L ocke stand auf. Sie trat Genevieves Körper beiseite, als sei das Mädchen bereits tot, obwohl mir ihr Keuchen und Wimmern deutlich das Gegenteil bewies. Lockes Pistole lag unbeachtet auf dem Boden, doch so, wie sie das Messer hielt, als sie auf mich zukam, wusste ich, dass ich keineswegs sicherer war als noch einen Moment zuvor.
Sie würde mich erstechen.
Sie würde mich aufschlitzen.
Sie würde mich töten.
»Du hast gelogen«, schrie sie mich an. »Du konntest es nicht. Wolltest du es überhaupt? Wolltest du?« Ihre Stimme überschlug sich.
Ich trat einen Schritt zurück. Ich machte den Mund auf, um ihr zu sagen, was sie hören wollte – dass ich es wollte. Vielleicht würde ich damit Zeit gewinnen, aber sie ließ mir keine Chance. Sie sah mich über das Messer hinweg an und machte einen weiteren Schritt auf mich zu.
»Du hättest sie töten sollen«, sagte sie. »Ich habe sie für dich hergebracht.«
»Es tut mir leid …«
»Leidtun nutzt gar nichts! Lorelai hat es leidgetan. Ihr hat es leidgetan, aber sie musste gehen, und mich hat sie dort alleingelassen!« Lockes Stimme brach, doch der Zorn war in jedem Wort deutlich spürbar. »Du solltest das Mädchen töten. Es hätte für uns sein sollen, Cassie. Für dich. Und mich. Aber du bist gegangen!«
Sie redete nicht mehr mit mir. Sie sah nicht mehr mich, wenn sie ihren irren Blick auf mich richtete. Die Klinge in ihrer Hand blitzte. Das Blut tropfte auf den Boden. Ich hatte zwei, vielleicht drei Sekunden.
»Was soll das heißen, ich bin gegangen?«, fragte ich in der Hoffnung, sie könnte wieder klar denken und ich könnte sie ins Hier und Jetzt zurückholen. »Wo hat sie dich alleingelassen?«
Locke hielt inne. Sie zögerte. Sie starrte mich an. Sah mich. Sie gewann ihre Fassung wieder und mit hasserfüllter Stimme sprach sie weiter: »Lorelai ist gegangen. Sie war achtzehn und ich war zwölf. Sie hätte mich beschützen sollen! Sie hätte auf mich aufpassen sollen. Nachts, wenn Daddy weg war und das Monster herauskam, um zu spielen … sie hat ihn böse gemacht. Sie hat ihn absichtlich böse gemacht, damit er sie schlug und nicht mich. Sie hat gesagt, sie würde es nicht zulassen, dass mir etwas geschieht.« Locke hielt inne. »Sie hat gelogen.«
Wir hatten gewusst, dass der Täter auf meine Mutter fixiert war. Wir hatten nur nicht gewusst, warum.
»Sie war meine Schwester und sie hat mich einfach dagelassen. Sie wusste, wie er war, nachdem Mama weg war. Sie wusste, was er mir antun würde, wenn auch sie weg war, aber sie ist trotzdem gegangen. Deinetwegen. Weil Daddy recht hatte, dass Lorelai eine kleine Hure war. Sie hat immer alles falsch gemacht, und als ich herausgefunden hatte, dass sie schwanger war mit dem Baby von einem Air-Force-Soldaten …« Locke war völlig in ihrer Erinnerung gefangen. Ich sah nach ihrer Waffe auf dem Boden und fragte mich, ob ich sie rechtzeitig erreichen könnte. »Ich hatte geglaubt, Daddy würde sie umbringen, wenn er es erfährt. Ich sollte es nicht einmal wissen, aber ich habe es herausgefunden, und er hat es herausgefunden, und er war nicht einmal wütend! Er hat ihr nicht die Kehle aufgeschlitzt oder ihr das hübsche kleine Gesicht zerschnitten, damit die Jungen sie nicht mehr wollten. Sie war schwanger und er war glücklich. Und dann ist sie verschwunden. Mitten in der Nacht. Sie hat mich aufgeweckt, mich geküsst und gesagt, dass sie weggehen würde. Sie sagte mir, dass sie nie wieder zurückkommen würde, weil sie in diesem Haus kein Kind großziehen wollte, dass unser Daddy dir nie ein Haar krümmen würde.« Lockes Finger – die Finger meiner Tante – packten den Messergriff fester. Ihre Hand zitterte. »Ich flehte sie an, mich mitzunehmen, doch sie sagte, das könne sie nicht. Dass er uns verfolgen würde. Dass sie kein Recht habe, mich mitzunehmen. Dass es zu schwer sein würde. Sie hat mich dagelassen, damit ich verrotte, und als sie weg war, war die Einzige, die er bestrafen konnte, ich!«
Tu nichts mehr, was mich zwingen würde, es dich bereuen zu lassen.
