Kapitel 38

M ichael lag zwei Wochen im Krankenhaus. Dean wurde schon nach zwei Tagen entlassen. Doch auch als wir wieder im Haus waren, selbst als der Fall abgeschlossen war, hatte sich noch keiner von uns wirklich erholt.

Genevieve Ridgerton hatte überlebt – gerade so. Sie wollte keinen von uns sehen, besonders mich nicht.

Vor Michael lagen Monate mit Rehamaßnahmen. Die Ärzte sagten, dass er vielleicht nie wieder laufen könne, ohne zu hinken, und als er mich das erste Mal am Pool sah und das Hemd auszog, bemerkte ich die runde, geschwollene Narbe an seiner Schulter.

Dean sagte kaum ein Wort zu mir. Sloane konnte über fast nichts anderes reden als über die absolute Unwahrscheinlichkeit, dass eine Serienmörderin in der Lage war, die Psychologieexamen und die Überprüfungen zu überstehen, die notwendig waren, wenn man zum FBI wollte. Und ich musste mich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass Lacey Locke, geborene Hobbes, meine Tante gewesen war.

Ihre Geschichte hatte sich als wahr erwiesen. Meine Mutter und sie waren in der Nähe von Baton Rouge, Louisiana geboren worden und hatten dort ihre Kindheit verbracht. Beide hatten den Akzent irgendwann abgelegt, man hörte ihnen die Herkunft nicht an.

Sie waren in der Hölle aufgewachsen. Meine Mutter war entkommen. Lacey nicht.

Das FBI verglich die Morde von Lacey mit den Fällen, die Briggs’ Team bearbeitet hatte, und stellte fest, dass mindestens fünf weitere ins Profil passten. Wenn die Agenten zu einem Fall geflogen waren, hatte Lacey sich davongestohlen, und irgendwo vierzig oder fünfzig Meilen entfernt war jemand verschwunden. Und gestorben. In diesen Fällen hatte der dazugehörige Polizeibericht seinen Weg nicht zum FBI gefunden, da das Verbrechen zu keiner Serie zu gehören schien.

Die Frau, die sich Lacey Locke genannt hatte, hatte auf Staatsgrenzen geachtet. Sie hatte nie zwei Mal im gleichen Staat getötet – bis ich zu der Akademie gestoßen war. Da hatte sie durchgedreht und eine Reihe von Morden hier in D. C. begangen, da sie sich zunehmend auf mich fixierte.

Mindestens vierzehn Menschen waren tot und die Tochter eines Senators war entführt und schwer verletzt worden. Der Fall war ein Albtraum für das FBI – und für uns. Die Regel, dass Naturtalenten untersagt war, an aktiven Fällen mitzuarbeiten, war wieder in Kraft getreten, und auf ihre Einhaltung wurde strengstens geachtet. Direktor Mullins hatte es dieses Mal geschafft, unsere Namen aus der Presse herauszuhalten. Seiner Meinung nach war es für Außenstehende nur wichtig zu wissen, dass die Mörderin tot war.

Meine Tante war tot.

Genau wie meine Mutter.

Zwei Wochen später saß ich draußen am Pool und sah den Moment, in dem Michael den ersten Schuss abgefeuert hatte, immer noch vor mir, wieder und wieder und wieder.

Wie sollte ich jetzt weitermachen?

»Wenn du die Akademie verlassen willst, dann steig aus. Aber um Himmels willen, Cassie, wenn du bleiben willst, dann hör auf rumzujammern und unternimm etwas!«

Die Einzige, die sich bei alldem nicht verändert hatte, war Lia. Ich konnte darauf vertrauen, dass sie dieselbe blieb – und in gewisser Weise hatte diese Gewissheit etwas unfassbar Tröstliches.

»Was soll ich denn tun?«, fragte ich.

»Erstens kannst du mal diesen Rose-Red-Lippenstift loswerden, den ich dir gegeben habe«, verlangte Lia. Natürlich wusste sie, dass ich ihn immer noch hatte und ihn überallhin mitnahm, seit ich herausgefunden hatte, dass meine Tante einen bis auf einen Stummel abgenutzten Rose-Red-Lippenstift in der Hand gehalten hatte, als sie starb. Offensichtlich war das schon die Lieblingsfarbe meiner Mutter gewesen, als sie noch ein junges Mädchen war. Lacey hatte ihn all die Jahre behalten.

