D er Club Muse war eigentlich nur für Leute ab achtzehn, und Alkohol wurde ausschließlich an diejenigen ausgeschenkt, die ein Armband trugen, das sie als über einundzwanzig auswies. Dennoch war Genevieve Ridgerton – die erst fünfzehn war – allen Zeugenaussagen zufolge mehr als nur ein wenig angeheitert gewesen, als sie drei Tage zuvor aus dem Waschraum des Clubs verschwunden war.
Direktor Mullins hatte widerwillig zugestimmt, dass mich zwei der anderen Naturtalente an den Tatort begleiteten, und dann so viel Abstand zwischen sich und uns gebracht, wie er nur konnte. Mit dem Ergebnis, dass Briggs und Locke mich zum Club brachten – und sie waren es auch, die entschieden hatten, welche meiner Mitbewohner mitkommen sollten.
Im Augenblick schritt Sloane den Club innen ab, suchte nach Zugängen und stellte Berechnungen über maximale Besucherzahlen, die Beliebtheit der Band, die Menge an konsumiertem Alkohol und die Länge der Schlange vor der Toilette an.
Dean konzentrierte sich auf den Tatort selbst – und auf mich. »Unisex-Toiletten. Riegel an der Tür.« Seine dunklen Augen durchsuchten den Raum mit fast militärischer Präzision.
»Okay«, begann ich. »Ich bin also Genevieve. Ich bin ein bisschen betrunken, vielleicht mehr als nur ein bisschen. Ich gehe stolpernd durch die Menge, stelle mich in die Warteschlange – endlich geht die Tür auf.« Ich schwankte ein wenig, während ich die wahrscheinlichen Bewegungen des Mädchens imitierte. »Ich gehe in die Toilette. Vielleicht denke ich daran, die Tür zu verriegeln, vielleicht auch nicht.«
»Laut Zeugenaussagen war die Tür verschlossen«, warf Dean ein. »Also entweder hat Genevieve sie abgeschlossen – oder ich.« Er hielt inne. »Habe ich hier gewartet oder bin ich nach ihr hineingegangen?«
Ich sah mich im Raum um. An einer Wand war ein Pissoir und daneben eine Toilettenkabine.
»Vielleicht hast du am Pissoir gestanden«, meinte ich. »Vielleicht war ich so betrunken, dass es mir egal war.«
Ich stolperte zu der Kabine. Ich wollte den Riegel vorschieben, doch er war kaputt. War er schon so gewesen, als Genevieve entführt worden war? Oder hatte der Täter die Tür aufgebrochen?
Ich trat einen Schritt zurück und versuchte zu ignorieren, wie eklig die Toiletten in den Clubs für über 18-Jährige waren. Der Fußboden klebte und die Toilette wollte ich nicht mal ansehen. Außerdem waren alle Wandflächen mit Graffiti vollgeschmiert.
»Das Fenster.« Ich vernahm Sloanes Stimme. »Fünfzig mal fünfzig Zentimeter. Ein Meter siebzig über dem Boden. Der Täter müsste unter eins achtzig groß und fünfundsechzig Zentimeter in der Breite sein, trotzdem ist es ein möglicher Zugangspunkt.«
»Vielleicht bin ich durch das Fenster gekommen«, bemerkte Dean, »aber so bin ich nicht wieder gegangen. Genevieve ist zwar ein kleines Mädchen, doch fünfzig Kilo totes Gewicht fünfeinhalb Fuß hochzuheben, steht nicht auf meinem Plan.«
Erst nach einem Moment verstand ich, dass Dean immer noch aus der Perspektive des Täters sprach. Er stieß die Toilettentür auf und kam in die Kabine. Ich wich stolpernd zurück, konnte allerdings nirgendwohin ausweichen.
»Sorry«, sagte er und hob die Hände. Ich konzentrierte mich auf Genevieve und spürte, wie sich meine Lippen zu einem Lächeln hoben. Schließlich war das ein Club und er war irgendwie süß …
Gleich darauf legte mir Dean die Hand über den Mund. »Vielleicht habe ich dich chloroformiert.«
Ich wand mich aus seinem Griff und war mir nur allzu bewusst, wie nahe sich unsere Körper waren. »Hast du nicht.«
»Nein«, stimmte er zu und sah mir in die Augen, »habe ich nicht.«
Dieses Mal legte er mir den Arm um die Taille. Ich lehnte mich an ihn.
