»Sie schon wieder.«
Tom Zeidler schien nicht erfreut zu sein, dass Bea erneut bei ihm vor der Tür stand. Samstag, dieses Wochenende hatte sie den Hund nicht – und das hieß vor allem, dass sie viel Zeit hatte. Deshalb war sie erst zu Alix gefahren, doch die hatte natürlich mit ihrem Hofladen genug zu tun, es reichte nur für einen kleinen Plausch, und damit es nicht so aussah, als suchte Bea Anschluss, kaufte sie drei kleine Seifenstücke aus Alix’ Manufaktur. Weil sie schon in der Gegend war, schaute sie noch mal bei der Imkerei vorbei.
Der Besuch bei Alix war nur ein Vorwand, das wusste sie selber.
Der Schnee vom Donnerstag war schon am nächsten Morgen geschmolzen, geblieben war nur das schmutzige Novembergrau, das schon bald vom ähnlich tristen Dezembergrau abgelöst werden würde. In sechs Wochen war Weihnachten.
»Hoffentlich störe ich nicht.« Sie schenkte ihm ihr gewinnendstes Lächeln. »Ich war gerade in der Gegend.«
Tom schnaubte, als glaubte er ihr kein Wort. Er schlüpfte in die Stiefel neben der Tür, warf sich eine Jacke über und zog die Haustür hinter sich zu. »Ich habe zu tun«, behauptete er. »Sie können ja mitkommen, wenn Sie unbedingt wollen. Aber nicht im Weg stehen, okay?«
Schade. Sie hatte irgendwie gedacht, nachdem sie sich beim letzten Mal so gut verstanden hatten, würde er ihr diesmal etwas offener begegnen.
»Darf ich helfen?«, fragte sie.
»Meinetwegen.«
Sie lief ihm nach. Tom steuerte den Schuppen an, öffnete das Vorhängeschloss und löste den Riegel.
»Ich habe nachgedacht«, plapperte sie drauflos, bevor sie der Mut verließ. »Über Ihre Bienen.«
»Hmhm«, brummte er. Das Deckenlicht flackerte auf. Sie zog die Tür hinter sich zu. Kalt war es im Schuppen. Tom machte sich an einem Bullerjan zu schaffen, der in einer Ecke stand. Schon bald verströmte der kleine Ofen aus schwarz lackiertem Blech warme Luft.
Neugierig sah sie sich um. Dank der Bücher, die sie gestern Abend nach dem Dienst aus dem Buchladen abgeholt und direkt verschlungen hatte, erkannte sie einiges wieder. Die Rähmchen zum Beispiel – kleine, aus Holz gezimmerte Gestelle, in denen Wachsplatten eingefasst wurden. Die hängte man in die Beuten, damit die Bienen etwas kontrollierter ihre Waben bauten. Oder die große, stählerne Trommel – das war die Honigschleuder. In dieser wurden die Rähmchen eingespannt, und dann wurde der Honig dank Zentrifugalkraft aus den Waben geschleudert. Vorher musste man die Waben entdeckeln, dafür gab es eine spezielle Gabel, die etwa ein Dutzend lange Zinken hatte. Auch die sah sie auf dem Tisch liegen, neben einem Haufen Wachs, das beim Entdeckeln anfiel und anschließend weiterverarbeitet werden konnte. Offenbar hatte Tom seine Arbeit vorhin mittendrin unterbrochen.
Tom hantierte mit einem Blecheimer.
»Oh, und meine Schwester lässt ausrichten, sie möchte gerne noch mehr von Ihrem Honig. Drei Kisten mit je zwölf Gläsern. Verkauft sich wohl gut.«
»Ihre Schwester?« Er starrte sie mit gerunzelter Stirn an.
»Alix Richter. Vom Schliekerhof.«
Er nickte. »Mach ich fertig. Wenn ich dazu komme.«
»Was machen wir denn?«, fragte sie. Zeigte auf die Wachsreste: »Wollen Sie die zu neuen Wachsplatten gießen? Daraus werden dann Kerzen, stimmt’s?«
»Hören sie, Dr. Heinemann.« Er betonte den Doktor, so dass es ironisch klang. »Wenn Sie hier sind, um zu helfen, können Sie das gerne tun, kann Sie ja nicht vom Hof jagen. Aber dann behalten Sie Ihr Buchwissen für sich und machen einfach, was ich Ihnen sage, okay?«
Der Blecheimer, den er öffnete, enthielt Honig. Ein süßer, warmer Duft stieg davon auf, und Bea fand, dass die Werkstatt dadurch direkt gemütlicher wirkte. Aber sie hielt den Mund und beobachtete stattdessen, wie Tom den Eimer auf den Tisch wuchtete. Aus einem angrenzenden Kabuff brachte er ein paar Kartons mit Gläsern, die er auf den Tisch stellte.