Das war es, was sie in der Tasche gehabt hatte.

Daran hatte sie sich festgehalten, als ich meine Geschichte über den Tod meiner Mutter zusammengesponnen hatte.

Das FBI hatte ein Dutzend weiterer Lippenstifte in einem Schrank in ihrem Haus gefunden. Es waren Andenken von ihren Opfern. Eine kleine Schwester, die unbedingt wie ihre große Schwester sein wollte und ihr bis zum Ende die Lippenstifte klaute.

Sie hatte Lia das Make-up gegeben. Sie hatte einen neuen Rose-Red-Lippenstift gekauft, nur für mich. Lia hatte recht – ich hätte den Lippenstift wegwerfen sollen, aber ich brachte es nicht fertig. Er war eine Erinnerung: an das, was meine Tante getan hatte, an das, was ich überlebt hatte, an meine Mutter und die Tatsache, dass Lacey und ich, dass wir beide zum FBI gegangen waren, weil wir hofften, ihren Mörder zu finden.

Einen Mörder, der immer noch frei herumlief. Einen Mörder, den nicht einmal eine psychotische, obsessive FBI-Agentin hatte finden können. Seit ich der Akademie beigetreten war, hatte ich eine Mentorin gefunden und verloren und gesehen, wie die einzige lebende Verwandte meiner Mutter erschossen wurde. Ich hatte geholfen, einen Mörder zu schnappen, der seit Jahren den Tod meiner Mutter nachzuvollziehen versuchte, doch ich war keinen Schritt weitergekommen, das Monster zu finden, das sie tatsächlich getötet hatte.

Vielleicht würde mir das nie gelingen.

Vielleicht würde man ihre Leiche nie finden.

»Also?«, fragte Lia. Sie hatte eine ausgezeichnete Vorstellung einer geduldigen Person abgegeben, aber offensichtlich hatte ihre Kapazität, auf eine verbindliche Reaktion von mir zu warten, ihre Grenzen mehr als erreicht. Sie konnte einfach nicht aus ihrer Haut. Auch das hatte etwas unfassbar Tröstliches. »Bleibst du oder gehst du?«

»Ich gehe nirgendwohin. Aber den Lippenstift behalte ich.«

»Grrrrr!«, machte Lia und zeigte die Fingernägel. »Endlich sehe ich ein paar Krallen aufblitzen.«

»Ich hab dich auch lieb«, entgegnete ich trocken.

Als ich mich zum Haus wandte, hielt Lias Stimme mich auf halbem Weg zurück.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich dich mag. Ich habe nicht gesagt, dass ich aufhöre, dein Eis zu essen oder deine Klamotten zu klauen, und ich habe bestimmt nicht gesagt, dass ich aufhöre, dir das Leben zur Hölle zu machen, wenn du Dean herumschubst, aber ich will nicht, dass du gehst.« Lia ging an mir vorbei, drehte sich dann um und schenkte mir ein strahlendes Lächeln. »Du machst die Sache hier interessant. Und nebenbei bemerkt: Mir gefallen Michaels Narben, und es wird umso schöner sein, ihn zu verführen, wenn ich weiß, dass du gleich nebenan bist.«

Damit stolzierte Lia ins Haus zurück. Ich dachte an Michaels Narben, an den Kuss, an die Tatsache, dass er fast für mich gestorben wäre – und dann dachte ich an Dean.

Dean, der sich nicht verzeihen konnte, dass er den Abzug nicht gedrückt hatte.

Dean, dessen Vater genauso ein Monster gewesen war wie meine Tante.

Vor ein paar Wochen hatte mir Lia gesagt, dass in diesem Haus jeder bis auf den Grund seiner finsteren Seele verkorkst war. Wir hatten alle unser Päckchen zu tragen. Wir sahen Dinge, die andere Menschen nicht sahen – Dinge, die Menschen in unserem Alter eigentlich nicht sehen sollten.