Du wirst dich nur selbst verletzen.
Ich will nicht, dass du dich auf dem Boden wälzt wie eine gewöhnliche Hure.
Meine Mutter hatte nie über ihre Familie gesprochen. Sie hatte nie einen Vater erwähnt, der sie misshandelt hatte, oder eine Mutter, die nicht da war. Sie hatte nie eine kleine Schwester erwähnt, aber jetzt konnte ich ihre Familie vor mir sehen: die blauen Flecken, die Beulen und die Angst, das Daddy-Monster, die kleine Schwester, die sie nicht retten konnte, und das Baby, bei dem sie es schaffte.
»Wenn man mich fragt, warum ich tue, was ich tue«, sagte die Frau, die diese kleine Schwester gewesen war, »dann antworte ich, dass ich zum FBI gegangen bin, weil jemand, den ich liebte, ermordet worden ist. Irgendwann bin ich aus diesem Haus herausgekommen. Ich bin aufs College gegangen und habe jahrelang nach meiner großen Schwester gesucht. Zuerst wollte ich sie nur finden. Ich wollte bei ihr sein – und bei dir. Wenn sie mich mitgenommen hätte, hätte ich helfen können. Du hättest mich geliebt. Ich hätte dich geliebt.« Lockes Stimme wurde sehr sanft, und ich wusste, dass sie diese Szene immer wieder in ihrem Kopf durchgespielt hatte, während sie in diesem Höllenloch aufwuchs. Sie hatte an meine Mutter gedacht, und sie hatte an mich gedacht, noch bevor sie mich kennengelernt hatte, bevor sie auch nur meinen Namen wusste.
»Sie hätte dich da nicht alleinlassen dürfen.« Ich wagte es, diese Worte auszusprechen, weil es wahr zu sein schien. Locke war nur ein Kind gewesen, als meine Mutter verschwunden war, und meine Mutter hatte nie zurückgeblickt. Sie hatte mich praktisch auf der Straße großgezogen, war mit mir von Stadt zu Stadt gezogen und erwähnte nie, dass sie Familie hatte, so wie sie auch meinen Dad nie erwähnt hatte.
Mein ganzes Leben lang waren wir vor etwas auf der Flucht gewesen und das war mir nicht einmal klar gewesen.
»Sie hätte mich nie verlassen dürfen«, wiederholte Locke. »Irgendwann hörte ich auf, davon zu träumen, sie wiederzufinden und dass wir wieder eine Familie sein könnten, und begann, davon zu träumen, sie zu finden und ihr wehzutun, so wie Daddy mir wehgetan hat. Sie dafür bezahlen zu lassen, dass sie mich dortgelassen hatte. Ihr das Gesicht abzuziehen, bis sie niemand mehr hübsch finden würde, bis jeder, der sie ansah, nur noch schreien wollte.«
Die Garderobe. Das Blut. Der Geruch …
»Aber als ich sie gefunden hatte, als ich dich gefunden hatte – da war es zu spät. Sie war bereits tot. Sie war fort und das war nicht fair. Ich hätte sie töten sollen. Ich hätte diejenige sein sollen!«
Meine Tante hatte meine Mutter nicht getötet – weil ihr jemand zuvorgekommen war.
