»Das darf doch echt nicht wahr sein. Hey! Was ist denn Ihr Problem da vorne?«
Bea duldete keine Unpünktlichkeit. Umso mehr geriet sie an diesem Morgen ins Schwitzen, denn die Uhr in ihrem Auto sprang gerade auf 9:00 – und um Punkt neun Uhr begann jeden Morgen ihre Visite.
Nun war es natürlich ihre Visite, weshalb sie sich eigentlich entspannt zurücklehnen durfte. Ohne sie würde schon niemand damit anfangen. Trotzdem tippte ihr rechter Fuß nervös auf das Gaspedal, während vor ihr der Besitzer eines klapprigen roten Kastenwagens offenbar vergebens versuchte, dem Parkautomaten ein Ticket zu entlocken. Er hing halb aus dem Fenster und versuchte, das Ticket aus dem Schlitz zu angeln. Bea drückte ungeduldig auf die Hupe. Der Fahrer drehte sich zu ihr um – und ließ das soeben ergatterte Parkticket fallen, während vor ihm die Schranke hochging.
»Das gibt’s doch nicht«, murmelte sie völlig entnervt. Sie ließ das Fenster ihres Wagens herunter und rief ihm zu: »Nun machen Sie schon! Andere Leute haben heute noch was vor!«
Er machte eine etwas unflätige Geste in ihre Richtung – sein Glück, dass kein Mittelfinger involviert war, dann wäre sie ihm durch die Windschutzscheibe an die Gurgel gegangen. Während also der Mann (knapp vierzig, schätzte sie, also weder jung noch alt, in ihrem Alter eben) sich aus dem Anschnallgurt und dem Wagen schlängelte, das Ticket auflas, wieder einstieg, sich anschnallte und sein Wagen endlich durch die Schranke rollte, wählte sie eine Nummer aus dem Kurzwahlspeicher.
»Stephanie? Ja, hier ist Bea. Es dauert noch fünf Minuten. Ich weiß, ich weiß. Eine Verkettung unglücklicher Umstände.«
Von denen dieser hübsche Kerl vor ihr nur der Letzte war. Ihr entging nicht, dass sein entschuldigendes Lächeln durchaus entwaffnend war, und ebenso wenig, dass er nun wirklich zügig ins Parkhaus des Klinikums einfuhr. Sie brauchte keine zehn Sekunden, um die Schranke hinter sich zu bringen, und stellte ihren Wagen auf den reservierten Parkplatz.
In Gedanken war sie immer noch nicht ganz bei der Sache, als sie das Gebäude betrat, statt der Aufzüge das Treppenhaus ansteuerte und dabei fast mit ihrem Kollegen Dr. Carsten Holler zusammenstieß.
»Nanu, die Frau Dr. Heinemann. Heute so spät?« Er konnte sich ein selbstgefälliges Grinsen nicht verkneifen. Seitdem Bea Chefärztin der Onkologie war und ihn bei der Ausschreibung um die Stelle ausgebootet hatte – seine Version der Geschichte – und er weiter das in seinen Augen jämmerliche Dasein als Chef der Notaufnahme fristete, hatte sie das Gefühl, dass er ihr ständig auflauerte und versuchte, sie bei einem Fehler zu ertappen.
»Ach, ich habe auch noch ein Privatleben«, gab sie zurück und schob sich an ihm vorbei. Zwei Stufen auf einmal nehmend hetzte sie ins zweite Obergeschoss.
»Das wage ich zu bezweifeln!«, hörte sie ihn rufen. Aber dann knallte die Tür hinter ihr zu, sie betrat die stillen Gänge der Onkologie 1. Nur vor dem Schwesternzimmer versammelten sich gerade ihre Assistenzärztinnen und die Schwestern, die ihre Visite begleiteten. Bea schlüpfte aus dem Mantel, darunter trug sie bereits ein weißes Polohemd und die weiße Hose – ihre übliche Arbeitskluft. Sie verschwand kurz in ihrem Zimmer, kickte die Stiefel in die Ecke, zog die bequemen Crocs unter dem Tisch hervor und schlüpfte vorher noch in ein Paar Wollsocken. Ihr Geheimnis gegen kalte Füße. Mit dem Kittel in einer Hand, in der anderen den Becher Kaffee, den ihre Sekretärin jeden Morgen um zehn vor neun auf ihren Schreibtisch stellte, verließ sie das Zimmer keine halbe Minute später. Die Uhr über dem Schwesternzimmer zeigte drei nach neun.
