Kapitel 2

»Wenn ich mal Pläne mache …«, murmelte Bea. Vier Tage später, nach einer überaus anstrengenden Woche, saß sie im Auto und starrte auf die rot leuchtenden Rücklichter der sich endlos vor ihr erstreckenden Reihe an Autos. Die Ampel ganz weit vorne sprang auf Grün, dann sofort wieder auf Rot, kaum dass drei Fahrzeuge über die Kreuzung kriechen konnten.

»Wir sitzen hier wohl fest, Bud Spencer.«

Ihr Hund saß auf seiner karierten Decke auf dem Beifahrersitz, gesichert durch sein entsprechendes Geschirr. Er kläffte und hechelte aufgeregt. Bud Spencer liebte Autofahrten. Alle Versuche, ihn im Laufe der Jahre in eine sichere Box im Kofferraum zu stecken, waren an ihren eigenen Nerven gescheitert – sie hielt sein jämmerliches Heulen einfach nicht länger als fünf Minuten aus. Nur vorne direkt neben ihr war er gut gelaunt.

»Müssen wir uns wohl in Geduld üben.« Sehnsüchtig blickte sie auf die Gegenfahrbahn, auf der die Fahrzeuge munter auf die Autobahn Richtung Ostsee auffuhren. Dort wäre sie jetzt auch gerne.

Und das hätte auch alles geklappt – wenn sie nicht einen entscheidenden Fehler gemacht hätte.

Sie war ans Telefon gegangen.

An einem Samstagmorgen.

Weil der Name ihrer Mutter aufblinkte.

Bei einer ihrer Schwestern hätte Bea den Anruf schlicht ignoriert, denn sie hatte mit keiner der drei ein so inniges Verhältnis, dass sie sich auch nur durch fünf Minuten Plauderei von ihrem Ziel abbringen ließ – und das hieß: ans Meer. Das Wetter war nämlich überraschend schön – kalt zwar, aber der Himmel blau und blank geputzt, die Sonne strahlte und brachte den Raureif an den Büschen und Bäumen am Straßenrand zum Glitzern.

»Du musst Alix helfen«, meldete sich ihre Mutter Claire ohne Umschweife. Direkt zur Sache, so kannte Bea sie sonst nicht. Ihre Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.

»Guten Morgen, Maman. Schön, dass es dir gut geht.« Bea saß noch auf dem Sofa, ihre Hände um den Becher Kaffee geschlossen, den sie sich gerade aufgebrüht hatte. Dazu las sie ganz entspannt und – wie sie selbst zugeben musste – ziemlich altmodisch ihre Wochenendzeitung, die jeden Samstagmorgen in ihrem Briefkasten wartete.

»Du hast doch heute nichts vor, non

Wenn ihre Mutter aufgeregt war, kam die Französin in ihr immer wieder durch.

»Doch, zufällig schon.«

»Aha, was denn? Ich dachte, es ist dein freies Wochenende?«

Die Inquisition war nichts dagegen.

»Ich habe heute und morgen Bud Spencer.«

»Aber das macht doch nichts! Perfekt. Du kannst ihn einfach mitnehmen.«

Bea wehrte sich. Sie versuchte es zumindest, doch all ihre Argumente wurden von ihrer Mutter sofort entkräftet. Warum sie nicht selbst hinfahre, wenn Alix Hilfe brauchte? »Wir sind seit Monaten schon verabredet und fahren gerade zu unseren Freunden nach Regensburg. Gustav hat sich so darauf gefreut.« Nun gut. Aber was war mit ihren Schwestern Jette und Rosa? Konnte von denen keine helfen?

»Meinst du, ich hätte dich angerufen, wenn die beiden Zeit hätten?«

Touché.

»Aber nur heute! Morgen habe ich andere Pläne.«

»Danke, danke, meine Liebe. Ich wusste, auf dich kann ich mich verlassen. Du weißt doch, ich bin in Sorge um unsere Alix, sie soll sich schonen. Und jetzt ist Max das Wochenende nicht da, irgendein Keks-Notfall so kurz vor Weihnachten, er musste nach Nürnberg deswegen. Und euer Großcousin Hannes ist auch verschwunden, wer weiß wohin. Ich finde das unverantwortlich, jetzt ist sie mit Tante Barbara ganz allein auf dem Hof und hat noch den Hofladen an der Wange, aber auf mich hört ja keiner.«

Bea versuchte, sich ein Kichern zu verkneifen, weil Maman wieder mal ein Sprichwort etwas kreativ auslegte. Zugleich bemühte sie sich um Nachsicht. Ihre Mama war aufgeregt, verständlich. Immerhin hatten sich mit Alix’ Nachwuchs endlich Enkelkinder angekündigt, noch dazu im Doppelpack. In gewisser Weise dürfte Bea ihrer jüngeren Schwester auch dankbar sein, denn ihr blieb zumindest vorübergehend die Frage erspart, ob sie denn nie Kinder haben wollte. Wobei ihr seit ihrer Trennung von Stefan ohnehin der Mann fehlte, der nach Meinung ihrer Mutter dazugehörte, wenn man eine Familie gründen wollte.

