Kapitel 36

A gent Locke hielt eine Pistole. Sie hatte auf Michael geschossen – auf ihn geschossen! Und jetzt lag er am Boden, Blut breitete sich um seinen Körper aus, er kämpfte um sein Leben. Das war ein Irrtum – es musste ein Irrtum sein. Sie hatte gesehen, dass er eine Waffe hatte, und hatte reagiert. Sie war FBI-Agentin und sie wollte mich beschützen. Das war ihr Job.

»Cassie«, sagte Dean leise und warnend. Er sah aus wie ein Raubtier, ein Soldat, eine Maschine. »Bleib zurück.«

»Nein«, widersprach Agent Locke und trat vor, so fröhlich lächelnd wie immer. »Nicht zurückbleiben. Hör nicht auf ihn, Cassie.«

Dean folgte ihren Bewegungen mit der Pistole. Sein Finger krümmte sich um den Abzug.

»Bist du ein Killer, Dean?«, fragte Agent Locke mit großen Augen todernst. »Das haben wir uns immer gefragt. Direktor Mullins hat gezögert, das Programm der Akademie zu finanzieren, weil er wusste, woher du kommst. Aus welchen Umständen du kommst. Ist es wirklich fair von uns, dir alles beizubringen, was es über Killer zu wissen gibt? Dich dazu zu zwingen, in einem Haus zu wohnen, wo ihre Bilder an der Wand hängen, und in dem alles, was du siehst, auf diese eine Sache hinweist? Wie lange würde es bei deiner Vorgeschichte dauern, bis du durchdrehst?«

Agent Locke trat einen Schritt auf ihn zu.

»Das ist es, worüber du dir ständig den Kopf zerbrichst. Es ist deine größte Angst. Wie lange wird es dauern«, brachte sie gedehnt hervor, »bis du genauso bist wie … Daddy?«

Mit sicherem Arm und festem Blick zog Dean den Abzug. Doch es war zu spät. Sie war bei ihm und schlug ihm die Pistole zur Seite. Als sie losging, flog die Kugel so dicht an meinem Gesicht vorbei, dass ich ihre Hitze fast auf meiner Haut spüren konnte. Dean wandte den Kopf, um nach mir zu sehen. Es kostete ihn nur den Bruchteil einer Sekunde, doch auch das war zu viel.

Agent Locke schlug ihn mit dem Kolben ihrer Pistole und er ging zu Boden. Schlaff lag er dicht neben Michael.

»Na endlich«, sagte Agent Locke und wandte sich zu mir um, »sind wir Mädels unter uns.«

Ich machte einen Schritt auf Michael, auf Dean zu, doch Agent Locke winkte mir mit der Waffe.

»Nein, nein, nein«, sagte sie und schnalzte leise mit der Zunge. »Du bleibst, wo du bist. Wir werden uns ein wenig darüber unterhalten, wie man Befehle befolgt. Ich habe dir doch gesagt, du sollst nichts Dummes tun.«

Gerade noch stand sie dort und sah genauso aus wie die Frau, die ich kannte, lebenslustig, ambitioniert und sprühend vor Energie, eine Naturgewalt, die sehr gut darin war, ihren Willen zu bekommen, und im nächsten Moment war sie über mir. Ich sah Silber aufblitzen und hörte, wie ihre Waffe auf meinen Wangenknochen prallte.

Gleich darauf schien mein Gesicht vor Schmerz zu explodieren. Ich lag am Boden und schmeckte Blut in meinem Mund.

»Steh auf.« Ihre Stimme war fest, hatte aber eine ungewohnte Schärfe. »Steh auf!«

Ich rappelte mich hoch. Sie legte mir die Finger der linken Hand unter das Kinn und winkelte mein Gesicht nach oben. Auf meinen Lippen war Blut. Ich spürte, wie mein Auge zuschwoll, und bei der geringsten Kopfbewegung sah ich Sterne.

»Ich sagte doch, du und Dean sollt allein kommen. Ich sagte dir, du sollst nichts Dummes tun. Ich habe dir gesagt, ich würde dafür sorgen, dass du es bereust, wenn du es doch tust.« Ihre Fingernägel gruben sich in die Haut unter meinem Kinn, und ich dachte an die Fotos der Opfer, denen sie die Haut vom Gesicht gezogen hatte.

Das Messer.

»Tu nichts mehr, was mich zwingen würde, es dich bereuen zu lassen«, sagte sie kalt. »Du wirst dich nur selbst verletzen.«

Ich sah ihr in die Augen und fragte mich, wie ich das hatte übersehen können, wie ich ganze Tage, wochenlang jeden Tag mit ihr hatte verbringen können, ohne zu merken, dass mit ihr etwas nicht stimmte.

»Warum?« Ich hätte meinen Mund halten sollen. Ich hätte nach einem Ausweg suchen sollen. Doch mir war klar, dass es keinen gab. Und ich musste es wissen.