»So, dann wollen wir mal«, sagte sie, gerade so, als wäre ihre Verspätung ganz normal. War sie vermutlich für die Kolleginnen auch, aber Bea war es schlicht unangenehm. »Wo geht’s los?«
»Zimmer 318.« Die junge Assistenzärztin, die vortrat, war erst seit einem halben Jahr auf ihrer Station, bisher hatte sie sich aber durch eine bemerkenswerte Arbeitsmoral hervorgetan. Hat bestimmt auch kein Privatleben.
Als ob!
Sie ärgerte sich über Carsten Hollers Bemerkung, denn es stimmte einfach nicht. Natürlich hatte sie ein Privatleben. Gut, im Moment war es ein bisschen eingeschränkt, allein schon aufgrund der Tatsache, dass die Wohnung, in die sie abends zurückkehrte, so still und leer war. Kein Bud Spencer, der ihr entgegenlief. Kein Stefan, der am Herd stand und etwas Köstliches kochte.
Aber das musste Carsten Holler ja nicht wissen. Das musste überhaupt niemand wissen, es ging nämlich niemanden etwas an. Sie war hier zum Arbeiten, nicht, um Freundschaften zu schließen.
Sie betrat vor allen anderen Zimmer 318. Einzelzimmer, was für ein Luxus in dieser Zeit. Das Bett stand am Fenster, und auf dem Bett thronte eine alte Dame. Jawohl, Dame, das musste sie wohl so sagen, denn sie war von den sorgfältig frisierten, grauen Haaren über die knallrot lackierten Fingernägel bis zu den grauen Plüschpuschen und dem dunkelroten Nicki-Hausanzug, der perfekt auf die Fingernägel abgestimmt war, eine präsente Erscheinung.
Vor allem war sie in diesem Moment nicht allein. Drei andere Frauen saßen vor ihrem Bett, und sie alle drehten sich zu Bea und ihren Kolleginnen um und musterten sie, als wären sie gerade zur mündlichen Abiturprüfung angetreten.
»Margarete Zeidler, 74 Jahre alt. Bei uns wegen einer chronisch lymphatischen Leukämie, die nun auf die Leber übergegangen ist. Bisheriger Therapieverlauf ist erfolgversprechend, mit einer baldigen Entlassung können wir wohl rechnen.« Dies entlockte den drei Besucherinnen, die sich wie Nornen um ihr Bett versammelt hatten, ein gefälliges Lächeln, eine griff sogar nach der Hand der Patientin.
»Siehst du, Grete, bald kommst du hier wieder raus.«
Die junge Ärztin ratterte noch ein paar Blutwerte herunter. Bea hörte sich alles an, dann wandte sie sich an die Patientin. »Haben Sie Fragen?«
»Nein.« Ihre Stimme war überraschend rauchig. »Ich werde ohnehin bald nicht mehr hier sein.«
Bea fragte, ob sie sie untersuchen dürfe. Die drei Nornen machten nur widerwillig Platz. Behutsam tastete Bea den Bauch ab. Für den morgigen Vormittag war ein CT angesetzt. Danach die Entscheidung über eine weitere Therapie und die baldige Entlassung. Vermutlich würde es auf eine ambulante Chemotherapie drüben in der Tagesklinik hinauslaufen.
Zufrieden nickte Bea. Hier war alles so, wie es sein sollte, die Assistenzärztin auf Zack, die Patientin informiert und – soweit es die Umstände zuließen – entspannt.
Und sie schien über ein gutes soziales Netz zu verfügen, wenn immerhin drei Freundinnen schon früh am Morgen bei ihr saßen. Auch das war gut. Freundinnen waren wichtig in Krisenzeiten, das sagte sie ihren Patientinnen immer wieder.
Auf dem Weg aus dem Zimmer war Bea in Gedanken bereits bei der nächsten Patientin, drehte sich halb um, damit die junge Kollegin ihr die nächste Akte aushändigte. Just in diesem Augenblick betrat ein Mann mit einem Tablett aus der Krankenhauscafeteria den Raum. Der Kaffee schwappte auf Beas Kittel und das Poloshirt.
»Shit!«, fluchte Bea, denn der Kaffee war zwar nicht kochend heiß, aber warm genug, dass sie sich erschreckte.