Die Antwort lautete übrigens: Nein. Keine Kinder, bitte. Und daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern, es brachte also nichts, die Frage alle halbe Jahre auf einem Familienfest wieder aufzutischen. Nach Stefan und Beas Trennung hatte Mama Claire ganz außer sich geschluchzt: »Aber jetzt wirst du nie Kinder bekommen!« Als ginge das nur im Rahmen einer Ehe. Bea hatte die Diskussion darüber dann doch lieber nicht geführt, sondern lediglich hilflos mit den Schultern gezuckt.

Offensichtlich war an diesem sonnigen Samstag Anfang November halb Hamburg auf dem Weg ins Alte Land. Als Bea eine halbe Stunde später ihren Wagen auf einen ausgewiesenen Parkplatz vom Apfelhof lenkte, auf dem Alix seit diesem Sommer wohnte, stapelten sich dort bereits die Autos mit Hamburger Kennzeichen. Sie musste ein paar Minuten warten, bis eine Lücke für sie frei wurde. Hinter ihr hupte schon jemand ungeduldig, dem hätte sie ja gern was erzählt. Ließ es aber, es hätte ohnehin keinen Zweck.

Hübsch war es auf dem Apfelhof. Es war ihr erster Besuch hier – die Eröffnung vor ein paar Wochen hatte sie ebenso ignoriert wie alle Einladungen, die Alix in der Familiengruppe ausgesprochen hatte, seit sie auf dem Hof wohnte.

Das Ständerwerk des Haupthauses war aus wunderschönem Buntmauerfachwerk. Gekrönt wurde dieses von den kunstvollen Giebelzierden, die strahlend weiß gestrichen waren. Bea stieg aus, Bud Spencer hatte es so eilig, dass er, kaum dass sie ihn aus dem Geschirr befreit hatte, über den Fahrersitz purzelte und draußen beinahe in einer Pfütze landete.

Sie näherte sich dem Haupthaus, nahm den Spaniel auf den Arm und drückte ihn kurz an sich. Schön, dachte sie. Bud Spencer zappelte, sie ließ ihn herunter, immer noch ganz vertieft in den Anblick des Hauses. Jedes Fach war anders gestaltet, dadurch wirkte die ganze Fassade gerade so, als erzählte sie dem Besucher eine Geschichte.

»Sie stehen im Weg.«

Sie trat beiseite. Bud Spencer blieb stumpf stehen und blickte zu dem Mann auf, der sich gerade zwischen ihnen durchschieben wollte, was allerdings von der Leine erfolgreich verhindert wurde.

»’tschuldigung.« Bea zog Bud Spencer zu sich heran und nahm ihn wieder auf den Arm. »Oh nein, Sie schon wieder!«

Ihr Gegenüber lachte. »Dasselbe könnte ich auch sagen.«

Vor ihr stand jener attraktive Kerl, der sie vor ein paar Tagen in Margarete Zeidlers Patientinnenzimmer mit Kaffee bekleckert hatte. Heute hielt er kein Tablett in den Händen, sondern drei übereinandergestapelte Kartons.

Bea spürte, wie sich ihre Wangen rosig verfärbten.

»Kommen Sie häufiger hierher?«, erkundigte er sich. Er ging neben ihr in Richtung Hofladen.

»Ist heute mein erster Besuch. Das hier gehört meiner Schwester.«

»Ah«, machte er.

Sie folgte ihm ins Gebäudeinnere und runzelte die Stirn. Sie hätte gern etwas Geistreiches gesagt, das die Tür zu einem Gespräch aufstieß, aber ihr war auf die Schnelle nichts eingefallen, und er beschleunigte seine Schritte bereits.

Auf der Deele herrschte Betriebsamkeit. Die Kundinnen des kleinen Hofladens drängten sich um die Apfelstiegen, die großen Boxen, aus denen sie selbst ihre Apfelkörbe zusammenstellen durften. Über allem thronte eine alte Dame in einer dick wattierten, dunkelblauen Jacke, die flink auswog und kassierte. Linker Hand führte eine niedrige, grün gestrichene Tür in den Verkaufsraum. Hier gab es weitere Spezialitäten vom Apfelhof, die in Regalen aufgereiht standen. Flaschen mit Säften, Most und Likör, Gläser mit Marmeladen und Chutneys, in offenen Schütten lagen Seifen, die ihren betörenden Duft verströmten. Die Wände waren geweißt, Reifblumen wuchsen an den äußeren Fensterscheiben empor.

»Bea!« Ein Aufschrei, dann stürzte ihre Schwester Alix hinter dem Kassentisch hervor, ungeachtet der Kundinnen, die davor geduldig in einer Schlange warteten, bis sie ihre Einkäufe bezahlen durften. Alix umarmte Bea und Bud Spencer, der sofort aufgeregt kläffte und versuchte, ihrer Schwester zur Begrüßung durchs Gesicht zu schlecken. Verräter, dachte Bea. Das machte er sonst nur bei Stefan und ihr.