»Vielleicht bin ich mehr als ein bisschen betrunken«, sagte ich. »Vielleicht habe ich viel mehr getrunken, als ich sollte.«
Dean machte mit. »Vielleicht habe ich dir ja auch etwas in den Drink getan.«
»Von der Waschraumtür bis zum nächsten Notausgang sind es eineinhalb Meter«, bemerkte Sloane. »Vorbei an zwei Überwachungskameras, aber deren Bänder werden alle vierundzwanzig Stunden überschrieben, und Genevieve wurde erst zweiunddreißig Stunden später als vermisst gemeldet. Ihr Freund nahm an, dass sie nach Hause gegangen war, und ihre Eltern glaubten, sie sei bei Freunden.«
Der Täter war sorgfältig. Er plante.
Du tust alles aus einem bestimmten Grund , dachte ich, und der Grund dafür, dass du dieses Mädchen entführt hast, bin ich.
»Okay, Kids, die Spielzeit ist vorbei.« Agent Locke war es fabelhaft gelungen, sich im Hintergrund zu halten und uns arbeiten zu lassen, doch offensichtlich hatte sie einen Zeitplan. »Nur damit ihr es wisst, wir sind zu denselben Schlüssen gekommen wie ihr. Zwei der früheren Opfer wiesen Spuren von GHB, einer Art von flüssigem Ecstasy, auf. Wahrscheinlich hat der Täter Genevieve etwas in den Drink getan und ist mit ihr durch den Notausgang verschwunden, ohne dass jemand etwas mitbekommen hat.«
Erst jetzt bemerkte ich, dass Dean mir immer noch den Arm um die Taille gelegt hatte. Im nächsten Moment musste es auch ihm aufgefallen sein, denn er zog sich von mir zurück und ging schnurstracks auf die andere Seite des Raumes.
»Irgendeine Spur vom Täter draußen?«, erkundigte er sich.
Es war leicht zu vergessen, dass ich eigentlich nicht als Profiler hier war – sondern als Köder – und dass das FBI hoffte, ich würde den Killer direkt zu ihnen führen.
»Agenten in Zivil überwachen die Straße«, erzählte Agent Locke, »sie tun so, als seien sie Freiwillige, die Flyer verteilen und nach Leuten suchen, die möglicherweise Informationen über Genevieves Verschwinden haben.«
Dean lehnte sich wieder an die Wand. »Und Sie machen einfach nur eine Liste der Leute, die die Agenten ansprechen?«
Locke nickte. »Aber nicht nur. Ich schicke gleichzeitig Live-Videoaufnahmen an Lia und Michael nach Hause, damit sie die Leute analysieren können.«
Offensichtlich war sich Agent Locke nicht zu schade, die Erlaubnis des Direktors, die Naturtalente bei diesem Fall einzusetzen, voll und ganz auszunutzen.
Sie schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Cassie, du musst noch ein paarmal draußen auftauchen. Ich hätte dich Flyer austeilen lassen, wenn ich geglaubt hätte, wir würden damit durchkommen, aber selbst ich kann Briggs nicht so weit treiben.«
Ich versuchte, mich in den Täter hineinzuversetzen. Er wollte, dass ich das Haus verließ. Ich hatte das Haus verlassen. Er wollte, dass ich am Fall mitarbeitete – jetzt stand ich direkt am Tatort.
»Habt ihr alles gesehen, was ihr hier sehen müsst?«, wollte Agent Locke wissen.
Ich warf Dean einen Blick zu. Er stand immer noch so weit wie möglich von mir entfernt. Die Nähe eben zwischen uns … Doch den Gedanken daran musste ich im Moment von mir wegschieben. Hier ging es um mich, nur um mich – und um mein Leben.
Du wolltest , dass ich am Fall mitarbeite , versetzte ich mich wieder in den Täter hinein.
Du tust alles aus einem bestimmten Grund.
Der Grund dafür, dass du dieses Mädchen entführt hast, bin ich.
»Nein.« Ich erklärte es Agent Locke nicht, denn ich hatte keine Erklärung, aber ich wusste instinktiv, dass wir noch nicht gehen konnten. Wenn das hier zum Plan des Täters gehörte, wenn er wollte, dass ich hierherkam … »Wir übersehen hier etwas.«
Etwas, von dem der Täter erwartete, dass ich es sah. Etwas, was ich finden sollte, was für mich eine Bedeutung hatte.