»So, wir füllen Honig ab«, sagte er nur, als müsste ihr das als Erklärung genügen. »Der hier steht schon ein bisschen, den können wir einfach in die Gläser füllen.«
Er stellte die Schraubgläser neben dem Eimer auf. Bea biss sich auf die Zunge; sie hätte zu gerne gefragt, ob er die Gläser nicht sterilisieren wollte oder ob der Schaum, den sie obenauf in dem Honigeimer sah, nicht vorher abgeschöpft werden musste. Aber na ja, er kannte sich doch aus, oder?
Jedenfalls sah das, was er da tat, ziemlich routiniert aus.
»Was kann ich machen?«, fragte sie, nachdem er die ersten Gläser abgefüllt hatte.
»Zuschrauben. Die Etiketten liegen da drüben im Regal.« Er zeigte mit der kleinen Kanne, die er verwendete, um über dem Eimer den Honig in die Gläser rinnen zu lassen, zur gegenüberliegenden Wand.
In dem Regal lag alles Mögliche, weshalb Bea zwischen Heften, Handschuhen, einem Imkernetz, fertigen Rähmchen ohne Wachsplatten und allerlei anderem Kram wühlen musste, bis sie eine Mappe mit Etiketten fand. Sie brachte die Mappe zum Tisch. »Welche Sorte ist das?«, fragte sie. »Lindenblüte? Raps? Sommertracht?«
Er legte den Kopf schief, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Bullerjan heizte ganz schön auf. »Sommertracht«, entschied er.
Sie verschloss die einzelnen Gläser und klebte die Etiketten möglichst gerade auf. Es machte Spaß, mal etwas anderes zu tun, als den Tag im weißen Kittel zu verbringen, und sie stellte fest, dass es besonders angenehm war, neben Tom zu arbeiten, der einfach still vor sich hin werkelte.
Bis er die kleine Kanne in den fast leeren Eimer warf. »Schei…benkleister«, fluchte er.
»Was ist?«, erkundigte sie sich.
Tom fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, bemerkte seinen Fehler zu spät. Vom Honig verklebt standen die Wuschelhaare jetzt in alle Richtungen ab.
»Hm, Sie haben nicht zufällig die Gläser sterilisiert?«, erkundigte er sich. »Oder … ähm.« Er spähte in den Eimer. »Den Schaum abgeschöpft?«
»Nein, weder noch.«
Er stieß seinen angehaltenen Atem aus, blickte hin und her.
»Okay, dann machen wir erst mal Pause. Die Gläser können wir wohl nicht verkaufen. Mögen Sie Honig?«
Sie lachte. Oh, sie mochte ihn, komischerweise. Er nahm nicht alles so super genau, er ließ fünfe gerade sein und kam damit dann doch irgendwie über die Runden. Sie war so ganz anders, stolperte mit ihrem angelesenen Wissen in seine Werkstatt, wusste es besser und hielt doch lieber den Mund, damit er sich nicht über sie aufregte.
»Ich esse total gerne Honig«, sagte sie und lächelte.
»Aber jetzt erst mal Kaffee. Ich habe auch noch Brot, da können wir das erste Glas direkt verbrauchen.« Er nahm eines der fertigen Gläser mit. Bea folgte ihm. Tom warf das Glas in die Luft, fing es lässig wieder auf.
Was machte sie hier eigentlich? Wollte sie einfach nicht allein sein? War sie fasziniert von den Bienen oder doch eigentlich von Tom? Hatte Margarete Zeidler ihr das Tagebuch überlassen, weil sie geahnt hat, dass sich Bea nicht den Bienen oder ihrem Neffen – oder gar beiden – würde entziehen können? Seine Tante hätte genauso gut eine Krankenschwester bitten können, es ihm zuzuschicken. Aber nein, sie ließ es ihr zukommen, damit sie es Tom brachte.
Die Vorstellung, wie Margarete Zeidler sich als Kupplerin betätigte, war eher absurd. Bea schob sie beiseite. Da sprach wohl wieder diese kleine Stimme aus ihr, die ein klitzekleines bisschen verknallt sein wollte – in Tom Zeidler, in diesen kleinen Imkerhof, die Bienen.
