinte der Direktor im Tonfall von jemandem, der es gewohnt war, dass seinen Worten Folge geleistet wurde.
»Das hat Agent Briggs vor drei Tagen auch gesagt«, wandte ich ein, »und jetzt ist dieser Kerl über Sloane an mich herangekommen.«
»Cassie …« Agent Briggs begann im gleichen Ton mit mir zu reden wie der Direktor – als wäre ich ein kleines Kind, als hätte er mich nicht hergebracht, um bei der Lösung von Fällen zu helfen.
»Der Täter hat wieder zugeschlagen, nicht wahr?« Meine Frage, die eigentlich eher ein Rateversuch war, traf auf eisiges Schweigen.
Volltreffer.
»Der Täter will mich«, argumentierte ich logisch weiter. »Sie haben versucht, ihn von mir fernzuhalten. Was auch immer in der Schachtel ist, es wird noch eine Spur härter sein als das, was er mir das letzte Mal geschickt hat. Eine Warnung für Sie, ein Geschenk für mich, und es ist in unser aller Interesse, wenn ich es sehe.«
Der Direktor nickte zu Agent Briggs. »Machen Sie die Schachtel auf.«
Briggs zog Handschuhe an. Dann löste er die Schleife, legte die Karte beiseite und nahm den Deckel von der Schachtel.
Weißes Seidenpapier.
Vorsichtig schlug er das Papier auseinander. In der Schachtel lag eine Haarlocke. Sie war blond.
»Lesen Sie die Karte«, sagte ich heiser.
Briggs machte den Umschlag auf und zog eine weiße Karte heraus. Briggs klappte sie auseinander und ein Foto fiel heraus.
Ich erhaschte einen Blick auf das Bild eines Mädchens, bevor sie es vor mir verstecken konnten. Ihre Handgelenke waren hinter dem Rücken gefesselt, ihr Gesicht war geschwollen, und an ihrer Kopfhaut klebte getrocknetes Blut. In ihren Augen standen Tränen und so viel Angst, dass ich sie praktisch durch ihren Klebebandknebel schreien hören konnte.
Sie hatte blondes Haar und ein Puppengesicht.
»Sie ist zu jung«, sagte ich, und mir drehte sich der Magen um. Das Mädchen auf dem Bild war fünfzehn, vielleicht sechzehn – und keines der anderen Opfer unseres Täters war minderjährig gewesen. Dieses Mädchen war jünger als ich.
»Tanner.« Locke nahm das Foto und hielt es ihm hin. »Sieh mal auf die Zeitung.«
Ich hatte mich so auf das Gesicht des Mädchens konzentriert, dass ich die Zeitung, die sorgfältig an ihre Brust gelehnt war, gar nicht beachtet hatte.
»Gestern um diese Zeit hat sie noch gelebt«, sagte Briggs, und in diesem Moment wusste ich, warum dieses Geschenk sich von dem letzten unterschied, warum das Haar in der Schachtel blond war.
»Du hast sie genommen, weil sie mich dir weggenommen haben«, sagte ich leise.
Locke fing meinen Blick auf, und ich wusste, dass sie mich gehört hatte. Sie stimmte mir zu. Schuldgefühle stiegen in mir auf, doch ich kämpfte sie nieder. Ich konnte das später verarbeiten. Ich konnte den Täter – und mich selbst – für das Blut und die blauen Flecken im Gesicht des Mädchens später hassen. Im Moment musste ich mich zusammenreißen.
Ich musste etwas unternehmen.
»Wer ist sie?«, fragte ich. Wenn der Täter mit ihr dem FBI heimzahlen wollte, dass sie mich von ihm ferngehalten hatten, dann war sie nicht irgendjemand. Das Mädchen passte nicht zur Viktimologie der anderen Opfer dieses Täters, aber wenn ich eines über ihn wusste, dann, dass er alle seine Opfer aus einem bestimmten Grund auswählte.
»Miss Hobbes, ich weiß Ihr persönliches Interesse an diesem Fall zu schätzen, aber diese Information geht weit über Ihre Gehaltsstufe hinaus.«
Ich sah den Direktor finster an. »Sie bezahlen mich nicht. Und wenn der Killer Sie beobachtet und Sie darauf bestehen, mich außerhalb seiner Reichweite einzuschließen, wird es noch viel schlimmer werden.«
Warum kapierte er das nicht? Warum kapierte Briggs es nicht? Es war doch offensichtlich! Sogar mehr als das. Das FBI wollte mich aus der Sache heraushalten, doch der Killer wollte mich einbeziehen.