Langsam drehte ich mich um und durchsuchte den Raum in einer 360-Grad-Drehung. Ich sah unter das Waschbecken und ließ meine Finger über den Rand des Spiegels gleiten.
Nichts.
Ich versetzte mich wieder in die Lage des Opfers. Ich ging zur Kabine. Die Tür schlug hinter mir zu und prallte dann wieder auf. Methodisch ließ ich den Blick über die Graffitis an den Wänden gleiten.
Initialen und Herzen, Schimpfwörter und Schmierereien, Doodles, Songtexte …
»Da!« Eine einzelne Textzeile hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Zuerst las ich nicht einmal, was dort stand. Ich sah nur die Buchstaben: nicht ganz Schreibschrift und nicht ganz Druckbuchstaben – die gleiche stilisierte Handschrift wie auf den Karten, die mit den schwarzen Schachteln gekommen waren.
Für eine schöne Zeit …
Damit brach der Satz ab. Hektisch ließ ich meine Finger über die Kabinentür gleiten, ging die Texte durch und suchte nach der Stelle, an der die Handschrift weiterging.
… ruf 567-3524. Garantiert …
Eine Telefonnummer. Fast hätte mein Herz ausgesetzt, aber ich zwang mich, weiter die Wände der Kabine von oben bis unten nach einer weiteren Zeile abzusuchen.
Nach einem weiteren Hinweis.
Ich fand ihn, als ich vertikal an der Tür entlang suchte, auf Höhe der Angel.
… plus eins. Kola & Thorn.
Kola und Thorn? Je mehr ich las, desto unsinniger klang die Botschaft des Täters.
»Cassie?« Ich hörte, wie Agent Locke sich vor der Tür räusperte. Ich ignorierte sie. Da musste noch mehr sein. Ich begann von oben und suchte die ganzen Graffitis noch einmal ab. Erst als ich sicher war, dass es nichts weiter gab, machte ich die Tür auf. Locke, Dean, Sloane und Agent Briggs standen zusammengedrängt im Waschraum, alle mit dem gleichen verzweifelten und ratlosen Gesichtsausdruck.
»Du musst dich noch einmal draußen zeigen, Cassie.« Agent Briggs hielt das offensichtlich für einen Befehl.
»Der Täter ist nicht hier«, erklärte ich. Inzwischen war mir das sonnenklar. Das FBI hatte geglaubt, dass sie dem Killer eine Falle stellten, wenn sie mich hierherbrachten, aber da lagen sie falsch. Er war es, der uns eine Falle stellte.
»Ich brauche einen Stift«, sagte ich.
Nach kurzem Zögern gab mir Briggs einen.
»Papier?«
Er nahm ein Notizbuch aus der Innentasche und reichte es mir.
»Der Täter hat uns eine Nachricht hinterlassen«, erklärte ich, doch eigentlich meinte ich, dass er mir eine Nachricht hinterlassen hatte.
Ich kritzelte die Worte auf das Blatt und reichte es Briggs.
»Für eine schöne Zeit ruf 567-3524. Garantiert plus eins. Kola & Thorn.« Briggs sah vom Blatt zu mir. »Bist du sicher, dass der Täter das geschrieben hat?«
»Es ist die gleiche Handschrift wie auf den Karten«, sagte ich. Wie der Mörder meinen Namen geschrieben hatte, hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt. »Ich bin mir absolut sicher.«
Für sie waren die Karten Beweise. Für mich waren sie etwas Persönliches. Ohne auch nur weiter darüber nachzudenken, griff ich nach meinem Handy.
»Was machst du da?«, fragte mich Dean.
Ich presste die Lippen aufeinander. »Ich rufe da jetzt an.«
Niemand hinderte mich daran.
»D er gewünschte Teilnehmer ist nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.«
Ich legte auf, sah zu Boden und schüttelte den Kopf.