»Himmel, das ist eine schöne Überraschung. Ich hab Mama gesagt, sie soll dich lieber in Ruhe lassen, irgendwie schaffen wir das schon. Aber seit heute früh um neun ist hier der Teufel los.« Sie lächelte ihren Kundinnen entschuldigend zu. »Ich bin sofort wieder bei Ihnen.« Sie hakte sich bei Bea unter. »Du kennst ja unsere Mutter.«

Ja, und Alix kannte wiederum Bea. Deshalb sollte sie wissen, wie unwohl sie sich gerade fühlte.

»Ich kann aber nicht den ganzen Tag bleiben.« Sie schaute sich etwas hilflos um.

»Ach, musst du gar nicht. Zwei bis drei Stunden reichen auch. Du kannst kassieren. Die Preise stehen überall drauf.« Alix schob sie hinter die Kasse, zeigte ihr auf die Schnelle, was zu machen war. »Bin gleich wieder da, ich muss gerade den Honig quittieren, den ich vor Wochen bestellt habe.«

Sie schlüpfte hinter dem Kassentisch hervor. Bea drehte sich zu ihr um – ihre Schwester ging auf den großgewachsenen Neffen von Frau Zeidler zu und begrüßte ihn. Honig war also in den Kartons, aha.

»Haben Sie noch mehr von dieser Lavendelseife?« Die nächste Kundin hielt Bea ein Seifenstück so dicht unter die Nase, als wollte sie einen Schmutzfleck wegseifen.

»Ähm, ich schaue gleich mal.«

»Und haben Sie auch einen Beutel?«

Bea setzte Bud Spencer auf den Boden. Er floh mit eingekniffenem Schwanz unter den Kassentisch, so viele Fremde um sich herum mochte er nicht. I feel you, Kumpel, dachte sie. Das hier war etwas völlig anderes als ihre Arbeit im Krankenhaus, wo die Patientinnen brav zum Termin erschienen, eine nach der anderen. Zumal sie in der Klinik in ihrem Element war, dort kannte sie sich aus. Hier verknotete sie sich fast die Finger beim Eintippen der Preise in die Registrierkasse.

»Wo ist denn jetzt mein Beutel?«, fragte die Kundin, eine pausbäckige und hübsche Endfünfzigerin mit irisch roten Locken. Bea schaute unter dem Tisch nach, fand eine Papiertüte, auf der die Front des Haupthauses aufgedruckt war, darunter stand »Der Schliekerhof – Äpfel und mehr«.

Es dauerte nicht lange, bis Bea die einzelnen Handgriffe verinnerlicht hatte. Kassieren, verpacken, Geld entgegennehmen, Rückgeld rausgeben. Kurz darauf war Alix schon zurück. »Einmal mit Profis«, murmelte ihre Schwester.

»Ich hoffe, das bezieht sich nicht auf mich.«

»Was? Ach nein, Bea. Gar nicht. Ich hatte gerade Ärger mit einem Lieferanten, der hat mich ewig auf seine Ware warten lassen.« Sie war ein bisschen blass um die Nase, doch als Bea fragte, ob alles okay sei, schüttelte sie nur den Kopf. »Geht schon.«

Gemeinsam ging es doppelt so schnell – Alix’ Finger flogen über die Kassentasten, während Bea verpackte. Langsam löste sich der Kundinnenstau.

»Geht’s wieder?«, erkundigte Bea sich, sobald sie eine kleine Verschnaufpause hatten. Alix genehmigte sich aus einer dickbauchigen, tongrauen Tasse einen Schluck Tee, der bestimmt höchstens lauwarm war.

»Ja klar, alles prima. Ich räume mal ein bisschen Ware nach. Verrückt, ausgerechnet heute rennen sie uns die Bude ein.«

»Ich meinte eher, ob es dir körperlich gut geht.« Alix trug unter der dunkelgrünen Schürze, die ebenfalls das Logo des Apfelhofs zierte, eine Umstandslatzhose und einen currygelben Pullover. Die blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Unter Schürze und Latzhose wölbte sich, wenn man ganz genau hinschaute, bereits ein kleiner Babybauch.

»Geht schon«, meinte sie.

»Geht schon reicht nicht. Hier.« Bea schob ihre Schwester auf den Holzstuhl, der hinter der Kasse stand. »Lass mich jetzt mal machen, okay?«

»Okay …« Irrte sie sich oder war Alix’ Lächeln dankbar?

Na, wie auch immer. Wenn sie schon hier war, konnte sie auch mit anpacken. Bud Spencer hatte inzwischen auch kapiert, dass aus seinem Spaziergang am Meer vorerst nichts werden würde. Er rollte sich neben dem Stuhl auf einem Stapel Leinentaschen ein und schlief erst mal eine Runde.

Die nächsten drei Stunden herrschte noch viel Geschäftigkeit, und Bea machte eine erstaunliche Beobachtung: Es tat ihr gut. Dieses Wühlen und Kramen, Kassieren und Beraten, der Kontakt mit Menschen, ganz anders als in ihrem Job. Niemand hatte Angst vor dem, was sie sagte. Nur gelegentlich griff sich ein Ehemann eher scherzhaft ans Herz, wenn sie die Gesamtsumme dessen nannte, was er sich zusammen mit seiner Frau ausgesucht hatte. Alle waren fröhlich, gelassen und entspannt. Erst in diesem Moment erkannte Bea, wie es den Patientinnen und Angehörigen im Krankenhaus wirklich gehen musste – wie viel Druck jedes Gespräch mit ihr als Ärztin mit sich brachte. Theoretisch sollte sie sich das vor jedem Patientinnengespräch bewusst machen. Praktisch war es etwas, das ihr im hektischen Klinikalltag allzu schnell verloren ging.