»Verdammt!«, fluchte ihr Gegenüber und schaffte es gerade so, das Tablett festzuhalten. Ihre Kolleginnen wichen zurück. Bea schaute hoch. Ein Mann, ihr Alter, vielleicht etwas älter, die dunklen Haare ziemlich wuschelig und etwas zu lang, der zimtfarbene Wollpullover und die Jeans ausgebeult und mindestens so alt wie die ausgetretenen Turnschuhe.
»Sie schon wieder!«, rief sie, fast ein bisschen zu laut.
»Ja bitte?«, fragte er.
Ausgerechnet der Mann stand vor ihr, der sich vorhin mit dem Parkticket so ungeschickt angestellt hatte und damit maßgeblich an ihrer Verspätung schuld war. Herrje.
Und dann lächelte er sie noch so freundlich an, seine Stimme klang ein bisschen rau. Wie Kakaosplitter, dunkel und ein bisschen herb.
»Müssen Sie denn überall nur im Weg stehen?«, murmelte Bea.
»Ich wüsste nicht, dass wir uns schon mal begegnet sind«, erwiderte er. Sein Mundwinkel zuckte, als müsste er sich mühsam ein Grinsen verkneifen.
»Im Parkhaus«, erklärte sie, und als er sie verständnislos anblickte, fügte sie hinzu: »Ich habe gehupt.«
»Ach, Sie waren das.« Jetzt grinste er. »Ich hoffe, Sie haben nicht gehört, was ich gesagt habe.«
»Habe ich nicht. Vermutlich zum Glück?«
Er wiegte den Kopf. »Gut möglich. Es sei denn, Sie bekommen gerne Vogelnamen an den Kopf geworfen.«
Wie frech er war! Sie hätte gern etwas darauf erwidert, aber ihr fehlten die Worte. Sonst war sie schlagfertiger.
Sie schnaubte daher nur und schob sich an ihm vorbei. Dabei streifte ihr Arm seinen und sie hätte fast in der Bewegung verharrt, denn …
Dieser sanfte, süße Geruch. War das sein Shampoo oder trug er Aftershave? Nein, nichts an diesem Duft war künstlich, im Gegenteil – ganz natürlich und gerade so, als gehörte er zu ihm. Auf jeden Fall bekam sie weiche Knie davon, sie wäre gern einen winzigen Augenblick neben ihm stehen geblieben. Hätte verweilt. Sich für ihre ruppige Art entschuldigt, sie wusste doch, wie sie war, seit Monaten schon raunzte sie jeden an. Nicht, weil die Menschen sie störten, sondern … na ja. Weil sie mit sich selbst nicht klarkam. So, jetzt war’s heraus.
Stattdessen zwang sie sich, weiterzugehen, sie trat auf den Flur und ihre Kolleginnen folgten. Noch einmal blickte sie zurück, über die weißen Kittel und die Köpfe derer, die aus dem Zimmer strömten.
Er drehte sich halb um, lächelte sie an. Ein halbes Lächeln, immerhin, und sie zuckte entschuldigend die Schultern. Seine Augen waren dunkel, sie hätte nicht sagen können, ob sie grün oder braun waren, dunkel jedenfalls.
»Hier ist wie versprochen der Kaffee«, hörte sie ihn sagen. Er wendete sich zu den vier alten Frauen um, die Tür schlug zu und der Moment war vorbei.
»Wollen Sie sich umziehen, bevor wir weitermachen?« Doris Wetter, die Stationsschwester, machte einen Schritt auf Bea zu. Sie winkte ab; dafür war jetzt keine Zeit. Weiter ging es mit der Visite, Zimmer für Zimmer. Bea hörte sich an, was ihre Assistenzärztinnen vorbereitet hatten, sie untersuchte Patientinnen, hörte sich deren Klagen an, gab Anweisungen und ging weiter. Auf ihr bekleckertes Shirt angesprochen lächelte sie jedes Mal, auch wenn es immer gequälter wurde, denn die Zeit, die sie mit Erklärungen verschwendete, hätte sie auch zum Wechseln nutzen können. Meist blieb für die einzelne Patientin nicht mehr als ein paar Minuten Zeit. Denn danach hatte sie eine Reihe dringlicher Termine in ihrem Sprechzimmer, und nach dem Mittagessen war noch ein Tumorboard angesetzt.
Das hätte sie am liebsten geschwänzt.
Aber sie wusste, dass sie das unmöglich konnte.
