D as sichere Haus sah aus wie ein ganz gewöhnliches Haus. Dean ging zuerst hinein. Er zog die Pistole und hielt sie geschickt vor sich, während er erst die Eingangshalle, dann das Wohnzimmer und schließlich die Küche überprüfte. Ich hielt mich dicht hinter ihm. Er machte einen Wandschrank nach dem anderen auf, um sich zu vergewissern, dass niemand sonst dort war.
Wir waren gerade wieder auf den Eingangsflur gekommen, als sich der Türknauf zu bewegen begann. In unserer Hektik hatten wir nicht abgeschlossen. In diesem Moment konnte ich kaum fassen, wie dumm wir gewesen waren. Dumm und unprofessionell.
Dean trat vor und stieß mich weiter zurück. Ruhig hielt er die Pistole hoch. Ich wartete ab und betete, dass es Briggs und Locke waren, die da vor der Tür standen. Die Angeln quietschten und langsam ging die Tür auf.
»Michael?«
Dean senkte die Waffe. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich erleichtert, ein warmes Gefühl ging von meinem Bauch aus und durchlief meinen ganzen Körper. Ich stieß die Luft aus, die ich angehalten hatte, und mein Herz begann wieder zu schlagen.
Dann sah ich die Pistole in Michaels Hand.
»Was machst du hier?«, fragte ich. Ich sah ihn an, dann die Waffe und kam mir gleich wieder wahnsinnig dumm vor, diesmal wie das naive Mädchen im Horrorfilm, das nie erkannte, was sich direkt vor seiner Nase abspielte.
Michael war hier.
Michael hatte eine Pistole.
Der Täter hatte eine Informationsquelle im Haus.
Nein.
»Warum hast du eine Waffe?«, brachte ich bloß hervor. Alles in mir sträubte sich dagegen zu glauben, wonach es aussah. Du hast mich geküsst. Das ist kaum eine Stunde her. Sag mir, dass ich mich täusche! Unwillkürlich trat ich einen Schritt auf Michael zu, obwohl ich seinen Gesichtsausdruck nicht ganz deuten konnte.
Vor mir hob Dean die Hand mit der Pistole. »Leg die Waffe weg, Townsend.«
Michael würde die Pistole weglegen. Das redete ich mir ein. Ich hatte gesehen, wie Michael einmal kurz vor einem Gewaltausbruch gewesen war. Er hatte selbst zugegeben, dass er das Potenzial hatte, die Kontrolle zu verlieren, aber ich kannte ihn. Er war nicht gefährlich. Er war kein Killer. Der Junge, den ich kannte, war nicht nur eine Maske, die jemand trug, der wusste, wie er Gefühle nicht nur lesen, sondern auch manipulieren konnte.
Dies war Michael. Er nannte mich Colorado, er las Jane Austen, und ich spürte noch seine Lippen auf meinen. Er würde die Waffe weglegen.
Doch er tat es nicht.
Stattdessen hob er sie und zielte damit auf Dean. Die beiden starrten einander an. Mir lief der Schweiß über den Rücken. Ich trat einen Schritt vor, dann einen zweiten. Ich konnte nicht einfach im Hintergrund stehen bleiben.
Michael zielt mit einer Waffe auf Dean.
»Ich warne dich, Michael. Leg sie weg.« Dean klang ruhig. So absolut, vollkommen ruhig, dass sich mir der Magen verkrampfte, denn plötzlich wurde mir bewusst, dass er abdrücken konnte. Er würde nicht überlegen. Er würde nicht zögern.
Wenn er glaubte, dass ich in Gefahr war, würde er Michael eine Kugel in den Kopf jagen.
»Leg du sie weg«, erwiderte Michael. »Cassie …«
Ich ließ ihn nicht ausreden, konnte mir nicht anhören, was er oder Dean zu sagen hatte, nicht, wenn wir nur eine Haaresbreite von einer Katastrophe entfernt waren. »Leg sie weg, Michael«, sagte ich. »Bitte.«
Michaels Blick geriet ins Schwanken. Zum ersten Mal sah er von Dean zu mir, und ich bemerkte den Moment, in dem er erkannte, dass ich keine Angst vor Dean hatte, sondern vor ihm.
»Du warst fort. Dean war fort. Eine von Briggs’ Pistolen war fort.« Michael holte bebend Luft. Der starre Gesichtsausdruck begann sich zu lösen, Schicht für Schicht, bis ich darunter den Jungen erkannte, den ich geküsst hatte: verwirrt und verletzt, der sich nach mir sehnte, der Angst um mich hatte und verwundbar war. »Ich würde dir nie auch nur ein Haar krümmen, Cassie.«
In mir schien etwas zu zerbrechen. Das war Michael – der gleiche Michael, der er immer gewesen war.
Dean wiederholte seinen Befehl, dass Michael die Waffe niederlegen solle. Michael schloss die Augen. Er senkte die Waffe.
Eine Sekunde später dröhnten Schüsse.
Ein Schuss. Zwei Schüsse.
Sie hallten in meinen Ohren, mir drehte sich der Magen um, und Galle stieg mir in die Kehle, während ich versuchte festzustellen, welche Pistole losgegangen war. Michaels Hand hing an seiner Seite. Sein Mund öffnete sich zu einem winzigen O, und ich sah entsetzt, wie sich eine rote Blüte auf seinem hellblauen Hemd ausbreitete. Er war getroffen. Zweimal. Einmal in die Schulter und einmal ins Bein. Er verdrehte die Augen und die Pistole glitt ihm aus den Fingern.
Er fiel.
Ich wandte mich zu Dean, der die Waffe noch in der Hand hielt. Er richtete sie auf mich.
Nein. Nein, nein, nein, nein, nein.
In diesem Augenblick hörte ich eine Stimme hinter mir und erkannte, dass Dean nicht die rauchende Pistole hielt. Und er zielte auch nicht auf mich. Er zielte auf die Person hinter mir.
Diejenige, die auf Michael geschossen hatte.
Er zielte auf Special Agent Lacey Locke.