Darauf will ich mehr achten, dachte sie.

Am frühen Nachmittag wurde es ruhiger. Tante Barbara, die bisher draußen über den Apfelverkauf gewacht hatte, kam herein und brachte Kaffee für alle.

»Guck mich nicht so an«, sagte Alix und warf Bea einen bitterbösen Blick über den Rand ihres dunkelblauen Steingutbechers zu. Doch dann grinste sie schon wieder. Alix, die Fröhliche, die Unerschütterliche.

»Wie gucke ich denn?«, fragte Bea unschuldig.

»Als würde ich die Babys umbringen, nur weil ich einen Kaffee trinke.«

»Oh, sorry.« Vielleicht war ihr Blick tatsächlich eine Spur zu streng gewesen. »Ich staune, wie gut du das alles hinbekommst. Vor einem halben Jahr warst du noch Parfümeurin, und jetzt stehst du in diesem Hofladen, als hättest du nie was anderes gemacht.«

»Du dachtest ja schon, mit der Entscheidung, als Parfümeurin zu arbeiten, hätte ich mein Talent verschenkt.«

»Hm«, machte Bea. »Touché.«

Alix war mindestens so schlau und talentiert wie Bea, sie hätte eine gute Medizinerin abgegeben. Das war Beas Meinung, bisher hatte sie die auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit verkündet. In ihren Augen hatte Alix mit der Laufbahn als Parfümeurin ihr Talent verschwendet.

»Was denkst du dann erst jetzt von mir? Ich verkaufe Obst und Seifen.«

Bea zuckte mit den Schultern. »Ist doch egal, was ich denke.«

Bevor Alix etwas antworten konnte, trat eine Kundin an die Kasse. Bea nahm ihr das kleine Körbchen mit den Seifen ab und zog die Summe zusammen. Ihre Schwester verschwand in dem kleinen Lagerraum, der mit einem bunten Vorhang vom Verkaufsraum abgetrennt war, und kam mit einem Karton zurück.

Irgendwie hatte sich die Stimmung geändert. Nicht mehr so übermütig, weil sie als Schwestern etwas gemeinsam machten. Das kam selten genug vor, weshalb sogar etwas so Profanes wie die Arbeit in diesem pittoresken Lädchen sie in den letzten Stunden mit einer fast ausgelassenen Fröhlichkeit erfüllt hatte.

Vielleicht auch, weil sie für diese kurze Zeit ihre eigenen Probleme hatte vergessen können.

In den letzten Monaten war bei ihr so viel passiert. Der neue Job. Die Trennung von Stefan. »Tut mir leid, wenn ich immer so … hm. Streng war.«

»Wow, das ist ja fast eine Entschuldigung.« Alix stellte den Kaffeebecher beiseite. Sie stopfte sich ein Stück Apfelkuchen in den Mund, stand auf und reckte sich. »Ist das die anstehende Scheidung, die dich so weich macht?«

Bea wollte schon protestieren. Aber na ja, es war nicht von der Hand zu weisen – sie war ihrer Schwester gegenüber oft ungerecht gewesen.

»Schade übrigens, dass ich das von Mama erfahren musste. Also, dass ihr geheiratet habt, das hatte uns ja damals schon alle überrascht. Aber dann hat man euch selten gesehen, fast nie zusammen. Ich dachte schon, er wäre ein Phantom.«

»Wir haben viel gearbeitet«, sagte Bea lahm. Sie wusste, wie das klang. Als wäre Familie für sie nie wichtig gewesen. Sogar zu der Rubinhochzeit ihrer Eltern war sie damals allein gekommen, da hatte es schon immer wieder gekriselt, ohne dass sie sich das hatte eingestehen wollen. Letztlich war Stefans neuer Job und ihr daraus resultierender Aufstieg nur ein Symptom gewesen, nicht die Ursache ihrer Trennung. Innerlich hatten sie die wohl schon viel früher vollzogen, ohne es zu merken.

Sie schluckte. Stand auf, trat an das kleine Fenster. Wie gerne hätte sie jetzt geheult. Nicht, weil sie Stefan vermisste. Oder das Leben mit ihm.

Weil sie so verdammt einsam war.

»So, weiter geht’s.« Alix hatte ihre Gefühlswallung entweder nicht bemerkt oder war so taktvoll und überging sie. »Nicht, dass wir noch gefühlsduselig werden. Guck mal hier, damit will ich unser Sortiment erweitern.«

Bea drehte sich um. Ihre Schwester hatte den Karton geöffnet und holte mehrere Gläser heraus. Dunkles Gold funkelte darin, so verführerisch! Bea konnte ihn fast schmecken.