Nun ja. Sie würde sich einfach vorher in der Kantine stärken und direkt im Anschluss an die Sitzung nach Hause fahren. Das konnte ihr wohl niemand verübeln, oder?
Denn sie hatte sehr wohl ein Privatleben. Oder galt es nicht, wenn man abends in eine leere Wohnung fuhr, sich etwas zu essen machte und dann vor dem Fernseher bei einem Glas Weißwein versumpfte?
Früher war das anders gewesen. Aber früher, das war vorbei, und auch Monate später tat es noch erstaunlich weh. Sie versuchte, den Schmerz runterzuschlucken, aber wie erfolgreich sie damit war, merkte sie selbst.
Gar nicht. Weil alles in dieser Klinik sie an das erinnerte, was mal gewesen war und nie wieder sein würde.
* * *
»Kannst du bei der Patientin in der 318 vorbeischauen? Sie wollte noch mal mit einer Ärztin reden.«
Bea blickte auf. Ihre Augen schmerzten. Seit Stunden starrte sie auf den Bildschirm und versuchte, all die unerledigten Dinge zu erledigen, die man immer mit dem Vorsatz vor sich herschob, sich in einer ruhigen Minute darum zu kümmern. Die – Überraschung! – nie kam, klar. Es gab immer was zu tun.
Bea seufzte.
»Hat das nicht Zeit bis zur Visite morgen früh?«
Ihre beste Freundin Lena – streng genommen ihre einzige Freundin – zuckte mit den Schultern. »Du weißt doch – ich bin nur die Nachtschwester. Erschieß nicht den Boten, ja? Und mach nicht mehr so lange. Ich will dich in zehn Minuten nicht mehr hier sehen. Ich kontrolliere das!«
Lena verschwand, ihre Schritte quietschten auf dem Gang, die Tür schlug zu.
»Ich komme gleich«, sagte Bea leise in die Stille hinein.
Wenn Lena schon ihren Dienst angetreten hatte, war es auf jeden Fall später geworden, als sie ursprünglich geplant hatte. Nach der Nachmittagssitzung hatte sie sich entgegen ihres Vorsatzes, nach Hause zu fahren, in ihrem Büro verschanzt und offenbar darüber die Zeit vergessen.
Sie schaltete den Computer aus, wechselte das Schuhwerk und tauschte Kittel gegen Mantel. Auf dem Weg zum Fahrstuhl kam sie am Zimmer 318 vorbei und klopfte.
»Herein!«
Die Stimme von Frau Zeidler klang kräftig und klar. Bea trat ein.
»Sie hatten noch eine Frage, hat mir die Schwester ausgerichtet.«
»Ach, wie schön, dass Sie vorbeischauen.« Frau Zeidler hatte sich inzwischen für die Nacht fein gemacht. Sie trug einen glänzenden Pyjama mit dunkelblauen und hellgrauen Streifen, die silbernen Haare hatte sie zu einem langen Zopf geflochten, der auf ihre Brust fiel. Das dezente Make-up war verschwunden, ihr Gesicht wirkte auch jetzt noch rosig und frisch. In ihrem Schoß ruhte eine dicke Kladde, ein Finger steckte zwischen den Seiten. »Aber Sie waren nicht den ganzen Tag hier, oder?«, erkundigte sie sich.
»Ich hatte viel zu tun«, sagte Bea etwas steif. Die Erinnerung an die stundenlange Sitzung am Nachmittag flammte kurz auf, und sie brauchte einen Moment, um die aufkommende Wut niederzuringen. Es gab so vieles, das sie wütend machte. Vor allem ihre eigene Unfähigkeit, die in ihren Augen letztlich die Schuld an all dem trug, was passiert war.
»Also, was kann ich für Sie tun?« Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich ans Bett ihrer Patientin. Das hatte ihr Stefan beigebracht. Zuhören. Aktiv zuhören. In mancher Hinsicht war er der bessere Arzt. Zu oft fiel es ihr schwer, sich auf die Patientinnen einzulassen.
»Ja, ich frage mich … Ach, das muss Ihnen jetzt ganz dumm vorkommen, aber ich frage mich eben, wo die Krankenhausbibliothek ist.«
Bea erstarrte. Darum wollten Sie eine Ärztin sprechen?
Und bevor sie sich versah, hatte sie es ausgesprochen. Frau Zeidlers Lächeln schwand, sie blickte auf ihre Hände, die rastlos über die Bettdecke wanderten.