Dean würde nie einfach nur ein Junge sein. Er würde immer der Sohn des Serienmörders sein. Michael würde immer der sein, der eine Ladung Kugeln auf meine Tante abgefeuert hatte. Und ein Teil von mir würde nie die blutverschmierte Garderobe meiner Mutter verlassen, ebenso wie ein anderer Teil immer in dem sicheren Haus bei Lacey und dem Messer bleiben würde.

Wir würden nie wie andere Menschen sein.

»Ich weiß zwar nicht, was die Hintertür dir angetan hat, aber ich bin sicher, es tut ihr schrecklich leid.«

Eigentlich sollte Michael einen Rollstuhl benutzen, aber er versuchte bereits, sich auf Krücken fortzubewegen – ein ziemlich unmöglicher Kraftakt, wenn man bedachte, dass er auch eine Kugel in die Schulter abbekommen hatte. Warum nur überraschte es mich nicht, dass er so leichtsinnig war?

»Ich starre gar nicht auf die Hintertür«, sagte ich.

Michael zog die Augenbrauen hoch, höher und höher, bis ich schließlich nachgab. Langsam sollte ich wirklich aufhören, ihm was vormachen zu wollen.

»Na gut«, sagte ich. »Vielleicht habe ich die Hintertür böse angesehen. Ich will nicht darüber reden.«

»So wie du nicht über diesen Kuss reden willst?« Michaels Stimme klang locker, doch es war das erste Mal, dass einer von uns beiden jenen Moment in meinem Zimmer ansprach. Was ich später zu ihm gesagt hatte. Die Gründe, warum ich es gesagt hatte.

»Michael …«

»Nicht.« Er hielt mich auf. »Wäre ich nicht so eifersüchtig auf Dean gewesen, hätte ich dir die Geschichte nicht eine Sekunde lang abgekauft. Und selbst so hat es nicht lange gedauert.«

»Du bist mir nachgekommen.«

»Das werde ich immer«, behauptete er und wackelte mit den Augenbrauen, sodass seine Worte mehr wie ein Witz wirkten als wie ein Versprechen.

Etwas sagte mir, dass es beides war.

»Aber zwischen dir und Redding … da ist irgendetwas. Ich weiß nicht, was es ist. Ich gebe dir keine Schuld daran.« Auf Krücken konnte er sich nicht zu mir beugen. Er konnte mir nicht das Haar aus dem Gesicht streichen. Aber das Kräuseln seiner Lippen war intimer als eine Berührung. »Es ist viel passiert. Du musst dir über einiges klar werden. Ich bin ein geduldiger Mensch, Colorado. Ein unglaublich gut aussehender, verwegen vernarbter, herzergreifend mutiger, geduldiger Mann.«

Ich verdrehte die Augen, musste aber unwillkürlich lächeln.

»Also nimm dir alle Zeit der Welt. Finde heraus, was du fühlst. Finde heraus, ob du dich bei Dean so fühlst wie bei mir und ob er dich je an sich heranlassen wird und ob du das willst, denn das nächste Mal, wenn sich unsere Lippen berühren, das nächste Mal, wenn du deine Hände in mein Haar wühlst, dann bin ich der Einzige, an den du denken wirst.«

Ich stand einfach nur da, starrte ihn an und fragte mich, wie es möglich war, dass ich instinktiv wusste, wie andere Leute tickten – was sie als Person ausmachte, woran sie glaubten, was sie begehrten –, und mich gleichzeitig kein bisschen von allen anderen unterschied, wenn es darum ging, was ich wollte. Dann konnte ich nicht klar denken und bekam kein Wort heraus.

Ich hatte keine Ahnung, was es zu bedeuten hatte, dass meine Tante eine Mörderin gewesen war. Oder wie ich mit der Tatsache umgehen sollte, dass sie tot war.

Ich wusste immer noch nicht, wer meine Mutter getötet hatte. Oder was es mit mir machte, sie verloren zu haben und diesen Fall nicht abschließen zu können. Keine Ahnung, ob ich überhaupt dazu fähig wäre, jemanden an mich ranzulassen. Oder dazu, mich zu verlieben.

Ich hatte keine Ahnung, was oder wen ich wollte.

Aber eine Sache wusste ich ganz genau: Als Mitglied der Akademie, als Teil dieses Teams, würde ich früher oder später genau das herausfinden.