»Der Honig kommt von einer Imkerei aus der Region. Die Imkerin ist sehr engagiert, aber ich musste ewig auf diese Lieferung warten.« Sie studierte das Etikett, gab dann das Glas an Bea weiter. »Hübsch, nicht wahr?«

Packpapierbraune Aufkleber. »Zeidlers Bienenschwarm – Thymianhonig« stand darauf. Ein paar Bienen drum herum, im Hintergrund ein alter Bienenkorb. Sehr ansprechend, fand Bea.

»Ja, kenn ich.«

»Ach, woher?«

Bea biss sich auf die Unterlippe. »Hab schon mal davon gehört.«

Fast hätte sie gesagt, die Imkerin sei krank und habe deshalb wohl ihren Neffen geschickt, aber sie bremste sich. Ärztliche Schweigepflicht.

»Tolles Design«, sagte sie daher nur und gab Alix das Glas zurück.

»Im Moment findet da wohl ein Generationenwechsel statt, deshalb die Verzögerung. Na ja, jetzt ist der Honig ja da. Sie vermieten auch ihre Bienen. Wir überlegen, ob das für kommendes Frühjahr für uns interessant ist. Also für die Äpfel. Aber da muss man ja sehr behutsam vorgehen, sagt Hannes. Wenn es zu viel Stress für die Bienen ist, lassen wir es lieber bleiben.« Alix holte unter dem Tisch einen Preisauszeichner heraus, während sie redete.

»Wo steckt eigentlich unser Wundercousin Hannes?«, erkundigte sich Bea.

Alix stellte den Preis für den Honig ein und begann, die einzelnen Gläser auszupreisen.

»Hannes? Ach. Er hat Liebeskummer. Wieder mal, immer noch.« Alix seufzte. »Also ist er gestern überstürzt nach Venedig gefahren.«

»Venedig? Warum ausgerechnet Venedig?«

»Weil Venedig absäuft und Rosa die Stadt ein letztes Mal sehen wollte, bevor es dort nichts mehr zu sehen gibt.«

»Rosa. Du meinst unsere Schwester Rosa? Sie sind zusammen dort?«

Alix zuckte mit den Schultern. »Sag ich doch. Das mit Hannes und Rosa ist seit dem Sommer ein ständiges Hin und Her. Wobei Rosa eher diejenige ist, die sich zurückzieht, und er läuft ihr nach wie ein treudoofer Hund.« Alix blickte zu Bud Spencer, der auf dem Taschenberg leise im Schlaf schnaufte. »Nichts für ungut. Die beiden sind erwachsen, sollen sie machen, was sie für richtig halten.«

Damit war das Thema für Alix erledigt. Und die nächsten Kundinnen standen schon vor ihnen, deshalb ließ Bea es auch für den Rest des Tages ruhen.

* * *

Nichts klappte so, wie er sich das vorgestellt hatte. Tom Zeidler fluchte, schnaufend wuchtete er den Honigeimer wieder in den Kofferraum seines kleinen roten Kastenwagens. Seit Wochen lag ihm Tante Margarete in den Ohren, er müsse endlich den Honig abschöpfen, filtern und abfüllen, dann etikettieren und in Kartons verpacken, bevor die Weihnachtsmarktsaison losging. Und bloß nicht vergessen, die bereits vorliegenden Bestellungen auszuliefern, die sie in ihrem roten Auftragsbuch notiert hatte! Aber Anfang November, da konnte er sich noch gar nicht vorstellen, dass bald Weihnachten war.

Heute hatte er sich immerhin dazu aufgerafft, die Bestellungen auszuliefern. Drei Kartons von »Zeidlers Bienenschwarm« mit je einem Dutzend Gläser Honig gingen an Schliekers Apfelhof. Dort gab es seit Kurzem einen kleinen, florierenden Hofladen. Die Besitzerin bedankte sich bei ihm für die Lieferung, stopfte die Rechnung in die Brusttasche ihrer Latzhose und war so schnell wieder im Getümmel verschwunden, dass er sich ziemlich blöd vorkam.

Nun gut. Dann eben nicht.

Er lieferte auch noch die anderen Bestellungen aus. Und jetzt also die Honigeimer. Sie standen seit dem Sommer versiegelt im Schuppen, sorgfältig etikettiert. Seit August hatte seine Tante kaum mehr gearbeitet, im Grunde war das meiste an ihm hängengeblieben. Erst war sie zu müde gewesen, dann die vielen Arztbesuche und nun, quasi als krönender Abschluss, der Aufenthalt in der Klinik. Und so gerne er sich dem Imkern auch widmete – manche Aufgaben fand er einfach nicht so spannend. Honig abzufüllen gehörte definitiv nicht zu seinen Favoriten.

Sobald Tante Margarete aus dem Krankenhaus kam, musste er mal ein ernstes Wort mit ihr reden. Zum Beispiel darüber, wie sehr ihn ihre Vorgaben hemmten. Es war ihre Idee gewesen, dass er sich während ihrer Abwesenheit um die Bienen kümmerte – eine vorgezogene Nachfolge, wenn man so wollte. Etwas, worüber sie schon lange beide nachgedacht hatten, aber bisher hatten sie keine Schritte zur Umsetzung unternommen. Bis sie vor wenigen Wochen zu ihm kam und ihm erklärte, die Bienen könnten ihm gehören, wenn er wollte.