»Ich brauche unbedingt neue Lektüre. Aber das ist nur das eine«, fuhr sie fort.
Aha, dachte Bea. Sie entspannte sich etwas. Das hatte sie oft beobachtet. Patientinnen, die ihr erst eine Frage zu einem gänzlich anderen Thema stellten, bevor sie zum eigentlichen Punkt kamen.
»Die Bibliothek ist im dritten Stock, direkt, wenn Sie aus dem Fahrstuhl kommen, auf der linken Seite.«
»Danke.« Ihre Patientin lächelte. »Das andere, also … morgen das CT. Ich mache mir Sorgen, weil ich nicht weiß, ob das … ob ich das schaffe.«
»Ein CT des Abdomens ist absolut ungefährlich für Sie, Frau Zeidler. Sie können sich gern vorher ein Beruhigungsmittel geben lassen.«
»Aber das ist diese große Röhre. Und sie ist so laut, das kennt man ja.«
»Sie meinen ein MRT. Das ist tatsächlich eine große Röhre. Beim CT aber wird Ihr Körper nur durch einen Ring geschoben. Sie liegen auf einer Trage, nur Ihr Bauch ist dann in diesem Ring. Ihr Kopf nicht.«
»Oh, ach so.« Frau Zeidler blickte auf ihre Hände. »Das ist natürlich dann etwas anderes. Entschuldigen Sie bitte meine Dummheit. Diese ganze Krankheit … Ich war nie krank und irgendwie habe ich das Gefühl, mehr Fragen zu haben, als ich Antworten bekomme.«
»Sie können immer fragen«, sagte Bea beruhigend. »Dafür sind wir da. Haben Sie noch weitere Fragen?«
»Nein. Ach, damit haben Sie mir sehr geholfen. Vielen Dank.«
Bea stand auf. In diesem Moment spürte sie die Müdigkeit. Endlich. Vielleicht konnte sie heute Nacht besser schlafen.
»Aber Sie fahren jetzt nach Hause, oder? Muss ja ein langer Tag für Sie gewesen sein. Haben Sie jemanden, der für Sie sorgt?«
»Ja, ich fahre jetzt nach Hause.« Beas Lächeln gefror. Sie wollte auf die Frage nicht antworten, sie ging ihr zu nah.
»Um mich hat sich zuletzt mein Neffe Tom gekümmert. Er ist einer von den Guten. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Der junge Mann, der Sie heute früh mit Kaffee versorgt hat?«
Frau Zeidler strahlte. »Ich weiß, eigentlich soll kein Geschirr aus der Cafeteria auf die Zimmer gebracht werden. Und das mit Ihrem Poloshirt tut ihm und mir sehr leid. Sehen Sie’s mir nach, Ihr Kaffee hier auf der Station ist wirklich grauselig, darum habe ich ihn heute früh angerufen und gebeten, mir welchen mitzubringen. Ohne guten Kaffee kommt mein Blutdruck morgens nicht hoch.«
Darüber konnte Bea dann doch wieder lachen. »Ich weiß, was Sie meinen. Ändern kann ich’s leider nicht.«
»Aber Sie drücken weiterhin ein Auge zu?«
Bea legte einen Finger auf die Lippen. »Ich schweige wie ein Grab.«
»Na, hoffen wir, nicht wie mein Grab.«
»Darüber denken wir noch lange nicht nach.«
Sie verstand die Angst ihrer Patientin, hatte sie schon so oft bei anderen ähnlich erlebt. Aber Frau Zeidlers Prognose war gut. Das sagte sie ihr auch.
»Und nun schlafen Sie. Gute Nacht, Frau Zeidler.« Bea lächelte aufmunternd. »Wenn Sie noch Fragen haben, können Sie sich an die Nachtschwester wenden. Morgen früh bin ich auch wieder hier.«
»Gute Nacht, Frau Doktor. Danke, dass Sie für mich da sind. Für mich und all die anderen Patientinnen.«
Diese Worte hatte Bea noch im Kopf, als sie im Fahrstuhl stand. Allein. Im ersten Stock stiegen zwei Schwestern ein, sie blieben vorne stehen und unterhielten sich kichernd. Als der Aufzug im Erdgeschoss hielt, schob Bea sich an ihnen vorbei. Ihr ging das alles nicht schnell genug.
Sie wollte einfach nur nach Hause. Zurück in die Einsamkeit, auch wenn die ihr genauso wenig Trost bot wie die Gesellschaft anderer.