»Was steht auf der Karte?«, fragte Locke. »Das Bild ist nur ein Teil der Botschaft.«
Briggs schaute erst mich und dann den Direktor an, anschließend drehte er die Karte um, damit wir selbst lesen konnten.
Wäre es rot nicht viel schöner, Cassie?
Es war klar, was das bedeutete. Das Mädchen lebte. Aber nicht mehr lange.
»Wer ist sie?«, fragte ich erneut.
Briggs hielt den Mund fest geschlossen. Er hatte seine Prioritäten, und seinen Job zu behalten, stand dabei ganz oben.
»Genevieve Ridgerton«, beantwortete Locke meine Frage tonlos. »Ihr Vater ist US-Senator.«
Genevieve. Jetzt hatte also das Mädchen, das der Täter an meiner Stelle genommen hatte, das er an meiner Stelle verletzt hatte, einen Namen.
Der Direktor trat auf Locke zu. »Diese Information ist nicht für jedermann bestimmt, Agent Locke.«
Sie tat seinen Einwand mit einer Handbewegung ab. »Cassie hat recht. Genevieve wurde absichtlich gefangen genommen, um uns zu treffen. Wir beschützen Cassie, wir hindern sie daran, das Haus zu verlassen, und das ist seine direkte Antwort. Wir sind nicht dichter dran, dieses Monster zu fassen, als vor drei Tagen, und er wird Genevieve umbringen, es sei denn, wir geben ihm einen Grund, es nicht zu tun.«
Er würde Genevieve meinetwegen umbringen.
»Was schlagen Sie vor?«, fragte der Direktor in warnendem Tonfall, doch Locke antwortete, als habe er die Frage ernst gemeint.
»Ich schlage vor, wir geben dem Mörder genau das, was er will. Wir bringen Cassie ins Spiel. Wir nehmen sie mit und statten dem Tatort einen weiteren Besuch ab.«
»Glauben Sie wirklich, sie findet etwas, was wir übersehen haben?«
Locke warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Nein, aber ich glaube, dass uns der Killer vielleicht folgt, wenn wir Cassie an den Tatort bringen.«
»Wir bilden diese Kinder nicht dazu aus, für uns den Köder zu spielen«, warf Agent Briggs scharf ein.
Der Direktor drehte sich zu Briggs um. »Sie haben mir bis Ende des Jahres drei gelöste alte Fälle versprochen«, sagte er. »Bislang haben Ihre Naturtalente erst einen gelöst.«
Ich spürte, wie sich die Dynamik im Raum veränderte. Agent Briggs wollte nicht, dass einem seiner kostbaren Naturtalente etwas geschah. Der Direktor war skeptisch, ob unsere Fähigkeiten die Kosten der Akademie wert waren, und seine Bedenken, eine Siebzehnjährige an einen Tatort mitzunehmen, wurden von der Tatsache wettgemacht, dass die Situation größere politische Auswirkungen haben könnte.
Der Täter hatte sich nicht zufällig die Tochter eines Senators ausgesucht.
»Dann nehmen Sie sie mit in den Club, Briggs«, schnaufte der Direktor. »Wenn jemand fragt, ist sie eine Zeugin.« Dann wandte er sich an mich. »Sie müssen das nicht tun, wenn Sie nicht wollen, Cassandra.«
Das wusste ich. Ich wusste aber auch, dass ich es wollte – und nicht nur, weil Locke vielleicht damit recht hatte, dass meine Gegenwart ausreichen könnte, um den Killer hervorzulocken. Ich konnte nicht einfach still sitzen und zusehen.
Verhalten, Persönlichkeit, Umgebung.
Viktimologie, M. O., Handschrift.
Ich war ein Naturtalent – und so krank das auch war, ich hatte eine Beziehung zum Täter. Wenn sie mich zum Tatort mitnahmen, sah ich vielleicht tatsächlich etwas, was den anderen entgangen war.
»Ich werde gehen«, sagte ich dem Direktor. »Aber ich bringe meine eigene Verstärkung mit.«