»Als ich feststellte, dass sie tot war und dass du fort warst, als ich herausgefunden hatte, dass man dich zur Familie deines Vaters geschickt hatte … ich war auch deine Familie! Ich hatte daran gedacht, dich zu mir zu nehmen. Ich bin sogar nach Colorado gefahren, doch als ich dort angekommen war, war in meinem Hotel so ein Junkie. Die Kleine war billig und schlampig und schmutzig und ihre Haare hatten genau die richtige Farbe. Ich brachte sie um, und dann sagte ich: ›Wie gefällt dir das, Lorelai?‹ Ich zerschnitt ihr das Gesicht, bis ich mir vorstellen konnte, das von Lorelai darunter zu erkennen, und bei Gott, fühlte sich das gut an!« Sie hielt inne. »Es war das schönste. Das erste Mal. Das ist es immer. Nach dem ersten Mal braucht man immer mehr.«
»Bist du deshalb zum FBI gegangen?«, fragte ich. »Viele Reisen, leichter Zugang und perfekte Tarnung?«
Agent Locke machte einen Schritt auf mich zu. Jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt. Einen Moment lang glaubte ich, sie würde mich wieder schlagen – wieder und wieder und wieder.
»Nein«, sagte sie, »das war nicht der Grund.«
Wenn man mich fragt, warum ich tue, was ich tue, dann antworte ich, dass ich zum FBI gegangen bin, weil jemand, den ich liebte, ermordet worden ist.
Ich erinnerte mich an ihre Worte und erkannte, dass sie die Wahrheit sagte.
»Du bist zum FBI gegangen, weil du den Mörder meiner Mutter finden wolltest.«
Nicht weil sie traurig war, dass meine Mutter tot war, sondern weil sie es sein wollte, die sie tötete.
»Ich habe meinen Namen geändert, habe studiert und Pläne gemacht. Die Psychologieprüfungen habe ich mit Auszeichnung bestanden. Selbst als ich mit Briggs zusammenarbeitete und er mich in die Cold Case Academy einführte, sah mich niemand wirklich. Sie sahen nur, was ich sie sehen lassen wollte. Lia hat mich nie bei einer Lüge erwischt. Michael sah nie auch nur einen Hauch einer unangemessenen Emotion. Und Dean … für ihn war ich wie ein Familienmitglied.«
Deans Namen zu hören ließ mich zu ihm hinübersehen. Er rührte sich immer noch nicht. Dafür aber Michael. Er hatte die Augen geöffnet. Er blutete. Er konnte nicht laufen, er konnte kaum so viel wie kriechen, doch er schleppte sich langsam über den Boden – zu seiner Waffe.
Locke wollte meinem Blick folgen, aber ich hinderte sie daran.
»Es ist nicht dasselbe«, sagte ich entschieden und ruhig.
»Was?«, fragte Locke. Nein, ihr Name war nicht wirklich Locke, nicht, wenn sie die Schwester meiner Mutter war.
Mir blieb kaum eine Sekunde, um mir eine Antwort zu überlegen, aber ich hatte von meiner Mutter nicht nur das VPU gelernt. Sie hatte mir auch beigebracht, eine Show abzuziehen. Also sagte ich das, was garantieren würde, dass Lacey Hobbes’ Aufmerksamkeit auf nichts anderem lag als auf mir.
»Du hast versucht, den Mord an meiner Mutter nachzustellen, aber dabei ist dir ein Fehler unterlaufen. Was du diesen Frauen antust, ist nicht dasselbe wie das, was ich meiner Mutter angetan habe.«
Die Frau vor mir hatte meine Mutter töten wollen, doch vor allem hatte sie unbedingt von ihr akzeptiert werden wollen. Sie hatte Teil einer Familie sein wollen und hatte mich heute mit der verqueren Hoffnung hergebracht, dass ich für sie ihre Familie sein könnte. Sie hatte es genossen, meine Mentorin zu sein. Sie wollte, dass ich so war wie sie.
Jetzt war es an mir, sie davon zu überzeugen, dass ich es war.
»Meine Mutter hat dich nicht beschützt«, sagte ich und versuchte die Wut, die Verzweiflung und den Schmerz, die ich in ihrem Gesicht sah, widerzuspiegeln. »Mich hat sie auch nicht beschützt. Da waren Männer. Sie hat sie nicht geliebt. Sie ist nicht bei ihnen geblieben. Sie sagte kein Wort, wenn sie ihren Frust an mir ausließen. Sie war schwach. Sie war eine Hure. Sie hat mich verletzt.«
Lia hätte gewusst, dass ich log, doch die Frau vor mir war nicht Lia. Ich lächelte zögernd und richtete meinen Blick fest auf meine Tante, ohne auch nur für eine Sekunde zu Michael zu sehen.