Natürlich wollte er.

Die Bienen begleiteten ihn schon sein ganzes Erwachsenenleben lang, seit er damals mit achtzehn die Schule geschmissen und aus Mangel an Alternativen aus seinem Elternhaus zu Tante Grete geflohen war. Sie ließen ihn mitarbeiten, und auch wenn er als unerfahrener Bursche einfach noch kein Verantwortungsbewusstsein besaß, hatte sich die Liebe zu den Bienen wie ein Stachel in sein Herz gebohrt und war geblieben.

Zuletzt hatte er hier nach all den Vagabundenjahren so etwas wie Wurzeln geschlagen, doch wann immer Tante Grete davon anfing, wie es weiterging, wenn’s mit ihr aufhörte, hatte er erst nicht zuhören wollen. Er war ein Zeidler, sie würde ihm das durchaus zutrauen, dass er die Imkerei übernahm. Ihre Worte.

Aber dann sollte sie ihn auch machen lassen und ihn nicht jede Woche wie einen ungezogenen Schuljungen ins Krankenhaus zitieren, wo sie ihm dann Hausaufgaben gab, die er eher als Strafarbeit empfand.

»Du musst kontrollieren, welche Beuten von der Varroamilbe befallen sind«, hatte sie ihm diese Woche mit auf den Weg gegeben. »Das ist ganz einfach.« Es folgte eine lange Erklärung. Und als sie ihn fragte, ob er sich nicht Notizen machen wollte, hatte er etwas hilflos im Krankenzimmer um sich geblickt, die Hände gehoben und den Kopf geschüttelt. »Du sagst doch selbst, so schwer ist das nicht.« Außerdem hatte er ihr letzten Winter schon dabei geholfen. Er war ja nicht dumm.

Sie seufzte. »Ruf mich an, wenn du Bescheid weißt. Bitte. Wenn wir nicht aufpassen, haben wir nächstes Jahr nur noch halb so viele Völker. Ohne den Frost gehen die Königinnen nicht aus der Brut, das kann fatale Auswirkungen haben. Ich habe schon einmal fast alles verloren.«

Er verstand ja ihre Angst. Und doch wieder nicht. Denn wie sie da so winzig in ihrem Krankenhausbett lag, so schwach und müde – nichts war mehr von der energischen Frau übrig, die ihm seit über einem Jahr das Imkern beibrachte –, da war er sich ziemlich sicher, dass sie nicht das volle nächste Jahr erleben würde.

Wobei er immer noch nicht wusste, wie ernst es um sie stand, denn jede seiner Fragen nach ihrem Gesundheitszustand bügelte sie ab. »Wird schon«, behauptete sie.

Na ja. Soweit es halt wieder werden konnte, wenn jemand auf der Onkologie lag. Er hatte schon seine Mutter an diese heimtückische Krankheit verloren. Würde ihn nicht wundern, wenn es bei Tante Margarete irgendwann auch ganz schnell ging.

Er hatte fünf Eimer mit Honig in der Werkstatt aufgestellt, alle aus der Sommertracht, alle mit Lindenblüte, so stand es jedenfalls auf dem Etikett. Auf dem Honig hatte sich etwas Weißes, Schaumiges gebildet. Schimmel? Konnte Honig schimmeln?

Lieber direkt wieder zumachen. Morgen war auch noch ein Tag, fand Tom. Er schloss die Werkstatt ab und ging durch den Garten zu dem kleinen Häuschen, in dem er vorübergehend wohnte. Vorübergehend – alles war irgendwie vorübergehend in seinem Leben. Aber er war fest entschlossen, dass aus diesem Provisorium etwas Festes wurde. Eine Existenz. Er war neununddreißig und merkte, dass es ihm nicht länger behagte, sich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten zu hangeln. Er hatte viel gesehen, viel erlebt. Zeit, zur Ruhe zu kommen.

Auf dem Weg zum Haus blieb er stehen. Zwischen den Obstbäumen von Tante Margaretes weitläufigem Garten sah er hinten am Waldrand die Beuten stehen. Etwa vierzig waren es, in verschiedenen bunten Farben gestrichen. Jetzt im Winter ruhten die Bienen, sie bildeten ein Wintervolk. So hatte Tante Grete es ihm erklärt. Dicht zusammengedrängt in einer Traube hockten die Bienen aufeinander, beschützten und wärmten ihre Königin, lebten von den Vorräten, die sie im Sommer angelegt hatten.

Winterruhe. Stille. Keine Bienen flogen ein und aus. Es war, als würden sie schlafen.

Aber war es dann nicht schädlich, wenn er sie störte, nur um nach diesen Milben zu schauen?

Tante Grete hatte ihm auch das gezeigt. Wie man die sogenannte Windel unter die Beute schob, sieben Tage wartete und die Milben auszählte. Danach ließ sich die Stärke des Befalls einschätzen. »Denn ein Volk ohne Befall wirst du kaum finden«, hatte sie ihm erklärt.