Zum Auto laufen, durch die Kälte. Novembernebel hing zwischen den Bäumen, sie atmete die feuchte Luft ein. Sie schloss den Wagen auf, fuhr aus dem Parkhaus und lenkte ihn auf die Stadtautobahn. In zwanzig Minuten, so schätzte sie, würde sie die Wohnungstür aufschließen.
Ihr fiel erst spät ein, dass sie nichts im Kühlschrank hatte, hielt deshalb an einer Tankstelle, kaufte eine Tüte Chips und eine Flasche Wein. Tankte mehr aus Alibi-Gründen als wegen eines leeren Tanks.
Die Tür ihrer schicken Wohnung schlug hinter ihr zu. Stille. Keine tapsenden Pfoten, keine Stimme aus der Küche, die sie mit einem fröhlichen »Ich habe für uns gekocht!« begrüßte. Kein Licht, keine köstlichen Essensdüfte zogen in den Flur. Bea ließ sich auf das Sofa im Wohnzimmer plumpsen. Sie starrte auf die Stelle, wo bis vor wenigen Wochen noch ein zweites, identisches Sofa direkt gegenüber gestanden hatte. Darauf eine karierte Decke. Dort hatte Bud Spencer früher so gern gelegen.
»Geht es Bud Spencer gut?«, hätte sie Stefan gerne gefragt. Aber er war nicht mehr da. Jetzt war sie die Chefärztin, und jedes Mal, wenn sie in diesen langen Besprechungen saß und es um die Therapiepläne ihrer Patientinnen ging, vermisste sie ihn. Nicht, weil er der bessere Arzt war – denn das war er nicht. Sie waren immer ebenbürtig gewesen, und vielleicht hätte sie ihn irgendwann sogar überflügelt.
Nein, sie vermisste ihn, weil bei ihm die menschliche Komponente niemals zu kurz kam.
Zu viele Ärzte, das hatte er ihr immer wieder erklärt, waren so erpicht darauf, den Körper um jeden Preis zu heilen, dass sie die Seele vergaßen. Die Psyche, korrigierte sie ihn sanft. Nein, erwiderte er, schon die Seele. Das sei nämlich was anderes, zumindest wenn es um Krankheiten ginge. Ein gesunder Geist im gesunden Körper – so.
Wenn das so war – was war sie dann? Ein gesunder Körper ohne gesunden Geist?
Jedes Mal, wenn sie den Vorsitz im Tumorboard führte und die Kolleginnen ihre Fälle vortrugen, dachte sie an Stefan. Die Enttäuschung in seinem Blick, als er ging. »Du wolltest dich nie unterordnen«, sagte er betrübt.
»Wir sind uns zu ähnlich«, hatte sie geantwortet. Beide wollten die Besten auf ihrem Gebiet sein – und da sie auf demselben Gebiet arbeiteten, musste einer von ihnen schließlich gehen.
Stefan war an ein anderes Klinikum gewechselt. Größer. Prestigeträchtig. Das ihm die Forschung bezahlte, die er neben seiner Arbeit als Chefarzt betrieb. Sie hätte mitkommen können – er hatte darauf bestanden, dass für sie eine zusätzliche Stelle als Oberärztin geschaffen wurde. In dem Klinikum wollte man ihn so sehr, sie hätten ihm auch einen mit Goldfäden durchwirkten Teppich ausgerollt oder sogar Bea darin eingerollt, wenn es in ihrer Macht gestanden hätte.
Stattdessen bewarb sie sich auf die vakante Chefarztstelle, die durch Stefans Weggang an ihrer Klinik frei wurde – und man gab ihr den Vorzug vor Carsten Holler. Weil sie die Arbeit von Stefan fortführen konnte.
Aber für ihn war dies ein Vertrauensbruch – der letzte in einer langen Reihe, wie sie erfahren musste, als er sie zur Rede stellte.
»Du hättest alles haben können«, hatte er zum Abschied gesagt, bevor er seine Wohnungsschlüssel auf den Küchentresen legte. »Wenn ich in zehn Jahren in Ruhestand gegangen wäre, hätte das alles dir gehören können, was wir uns gemeinsam aufgebaut hätten.«
Das war es eben.
Sie hätten es vielleicht gemeinsam aufgebaut. Dr. Stefan Heinemann, Dr. Bea Heinemann.