Locke ignorierte meine Frage und warf einen Blick auf Michael. »Wie schade«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, ich könnte ihn verschonen. Er hat eine sehr wertvolle Begabung und auf jeden Fall hatte er etwas für dich übrig. Alle hatten das.«

Ohne Vorwarnung schlug sie mich erneut. Diesmal fing sie mich auf, bevor ich stürzte.

»Du bist wie deine Mutter«, stellte sie fest. Dann packte sie meinen Arm fester und zwang mich, gerade zu stehen. »Sei nicht schwach. Das kannst du besser. Wir können das besser, und ich will nicht, dass du dich auf dem Boden wälzt wie eine gewöhnliche Hure. Hast du mich verstanden?«

Ich verstand, dass diese Worte wahrscheinlich irgendwann einmal jemand zu ihr gesagt hatte. Ich verstand, dass sie mich wahrscheinlich wieder und wieder schlagen würde, wenn ich sie erneut fragte, woher sie meine Mutter kannte.

Und ich verstand, dass ich wohl nicht wieder aufstehen würde.

»Ich erwarte eine Antwort, wenn ich mit dir rede, Cassie! Du bist doch nicht in einer Scheune groß geworden!«

»Ich verstehe«, sagte ich und speicherte ihre Wortwahl ab, den fast mütterlichen Unterton. Ich hatte angenommen, dass der Täter männlich war. Ich hatte angenommen, dass es, da er Frauen tötete, um eine Art sexuelles Motiv ging.

Aber Agent Locke hatte uns beigebracht, dass man alles veränderte, wenn man eine einzige Annahme änderte.

Bei irgendetwas werdet ihr immer falschliegen. Irgendetwas wird euch immer entgehen. Was, wenn der Täter älter ist, als ihr glaubt? Was, wenn er eine Sie ist?

Sie hatte mir praktisch gesagt, dass sie der Täter war – und es war mir überhaupt nicht aufgefallen, weil ich ihr vertraut hatte –, denn wenn das Motiv für den Täter nicht sexueller Art ist, wenn er nicht immer und immer wieder seine Frau oder seine Mutter oder ein Mädchen tötete, das ihn abgewiesen hatte, wenn er eine Sie war …

»Na gut, Kleine, dann lass uns mal anfangen.« Locke klang so normal wie immer, was es schwer machte, daran zu denken, dass sie eine Waffe hatte. »Ich habe ein Geschenk für dich. Ich werde es holen. Wenn du dich bewegst, während ich weg bin, wenn du auch nur zwinkerst, schieße ich dir ins Knie, prügele dich halb tot und verpasse deinem kleinen Geliebten eine Kugel in den Kopf.«

Sie deutete auf Dean. Er war bewusstlos, aber er lebte. Und Michael …

Ich brachte es nicht über mich, Michael anzusehen, der ausgestreckt auf dem Boden lag.

»Ich rühre mich nicht.«

Sie war nur ein paar Sekunden weg. Ich machte einen Schritt näher zu Michaels Waffe, die auf den Boden gefallen war, erstarrte dann aber, weil ich wusste, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Sie würde Dean umbringen. Sie würde mir etwas antun. Das geringste Zögern war zu viel und gleich darauf war Locke zurück.

»Bitte tun Sie mir nichts. Bitte. Mein Dad hat Geld. Er gibt Ihnen, was Sie wollen, bitte …«

Erst da erkannte ich Genevieve Ridgerton an Lockes Seite. Sie hatte böse Schnitte an Hals und Schultern. Ihr Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit geschwollen und auf ihrer Kopfhaut klebte Blut. Sie stieß ein Jammern aus, das irgendwo zwischen einem Gurgeln und einem Stöhnen lag.

»Ich habe dir doch gesagt«, sagte Agent Locke, die ein Messer in der Hand trug und auf deren Gesicht sich ein Lächeln ausbreitete, »dass ich nur für eine einzige Sache eine natürliche Begabung habe.«

Ich versuchte krampfhaft, mich an das Gespräch zu erinnern – es war eines der ersten Gespräche mit ihr gewesen, und sie hatte mir genau das mit einem spitzbübischen Lächeln gesagt. Ich hatte angenommen, sie beziehe sich auf Sex – doch der hilflose, hoffnungslose Ausdruck in Genevieves Augen ließ keinen Zweifel daran, was Lockes sogenannte Begabung war.

Folter.

Verstümmelung.

Tod.

Sie betrachtete sich als geborenen Killer, und sie erwartete von mir, dass ich etwas sagte. Sie erwartete von mir ein Kompliment für ihr Talent .

Du kanntest meine Mutter. Du hast mich geschlagen, du hast mich verletzt, du hast mir gesagt, es sei meine Schuld.