Das war im Sommer gewesen, und Tante Grete war schon so müde von ihrer Krankheit, dass sie zusammen auf dem alten Kinderschlitten saßen und sie sich sogar ein bisschen bei ihm anlehnen musste. »Wenn zu viele Varroamilben auf dem Stock sitzen, kannst du alles verlieren.«

Sie hatte ihm aber auch erklärt, dass es im Winter meist nicht zu einer Beschleunigung des Befalls kam, denn die Milben legten ihre Eier zu den Bienenlarven in die Waben, wo sie dann mit ihnen heranwuchsen. Im Winter stellte die Bienenkönigin nach dem ersten Frost ihre Legetätigkeit ein, bis es im Februar wieder heller und wärmer wurde.

Er gab sich einen Ruck und traf eine Entscheidung.

»Schlaft gut«, flüsterte er. »Ich kümmere mich im Frühjahr wieder um euch.«

* * *

Am späten Abend, als Bea nach Hause fuhr, bog sie plötzlich einem Impuls folgend Richtung Klinik ab. Ihr war etwas eingefallen.

Frau Zeidler.

Sie erinnerte sich, wie sie vor vier Tagen abends noch bei der Patientin gesessen hatte und ihr die Angst vor dem CT nehmen wollte. Wie sie dann vorgestern nicht dazu kam, mit ihr den Befund zu besprechen, weil es zu viel anderes zu tun gab. Stattdessen hatte sie eine Assistenzärztin geschickt, die sicher ihren Job gut gemacht hatte. Trotzdem. Irgendwas nagte an ihr. Ein Gefühl von Verantwortung für diese eine Patientin.

»Du bleibst im Auto«, sagte sie zu Bud Spencer, der sich brummelnd auf dem Beifahrersitz einrollte und empört die Augenbrauen hochzog. »Na komm, ich lasse dir auch die Standheizung an. Möchtest du Weihnachtsmusik hören?« Interessanterweise war Weihnachtsmusik seine größte Leidenschaft, insbesondere ältere Titel – White Christmas, Little Drummer Boy, hach, das genoss ihr kleiner Spaniel. Bea kraulte ihn noch ein letztes Mal zwischen den Ohren, ehe sie ausstieg.

»Du hier? Um diese Zeit?« Lena kam mit einem Tablett mit der abendlichen Medikation aus dem Schwesternzimmer, als sie aus dem Fahrstuhl trat.

»Ja, ich habe noch etwas vergessen.« Sie holte die Patientinnenakte von Frau Zeidler aus dem Aktenschrank und überflog die Befunde. Dann seufzte sie und machte sich auf den Weg zu Zimmer 318.

»Frau Doktor. So eine Überraschung.« Margarete Zeidler saß auf dem Bett, in der Hand die Fernbedienung. Sie zappte sich durch die Kanäle und wirkte ziemlich müde.

»Entschuldigen Sie die späte Störung. Ich wollte schon früher nach Ihnen schauen. Ihre Befunde vom CT besprechen.«

»Oh.« Frau Zeidler wurde etwas blass um die Nase. »Aber das hat doch Ihre reizende Kollegin schon gemacht.«

Bea zog einen Stuhl heran. Sie hätte gern die Hand der Älteren genommen, war aber nicht sicher, ob das angebracht war. »Ich erkläre es Ihnen gern so ausführlich wie möglich. Wenn Sie Fragen haben, können Sie diese im Anschluss gern stellen. Ich habe etwas Zeit mitgebracht.«

Dann begann sie zu reden. Sie versuchte, sich diesmal nicht hinter dem Fachvokabular zu verstecken, in das sie allzu leicht in einer Situation wie dieser verfiel. Sie stellte die Chancen und Therapiemöglichkeiten so genau wie möglich dar. Gab aber zu, dass es Grenzen gebe. Und dann nahm sie doch die Hand von Margarete Zeidler in ihre, während sie redete. Sie spürte, wie sie beide ruhiger wurden, wie die Behandlungen etwas von ihrem Schrecken verloren, weil Bea sich Zeit nahm, weil sie wahrhaftig alles erklärte und auf jede Frage antwortete. Wenn sie die Antwort nicht auf Anhieb wusste, gab sie das zu, weil auch das dazugehörte. Und sie versprach, sich schlauzumachen und die Antwort nachzureichen.

Es war ein langes Gespräch. So lang, dass Bea wusste, sie würde es niemals mit allen Patientinnen so führen können, wie sie es gerade mit Margarete Zeidler tat. Aber es rückte ein bisschen ihre Welt gerade, und sie hoffte inständig, dass es auch Margarete danach besser ging. Dass sie ruhiger schlafen konnte.

»Haben Sie noch Fragen?«, erkundigte Bea sich, nachdem sie fertig war.

Margarete Zeidler schüttelte den Kopf. Sie räusperte sich, ihre Stimme klang belegt. »Danke für Ihre Offenheit«, sagte sie leise. »Ich habe ja geahnt … Na ja, im Alter ahnt man ja, nichts geht unendlich so weiter. Ich meine …«

»Mit der richtigen Behandlung können Sie noch ein paar gute Jahre haben. Diese Form der Leukämie verläuft langsam, wir haben Möglichkeiten.«

Die Patientin nickte, aber ihre alten, knochigen Finger fuhren suchend über die Bettdecke. »Danke, dass Sie gekommen sind«, fuhr sie fort.