Viel wahrscheinlicher schien es doch, dass ihre Patientin bemerkt hatte, was sie selbst erst sah, seit sie sich mit den Bienen beschäftigte. Dass sie mehr brauchte als den stressigen Klinikalltag. Eine Welt jenseits der sterilen Flure und kalten Zimmer.
Im Haus jedenfalls war es genauso bollerwarm wie draußen in der geheizten Werkstatt. Tom hockte sich vor den Ofen und warf ein paar Scheite nach, dann hörte sie ihn in der Küche rumoren. Bea zog ihren Mantel aus und den Pullover darunter gleich mit. Sie trug jetzt nur noch T-Shirt und Jeans. Auf einmal verstand sie, warum er neulich barfuß durchs Haus gelaufen war. »Kann ich helfen?«
»Bloß nicht!«, rief er.
»Okay.« Sie hob gespielt unschuldig die Hände.
»Setzen Sie sich, ich komme gleich.«
Sie ließ sich auf dem Fenstersitz nieder, knautschte sich eines der großen, bunten Polsterkissen in den Rücken und blickte nach draußen in den trüben Novemberregen. Ach, so ein richtig kalter Winter, dachte sie. Das wäre schön. Man könnte bei Apfel, Nuss und Mandelkern am Kamin sitzen, Honigkuchen knabbern und im Schein der Bienenwachskerzen ein gutes Buch lesen. Gelegentlich in der Küche werkeln, Kekse backen oder einen Bratapfel ins Ofenrohr schieben, eine wärmende Suppe auf dem Herd, schön scharf, mit Kürbis, Ingwer und Chili …
Ja, das wäre mal ein etwas anderes Leben. Weniger technisch, einfach … urtümlicher.
Wie zur Bestätigung hörte sie in der Küche etwas scheppern, und dann Tom, der vor Schmerz aufschrie und darauf laut fluchte.
Mit solchen Schreien kannte sie sich aus. Bea sprang auf und rannte in die Küche.
Er hielt mit der rechten Hand die linke umschlossen, die Haut am Handrücken verfärbte sich bereits krebsrot. Auf dem Fußboden lag der Wasserkessel, offenbar hatte er ihn vor Schreck fallengelassen, als er sich beim Kaffeeaufbrühen das kochend heiße Wasser über die Hand gekippt hatte.
»Warte, ich helfe dir.«
Mit einem Schritt war sie am Waschbecken und ließ Wasser über ein Geschirrtuch laufen. Steril war das nicht, aber für den Anfang besser als nichts. Das mit kaltem Wasser getränkte Tuch legte sie behutsam auf seine Hand. »Hat das Wasser dich noch woanders erwischt?«, fragte sie. Tom schüttelte den Kopf. Er war etwas blass um die Nase unter der Sonnenbräune. »Wo ist deine Hausapotheke?«
»Im Bad.« Er sah sie mit großen Augen an, gerade so, als stünde plötzlich eine ganz andere Frau vor ihm. Was ja irgendwie stimmte, denn sie war jetzt ganz im Ärztinnenmodus und reagierte so, wie sie es gelernt hatte.
»Komm, setz dich erst mal hin.« Sie führte ihn ins Wohnzimmer, schob ihn auf den Fenstersitz. Eine Decke breitete sie über seine Knie aus, vermutlich dauerte es nicht lange, bis der Schock einsetzte und er jämmerlich fror. Dann lief sie die Treppe hoch, fand das kleine, enge Badezimmer und in dem – zu ihrer Überraschung ziemlich gut sortierten – Medizinschränkchen eine Brandsalbe mit Beinwell, Arnika und Ringelblume.
»Welch ein Glück, dass du nicht an Schwurbelmedizin glaubst«, sagte sie, als sie wieder nach unten kam. »So, und jetzt lass mich mal gucken.«
Tom hob das feuchte Handtuch an. Die Verbrennung war nur ersten Grades, das war schon mal gut. Außerdem war sie wirklich nur auf dem Handrücken. Bea untersuchte seine Hand gewissenhaft, bevor sie anfing, die Salbe aufzutragen. Tom zog scharf die Luft ein.
»Schwurbelmedizin?«, fragte er.
»Na, Homöopathie.«
»Die Hausapotheke hat Tante Grete bestückt.«
Na, schau an, dachte Bea. War die Bienenhüterin doch nicht so schulmedizinfeindlich, wie ihr Verhalten den Anschein erweckte. Einfach vor der Chemotherapie wegzulaufen …
Doch jetzt musste sie sich um die Hand kümmern.