Aber sie wäre immer nur an zweiter Stelle genannt worden. Als sein Anhängsel. Als die Frau, die mit ihm aufstieg, nicht als die Ärztin, die aus eigener Kraft etwas schuf. Selbst wenn sie es gewollt hätte – es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, so weiterzumachen.
Deshalb konnte Stefan gar nicht weitermachen. Und die Trennung, die darauf folgte, war vermutlich der sauberste Schnitt, den zwei Ärzte vollziehen konnten. Alles wurde hälftig geteilt, und wenn sie nicht genau wussten, was wem gehörte, losten sie. Bea war sich ziemlich sicher, dass das Schachspiel im kleinen Arbeitszimmer auf dem Tisch Stefan gehörte – aber als er Anspruch darauf erhob, wollte sie es auch haben, und beim Losen gewann sie. Ein letzter Pyrrhussieg. Denn danach war alles verloren, was sie einst gewesen waren.
Am meisten schmerzte sie, dass Bud Spencer fort war. Niemand, der ihr die Füße wärmte. Der morgens nach dem Weckerklingeln verbotenerweise in ihr Bett hüpfte und im Herbst mit schlammigen Pfoten durch alle Räume flitzte, bevor sie ihn einfangen und in die Badewanne stecken konnte. Sie vermisste den Hund mehr als den Mann, mit dem sie immerhin schon ein paar Jahre vor dem Spaniel Tisch und Bett geteilt hatte. Und an Abenden wie dem heutigen wurde aus dem Vermissen ein nagender, blöder Schmerz, gegen den sie nicht anders ankam, als zum Telefonhörer zu greifen.
»Hey Kleines.«
Sie atmete tief durch. »Hi Stefan. Wie geht es euch?«
»Oh, bestens. Wir haben es uns gerade gemütlich gemacht. Wie geht’s dir? Alles gut bei dir?«
»Alles bestens. Nur ein bisschen still hier. Wie geht es Bud Spencer?«
»Er verspeist gerade einen dieser stinkenden Pansendinger, die du ihm bei deinem letzten Besuch geschenkt hast. Ich habe schon verstanden, du hasst mich, weil er bei mir ist. Aber ganz normale Kauknochen hätten es auch getan.«
Sie lachte zitternd aus. »Davon muss er aber immer so pupsen.«
»Ach ja, die Pupser. Okay, dann lieber Pansen.«
Sie schwiegen einen Moment, und sie hörte ihn durch die Leitung atmen.
»Kommst du am Wochenende und holst ihn?«
»Ja klar. Samstag um acht?«
Daran hielt sie sich fest – alle zwei Wochen holte sie Bud Spencer fürs Wochenende zu sich. Das waren die schönsten Tage im Monat. Als wäre der Hund ihr gemeinsames Kind, dessen Sorgerecht sie sich teilten.
»Samstag um acht«, bestätigte Stefan. »Möchtest du hier frühstücken?«
Das bot er jedes Mal an – gerade so, als würde sie irgendwann nachgeben und zum Frühstück bleiben.
»Danke, nein. Wir brechen dann sofort auf. Ich möchte mit ihm an die Ostsee.«
»Das wird ihm gefallen.«
Die Ostsee war ihr Seelenort, wo sie Kraft tanken konnte. Stundenlang am Strand entlanglaufen, mit dem Wind im Haar und den Wellen an ihrer Seite, während Bud Spencer durch die Gischt rannte, Stöckchen holte. Danach wärmten sie sich in einem Café auf. Sie genoss Tee und Torte, während der kleine braune Spaniel zu ihren Füßen auf seiner Decke schlief.
»Du bist hier jedenfalls immer willkommen. Auch Sonntag, wenn du ihn zurückbringst.«
»Ja«, sagte sie, ohne auf das Angebot einzugehen.
Sie verabschiedeten sich; es fiel ihr schwer, weil es danach wieder so still war, zugleich aber hatte sie ihm nichts mehr zu sagen.
Bea versuchte zu lesen, aber auch daran war ihr der Spaß vergangen. Sie war müde. Alles machte sie müde, nicht nur die Arbeit, auch das Leben dazwischen. Trotzdem blieb der Schlaf ein flüchtiger Gast in ihrem Bett, und als sie Stunden später aufgab und wieder aufstand, um sich einen Tee zu kochen, fielen ihr die Worte von Frau Zeidler wieder ein.
Danke, dass Sie für mich da sind. Für mich und die anderen Patientinnen.
Und wer ist für mich da?, dachte sie.