»Sie müssen sich nicht für alles bedanken.«

»Doch, das muss ich. Ich sehe doch, wie Sie und Ihre Kolleginnen den ganzen Tag rennen, um allen gerecht zu werden. Und nun auch noch am Samstagabend, da sollten Sie doch zu Hause sein bei Ihrem Mann.«

Beas Lächeln schwand. »Ich bin nicht verheiratet. Nicht mehr.« Dass die Scheidung noch nicht rechtskräftig war, verschwieg sie. Ein unwichtiges Detail.

»Sehen Sie.«

Bea dachte an Bud Spencer, der das war, was ihr an Familie geblieben war. Natürlich hatte sie die Schwestern, Eltern – aber die lebten ja alle irgendwie ihr eigenes Leben, da war kein Platz für Bea.

»Mein Mann hat das immer betont. ›Grete‹, hat er gesagt, ›es gibt mehr als unsere Arbeit, leben müssen wir auch.‹ Und darüber bin ich froh, wir haben ein bisschen was gesehen von der Welt, bevor er viel zu früh starb.«

»Das tut mir sehr leid«, sagte Bea automatisch. »Aber Sie sind nicht allein, oder?«

»Ach …« Margarete Zeidlers Miene verdüsterte sich. »Nicht allein, nein. Aber schon manchmal einsam.«

Herrje, nun hatte sie der armen Frau Zeidler die gute Laune verhagelt. Bea hätte ihr gern noch etwas Tröstendes gesagt. In Gedanken war sie aber schon bei ihrem Hund. Wenn Bud Spencer zu lange allein im Auto blieb, fing er an, auf irgendetwas herumzukauen – zur Not nahm er den Schaltknüppel mit Lederbezug. Sie stand auf. »Ich muss jetzt auch wieder los.«

»Sind Sie allein?«, fragte Margarete Zeidler.

»Nein«, sagte Bea. »Ich habe Bud Spencer.«

»Oh, einen Sohn? Ein hübscher Name. Außergewöhnlich.«

Nun musste Bea lachen. Sie sank wieder auf den Stuhl, denn mit einem Mal war’s gar nicht mehr so wichtig, ob der Hund ihr Auto auffraß oder nicht. »Einen Hund. Nach der Trennung lebt er bei meinem Ex-Mann, ich habe ihn alle vierzehn Tage am Wochenende.«

»Wir haben uns immer Kinder gewünscht. Na ja, manches sollte eben nicht sein.«

Frau Zeidler wirkte noch kleiner. Geradezu verloren.

Bea verfluchte sich in Gedanken. Sie fühlte sich unwohl, weil sie mit so privaten Geständnissen nur ganz schwer umgehen konnte. Medizinische Problemstellungen? Dafür konnte sie eine Lösung finden. Privater Kummer? Bitte, wir haben eine Nachtschwester für so etwas. Aber während sie hier saß, lief sich Lena draußen vermutlich die Hacken krumm, um allen Patientinnen auf der Station eine ruhige Nacht zu ermöglichen.

»Brauchen Sie noch etwas, bevor ich gehe?«, fragte sie.

»Nein, alles gut. Gehen Sie ruhig.« Margarete Zeidler griff nach der Kladde auf ihrem Nachtschrank. Ihre Hände zitterten leicht. »Ich komme zurecht.«

Draußen vor den Türen der Klinik war die Kälte inzwischen noch beißender geworden. Vielleicht kam es Bea auch nur so vor, weil sie sich innerlich ganz warm fühlte. Die Worte von Frau Zeidler trug sie im Herzen. Und ärgerte sich, denn sie hatte gar nicht genauer nach ihrer Familie gefragt, nach ihrem Mann.

Das mache ich Montag, nahm sie sich vor. Obwohl sie ahnte, dass Montag keine Zeit bleiben würde für ein privates Wort, weder bei der Visite noch später. Zu sehr wäre sie wieder absorbiert davon, ihre Patientinnen als »Fälle« zu sehen, die sie bewältigen musste, eine stete Flut neuer Schicksale, denen sie sich stellte.

Aber diesmal mache ich das wirklich.

Bud Spencer wachte erst auf, als sie ins Auto stieg. Er sprang und hüpfte so aufgeregt hin und her, dass er auf den Beifahrersitz pieselte. Nun denn, sie war selbst schuld. Was ließ sie ihn auch so lange allein?

»Armer Hundi«, murmelte sie. »Ich lass dich nicht mehr allein.«

Frau Zeidler ging ihr nicht aus dem Kopf. Wie einsam sie war. Wie einsam sie sich erst fühlen musste, alleingelassen mit ihren Ängsten um die Zukunft …

Ach Quatsch, dachte Bea. Sie hat Freundinnen, die sie besuchen. Einen Neffen, der ihr Kaffee ans Krankenbett schmuggelt. Wer hat das schon?

Ob Alix’ Kinder sie in dreißig Jahren besuchten, wenn sie krank irgendwo lag?