»Ich weiß, das tut weh«, murmelte sie. »Wird gleich besser.«
»So richtig einfühlsam bist du aber nicht.«
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihn seit dem Moment seines Unfalls duzte. Sie runzelte leicht die Stirn. Störte es ihn etwa? Klang fast so.
»Ich kann Sie gerne in eine Notfallpraxis fahren, wenn Ihnen das lieber ist«, sagte sie möglichst gelassen. »Dort sitzen Sie dann mindestens sechs Stunden herum, denn ein Notfall ist das da wirklich nicht. Und die dortige Ärztin wird nichts anderes tun, als ich jetzt mache.«
»Meine Tante schmiert immer Honig drauf, wenn sie sich verbrennt«, murmelte er.
»Honig.« Zweifelnd blickte sie von seiner Hand zu ihm hoch. Wollte er sie jetzt auch noch veräppeln?
Na ja, das wäre immerhin ein gutes Zeichen, dann hätte er seinen Humor nicht gänzlich verloren.
»Im Ernst. Sie hat da immer so eine Salbe gerührt, damit tat es ruckzuck nicht mehr weh.«
»Ich möchte ja nicht wissen, was Sie in Ihrer Jugend so getrieben haben, dass Sie ständig von Ihrer Tante mit dieser Salbe versorgt werden mussten.«
Er grinste. Lausbubenhaft. Sie biss sich auf die Unterlippe, damit sie nicht laut lachte. Es machte ihr Spaß, mit ihm so zu reden – spielerisch und ohne Hintergedanken.
»Das sollten Sie häufiger machen«, hörte sie ihn sagen.
»Na ja, so lächeln.«
Sofort wurde sie wieder ernst. Konzentrierte sich ganz auf die Hand, die unter der Salbe jetzt rot glänzte. Ein Verband wäre vielleicht ganz gut, locker angelegt, damit er nicht ständig an der empfindlichen Haut rieb.
»Ich bin gleich wieder da.«
Oben im Schränkchen hatte sie mehrere Verbandspäckchen gesehen. Sie holte eins, und bis sie wieder unten im Wohnzimmer war, hatte sie sich so weit wieder im Griff, dass sie ihm die Hand verbinden konnte, ohne dass ihre Gesichtszüge noch einmal in irgendeine Richtung entglitten. Vorhin hatte sie kurz geglaubt, sein kleines Malheur würde sie einander näherbringen. Und das hatte ihr gefallen.
Doch jetzt fragte sie sich, ob sie das überhaupt wollte. Und wenn sie es wollte, warum. Konnte ja nicht nur daran liegen, dass seine Tollpatschigkeit ihn für sie interessant machte, nur weil sie ihr eigenes Leben im Griff hatte. Das ging nun wirklich nicht.
Weil ich in Gedanken mit dir rede.
Bisschen verrückt bist du schon, weißt du das?
Und dabei sah sie wieder dieses halbe Lächeln, ein bisschen verstohlen, als müsste er sich das ganz breite Grinsen verkneifen. Flirtete er etwa mit ihr?
Herrje, sie war aus diesem Spiel schon so lange raus, sie hätte nicht sagen können, ob er flirtete oder sie für ihn einfach nur eine Fremde war, die ihm etwas zu sehr auf die Nerven ging.
Sie riss das Verbandsmaterial auf. Spürte Toms Blick auf ihren Händen, während sie seine Hand bandagierte. Danach bewegte er probeweise die Finger und verzog das Gesicht. Klar, die Haut spannte und tat weh.
»Danke.« Er wirkte trotzdem erleichtert.
»Wenn Sie Schmerzen haben, können Sie ruhig was dagegen nehmen.« Sie räumte alles zusammen. Der Kaffee war vergessen, irgendwie hatte der ganze Nachmittag mit Toms Missgeschick ein abruptes Ende gefunden. Honig abfüllen würde er heute sicher nicht mehr.
Bea stand schon an der Tür und schlüpfte in ihren Mantel, als Tom fragte: »Wieso gehen Sie denn jetzt?«
Sie hielt in der Bewegung inne. »Ich dachte …«
Er hob die Hand. »Was denn, sobald ich hilflos hier sitze und kaum mehr was machen kann, lassen Sie mich allein?« Dieses Lächeln. Sie seufzte und zog den Mantel wieder aus.