Du bist ziemlich sicher als Kind misshandelt worden. Du hast mich Kleine genannt. Ich bin nicht wie deine anderen Opfer. Du hast mir Geschenke geschickt. Du hast mich ausgebildet …

»An dem Tag, als wir uns kennenlernten«, sagte ich und hoffte, dass mein Gesicht ernst und unschuldig genug aussah, um ihr zu gefallen, »als Sie gesagt haben, dass Sie nur für eine einzige Sache eine natürliche Begabung hätten – da haben Sie auch gesagt, dass Sie mir davon erst erzählen könnten, wenn ich einundzwanzig bin.«

Locke schien erfreut, dass ich mich daran erinnerte. »Das war, bevor ich dich kannte. Bevor ich erkannte, wie ähnlich du mir bist. Ich wusste, dass du Lorelais Tochter bist. Natürlich wusste ich das, ich war schließlich diejenige, die dich im System markiert hat. Ich habe dich an Briggs verfüttert. Ich habe dich hergebracht, weil du Lorelais Tochter bist, aber als ich angefangen habe, mit dir zu arbeiten …« In ihren Augen war ein seltsames Funkeln zu sehen, wie bei einer aufgeregten Braut oder einer Schwangeren, die vor Glück von innen heraus strahlt. »Du hast mir gehört, Cassie. Du hast zu mir gehört. Ich dachte, ich könnte warten, bis du älter bist, bis du bereit bist, aber du bist jetzt schon bereit.«

Sie stieß Genevieve auf die Knie. Das Mädchen brach zusammen, zitternd, und man konnte ihre Angst fast riechen. Locke bemerkte, wie ich Genevieve ansah, und sie lächelte.

»Ich habe sie für dich mitgebracht.«

Locke hatte die Pistole noch in der rechten Hand und hielt mir mit der linken das Messer mit dem Griff voran hin. In ihrem Blick lag Hoffnung, Verletzlichkeit, Hunger.

Du willst etwas von mir.

Locke wollte mich nicht töten – oder vielleicht doch, aber das hier wollte sie mehr. Sie wollte, dass ich das Messer nahm. Sie wollte, dass ich Genevieve die Kehle aufschlitzte. Sie wollte, dass ich in mehr als einer Hinsicht ihr Schützling wurde.

»Nimm das Messer.«

Ich nahm es. Den Blick hielt ich weiter auf die Waffe gerichtet, die auf meine Stirn zielte.

»Ist das wirklich notwendig?«, fragte ich und versuchte, so zu tun, als würde es mir bei dem Gedanken, mit dem Messer auf das schluchzende Mädchen am Boden loszugehen, nicht schlecht werden. »Wenn ich das tue, dann soll es ganz Meines sein.«

Ich sprach ihre Sprache, sagte ihr, was sie hören wollte: dass ich wie sie war, dass wir gleich waren, dass es hier um Kontrolle und um Zorn ging und darum, die Macht zu haben, zu entscheiden, wer leben und wer sterben sollte. Langsam senkte Locke die Waffe, legte sie aber nicht weg. Ich schätzte die Distanz zwischen uns ab und fragte mich, ob ich sie mit dem Messer erwischen könnte, bevor sie in der Lage wäre zu schießen.

Sie war stärker als ich. Sie war besser ausgebildet. Sie war ein Killer.

Um Zeit zu gewinnen, kniete ich mich neben Genevieve.

Ich bückte mich, legte die Lippen an ihr Ohr und versuchte, ein wenig von dem Irrsinn, den ich in Lockes Gesicht sah, auf meinem widerzuspiegeln. Dann flüsterte ich dem Mädchen so leise, dass nur sie es hören konnte, zu: »Ich werde dir nichts tun. Ich werde dich hier rausbringen.«

Genevieve sah auf, obwohl sie noch zusammengerollt auf dem Boden lag. Sie streckte die Hand aus und packte mich am Sweatshirt.

»Töte mich«, stieß sie zwischen gesprungenen und blutenden Lippen hervor. »Töte mich, bevor sie es tut.«

Ich blieb erstarrt knien und Locke flippte aus. Sie hörte auf, mich anzusehen wie ein Lehrer seinen Lieblingsschüler, und wurde zu einem wütenden Tier. Sie stürzte sich auf Genevieve, warf sie auf den Rücken, drückte sie zu Boden und legte ihr die Hände um den Hals.

»Du rührst Cassie nicht an«, schrie sie Genevieve an, so dicht vor ihrem Gesicht, dass sie nicht weiter zurückweichen konnte. »Du – hast – hier – nichts – zu – sagen!«

In meinem Kopf wirbelten die Gedanken. Ich musste sie von Genevieve fortreißen, ich musste sie aufhalten. Ich musste …

Eben hatte Locke noch über Genevieve gehockt, doch im nächsten Moment riss sie mir das Messer aus der Hand.

»Du kannst es nicht«, stieß sie hervor. »Du kannst nichts richtig machen!«

Genevieve machte den Mund auf. Locke stieß ihr das Messer in die Seite. Das Mädchen sank zu Boden. Ich hatte versprochen, sie zu beschützen, und jetzt …

Jetzt sah ich nur noch Blut.