»Keine Ortsvorwahl«, hörte ich Sloane sagen. »Suchen wir in D. C.? Virginia? Maryland? Im Umkreis von hundert Meilen gibt es elf mögliche Ortsvorwahlen.«
»Starmans«, rief Briggs sofort in sein Telefon, »ich lese Ihnen eine Telefonnummer vor. Versuchen Sie es mit jeder Ortsvorwahl innerhalb von drei Fahrstunden von hier.«
»Darf ich mal dein Telefon sehen, Cassie?«, lenkte mich Sloane von Briggs’ Gespräch ab. Ich wusste zwar nicht, wozu sie es brauchte, gab es ihr aber dennoch. Sie sah es einen Augenblick lang an, und ihre Lippen bewegten sich rasch, ohne dass ein Laut zu hören war. Schließlich sah sie auf. »Das ist keine Telefonnummer – zumindest keine, die du anrufen sollst.«
Ich wartete auf eine Erklärung, die auch prompt kam.
»567-3524. Auf dem Telefon stehen die Ziffern Fünf, Sechs, Drei, Zwei und Vier für je drei Buchstaben auf der Tastatur. Die Sieben steht für vier Buchstaben: P, Q, R und S. Das ergibt zweitausendneunhundertsechzehn mögliche Kombinationen aus sieben Buchstaben für 567-3542.«
Ich fragte mich, wie lange Sloane wohl brauchen würde, um die zweitausendneunhundertsechzehn Möglichkeiten durchzuspielen.
»Lorelai.«
»Was?« Der Name meiner Mutter traf mich wie ein Schwall kaltes Wasser ins Gesicht.
»567-3542 ist die Telefonnummer, die mit dem Wort Lorelai übereinstimmt. Man kann auch Lose-lag, Lop-flag oder Jose-jag daraus machen, aber die einzige Möglichkeit mit sieben Buchstaben in einem Wort ist …«
»Lorelai«, beendete ich Sloanes Satz und ergänzte die Botschaft mit dieser Bedeutung.
Für eine schöne Zeit ruf Lorelai. Garantiert plus eins, Kola & Thorn.
»Plus eins«, las Dean über Briggs’ Schulter. »Glaubst du, der Täter will uns damit sagen, dass es noch ein Opfer gibt?«
Für eine schöne Zeit, ruf Lorelai.
Jetzt hatte ich den felsenfesten Beweis, dass dieser Fall etwas mit dem meiner Mutter zu tun hatte. Deshalb wollte der Täter, dass ich hierherkomme. Er hatte mir diese Nachricht hinterlassen, garniert mit einem »garantiert plus eins«. War das jemand, den der Täter bereits angegriffen hatte? Oder jemand, den er erst noch angreifen wollte?
Ich war mir nicht sicher. Ich wusste nur, dass, wenn ich dieses Rätsel nicht löste – wenn wir dieses Rätsel nicht lösten –, noch jemand sterben würde.
Genevieve Ridgerton. Plus eins. Wie viele Menschen willst du meinetwegen töten?
Darauf gab es keine Antwort, nur die Erkenntnis, dass alles genau so lief, wie der Täter es wollte. Jede meiner Entdeckungen war inszeniert worden. Ich spielte nur eine Rolle.
Ich konnte nicht anders, als mich dem letzten Teil der Botschaft zuzuwenden.
Kola & Thorn.
»Symbolisch?«, fragte Dean, dessen Gedanken in die gleiche Richtung zu gehen schienen wie meine. »Kola. Cola. Trinken. Dorn. Rose. Blut …«
»Ein Anagramm?«, warf Sloane ein. Sie hatte den gleichen abwesenden Gesichtsausdruck wie an dem Tag, als ich sie kennenlernte, als sie vor einem Scherbenhaufen kniete. »Ankh onto lard. Hot nodal nark. Land rand hook. Oak land north.«
»North Oakland«, unterbrach sie Dean. »Das ist in Arlington.«
Für eine schöne Zeit ruf Lorelai. Garantiert plus eins. North Oakland.
»Wir brauchen eine Liste aller Gebäude in North Oakland«, verlangte ich und spürte einen plötzlichen Adrenalinstoß.
»Wonach suchen wir?«, fragte Briggs.
Ich wusste es nicht – nach einem Lagerhaus vielleicht oder einer verlassenen Wohnung. Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch der Klang des Namens meiner Mutter wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, und plötzlich erkannte ich, dass es, wenn mich der Killer nur halb so gut kannte, wie er glaubte, noch eine andere Möglichkeit gab.
Für eine schöne Zeit ruf Lorelai .
Der Umkleideraum. Das Blut. Ich schluckte.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte ich, »aber ich glaube, Sie sollten nach einem Theater suchen.«