»Was brauchen Sie denn?«, fragte sie.
»Also, irgendwie war ich gerade beim Kaffeekochen …«
»Kaffee also. Und was noch?«
»Honigbrot? Und ein bisschen Gesellschaft wäre schön.«
Sie sah ihn an. Er grinste.
»Ich bleibe aber nicht über Nacht, so schlimm ist Ihre Verletzung nun auch wieder nicht. Es ist nur eine Verbrühung ersten Grades, damit würden Sie in keinem Krankenhaus über Nacht bleiben. Also nichts, was die dauerhafte Anwesenheit einer Ärztin erfordern würde.«
»Ja, nee.« Er druckste herum. »Vielleicht möchte ich auch gar keine Zeit mit Ihnen als Ärztin verbringen.«
»Sondern?«
Sag jetzt nichts Falsches, dachte sie. Ich bin noch nicht dafür bereit, ich stehe noch immer mit einem Bein in meinem alten Leben …
»Sondern mit Ihnen als … Freundin. Weil Sie so angenehm sind.«
Angenehm. Das hatte erst selten jemand über sie behauptet. Doch hier, in Toms Gesellschaft und umgeben von den Bienen dort draußen, mochte es vielleicht sogar stimmen.
Aber du siezt mich wieder so konsequent. Ich meine, klar, ich bin Hanseatin und von Natur aus eher zurückhaltend, aber …
Sie gab sich einen Ruck. »Ich könnte uns was zu essen kochen. Für heute Abend.«
»Einverstanden.« Er lächelte dankbar.
Sie ertappte sich dabei, wie sie in die Küche tänzelte, den Kaffee erneut aufbrühte und den Inhalt des alten, roten Kühlschranks sichtete, der in der Ecke stand. Sie mochte es in diesem kleinen, alten Fachwerkhaus unter den Eichen, sie mochte vor allem Tom und war so froh, noch ein bisschen Zeit mit ihm verbringen zu können.
* * *
Das Klappern von Geschirr aus der Küche. Das Geräusch, wie sie den Kühlschrank öffnete und wieder schloss. Dann eine ganze Weile gar nichts. Tom legte die verbrühte Hand auf ein Polster und lehnte sich zurück. Schloss die Augen, lauschte.
Er war froh, dass sie blieb.
Vorhin hatte er eine andere Bea gesehen – Dr. Heinemann im Dienst quasi. Wie sie mit wenigen Handgriffen seine Hand versorgte, die Salbe auftrug und den Verband anlegte. Einerseits ganz der effiziente Doc, aber irgendwie lag auch etwas Ruhiges, fast Verletzliches darin, wie sie sich um ihn kümmerte. Er verstand jetzt etwas besser, warum seine Tante sie in den höchsten Tönen gelobt hatte. Denn die andere Seite von ihr – die Ärztin im weißen Kittel, streng und akkurat – hätte ihn überhaupt nicht gereizt.
Aber das hier? Sie trug jetzt wieder den zimtfarbenen Wollpulli zu der Jeans. Chucks anstatt der teuren Stiefel wie bei ihrer letzten Begegnung. Und sie stellte sich geschickt an, er hatte sie ja vorhin im Schuppen beobachtet. Er mochte, wie ihr die honigfarbenen Strähnen – jawohl, honigfarben! – in die Stirn fielen, die sich aus dem unordentlichen Knoten gelöst hatten, während sie die Honiggläser etikettierte. Zu dumm, dass er mal wieder alles verbockt hatte mit seiner Unaufmerksamkeit. Der abgefüllte Honig war für seinen Vorrat – und für Bea, der konnte er ein paar Gläser schenken.
Kein Drama, das mit dem Honig. Der Lagerraum stand voll mit den Eimern der sommerlichen Ernte, sie warteten nur darauf, dass Tom sie abfüllte. Bisher hatte er das vor sich hergeschoben, weil er viel nachdenken musste. Über die Imkerei. Darüber, wie er es richtig machte. Und während er noch grübelte, passierten diese teuren Fehler.
Er wusste selbst nicht, warum ihm ständig solche Sachen passierten. Er in Gedanken schon drei Schritte weiter war. Den Honig hätte er eigentlich problemlos abfüllen und Bea dann die Kartons nebst Rechnung mitgeben können, wenn sie wieder ging. Dann hätte er nicht noch mal zum Schliekerhof fahren müssen.