»Also habe ich sie verletzt.«
Meine Tante starrte mich an, das Gesicht immer noch ungläubig verzogen, aber mit einem traurig sehnsüchtigen Blick.
»Sie hat sich für die Show zurechtgemacht. Lippenstift aufgelegt. Sie hat so getan, als sei sie perfekt und etwas Besonderes, als sei sie kein Monster. Ich habe ihren Namen gesagt. Sie hat sich umgedreht und ich habe mein Messer genommen. Ich habe es ihr in den Bauch gestoßen. Sie sagte: ›Oh.‹ Das war alles. Einfach nur: ›Oh.‹ Also habe ich wieder zugestochen. Und wieder. Sie hat sich gewehrt. Sie hat getreten und geschrien, aber dieses Mal war ich diejenige mit der Macht. Ich war diejenige, die verletzte, und sie wurde verletzt. Sie fiel auf den Bauch. Ich habe sie umgedreht, damit ich ihr ins Gesicht sehen konnte. Ich habe ihr nicht das Messer über die Wangenknochen gezogen. Ich habe sie nicht zerschnitten. Ich habe meine Finger in ihre Seite getaucht. Ich habe sie schreien lassen. Und dann habe ich ihre Lippen mit Blut angemalt.« Locke – ich meine Hobbes – lauschte mir gebannt. Einen kurzen Moment lang dachte ich tatsächlich, sie würde mir glauben. Die Hand mit dem Messer hing an ihrer Seite. Ihre linke Hand griff in die Tasche, und sie zog etwas hervor – was, konnte ich nicht sehen. Sie spielte einen Moment damit – sanft, vorsichtig –, dann ballte sie die Hände zu Fäusten.
»Eine ausgezeichnete Vorstellung«, fand sie. »Aber auch ich bin eine Profilerin. Ich mache das schon länger als du, Cassie, und deine Mutter wurde nicht von einem zwölfjährigen Mädchen getötet. Du bist kein Killer. Du hast nicht das Zeug dazu.« Sie wirbelte das Messer in ihren Fingern, wobei sich die Sehnsucht in ihren Augen in etwas anderes verwandelte.
Gier. Sie wollte Blut fließen sehen.
»Damit kommst du nicht durch«, sagte ich. »Sie werden wissen, dass du es warst. Sie werden dich schnappen …«
»Nein. Ich werde Dean schnappen«, korrigierte Locke. »Du hast mich von seinem Telefon aus angerufen. Ich habe mir Sorgen gemacht, aber als ich im Haus angerufen habe, warst du nicht da. Alle waren völlig durcheinander. Sie stellten fest, dass auch Dean nicht da war und dass er eine von Briggs’ Waffen gestohlen hat. Ich habe euch aufgespürt. Ich habe Dean hier bei Genevieve gefunden und wir haben miteinander gekämpft. Er hat Michael erschossen. Er hat dich mit dem Messer bearbeitet. Ich bin die heroische Agentin, die ihn aufgehalten hat, die festgestellt hat, dass die Morde in D. C. das Werk eines Nachahmers waren, der Zugang zu unserem System hatte, und nichts mit den anderen Morden zu tun hatten. Es war zu spät, um dich zu retten, aber ich habe Dean erschossen, bevor er mich töten konnte. Wie der Vater, so der Sohn. Hast du wirklich geglaubt, du könntest gewinnen?«, fragte sie. »Hast du geglaubt, du könntest mich hereinlegen?«
Hinter ihr hielt Michael die Waffe in der Hand. Er rollte sich auf die Seite und zielte.
»Ich habe nicht erwartet, dass du mir glaubst«, sagte ich, »oder dass du mich am Leben lassen würdest. Ich wollte nur, dass du mir zuhörst.«
Ihr Blick traf meinen. Eine Sekunde später riss sie die Augen auf. Ein Schuss erklang. Dann zwei, dann drei, vier, fünf. Und meine Tante Lacey fiel zu Boden und blieb neben Genevieve liegen.
Sie war tot.