Es war ja schön, wenn der Honig sich verkaufte. Aber wie viel Arbeit dahintersteckte, das hatte er vorher nicht gewusst. Selbst jetzt im Winter war ständig was zu tun, er kam überhaupt nicht hinterher. Teilweise hatte er den Honig noch nicht einmal aus den Waben geschleudert, sie lagerten noch in Kisten in einem angrenzenden Verschlag hinter der Werkstatt. Seine Tante hatte ihn sonst immer ermahnt, was er unbedingt tun müsste.
Und nun war sie verschwunden und hatte ihm stattdessen Bea geschickt, davon war er überzeugt. Damit sie ihm auf die Finger klopfte. Das konnte er überhaupt nicht leiden. Außerdem hatte er seine eigenen Pläne mit der Imkerei. Wenn Tante Grete unbedingt wollte, dass er sie übernahm, dann sollte sie ihm auch sein Tempo lassen.
»Ich könnte uns Spaghetti mit rotem Brokkoli-Pesto machen.«
Sie trug das Tablett mit Kaffeebechern und Honigbroten in die Wohnstube. Tom rückte beiseite, damit sie sich zu ihm setzen konnte, und weil ihm nicht mehr kalt war, lüpfte er einladend die Decke.
Sie schüttelte den Kopf, sie schlüpfte aus ihren Chucks und zog die Füße unter den Po, rückte etwas von ihm ab.
Schade.
Dabei ging es ihm nicht darum, mit ihr auf Tuchfühlung zu gehen, nein, nein. Er hätte ihr einfach gern die warme Decke überlassen. So als Gentleman.
»Geht’s der Hand schon besser?«
Er schaute auf die Hand, drehte sie hin und her, bereute es sofort und verzog vor Schmerz das Gesicht. »Wenn ich sie nicht bewege.«
Sie lachte.
»In der Küche habe ich eine Flasche Wein gefunden.«
»Ja, ich trinke Alkohol. Für Sie als Ärztin ist das bestimmt moralisch total verwerflich.«
»Ach, Rotwein ist okay. Da streiten sich die Gelehrten ja noch, ob er nun gesund ist oder nicht. Solange sie weiter darüber streiten, trinke ich ihn.«
Ihr Mundwinkel zuckte, sie versteckte das Gesicht schnell hinter dem Kaffeepott. Okay, sie hatte also auch Humor, auch wenn es eine etwas verdrehte Art von Humor war. Die er aber mochte, stellte er fest.
»Dann können wir uns den Wein ja heute Abend teilen.«
»Als ich das letzte Mal mit einem Mann Wein geteilt habe, musste ich im Gästezimmer nächtigen.«
»Hm, das ist ein Problem«, meinte er. »Ich habe kein Gästezimmer.«
Seit Tante Gretes Krankenhausaufenthalt wohnte er oben in ihrem Schlafzimmer, und bisher hatte er gedacht, das wäre bloß vorübergehend. Nach ihrer Rückkehr, so der Plan, hätte er hier unten auf dem Fenstersofa geschlafen wie schon seit dem Sommer.
»Ich könnte bei meiner Schwester übernachten.«
Interessant. Warum genau wollte sie so gerne mit ihm Wein trinken?
»Duzen Sie mich dann wieder? Also, wenn wir miteinander Wein trinken.«
»Was?« Sie runzelte die Stirn.
»Vorhin haben Sie mich geduzt. Fand ich cool.«
Ihn nervte dieses Gesieze ohnehin, nur hielt er sich gern an die Grenzen, die andere aufzogen. Bei Bea war es eher eine Mauer als eine Grenze. Vielleicht brauchte sie das in ihrem Beruf, damit ihr keine Patientin zu nahekam. Aber hier war sie doch ganz privat, oder nicht?
»Ach, das. Hm. Sie klangen vorhin, als wäre es Ihnen nicht recht. Ich bin da wohl etwas übers Ziel hinausgeschossen.« Sie wirkte peinlich berührt.
Er stellte umständlich den Kaffeebecher ab und streckte ihr die Rechte hin. »Also ich fänd’s schön. Ich heiße Tom.«
»Bea.« Sie nahm seine Hand. Kühl und irgendwie schmal fühlte sich ihre Hand an, dabei durchaus zupackend.
Konnte das sein? Dass ihm einfach alles an ihr gefiel?
Das hieße ja … Ach nein. Nicht darüber nachdenken.
»Okay, Bea. Ab wann kann man denn ungefähr den Wein aufmachen?«, hörte er sich fragen.