Es wurde dunkel, und Bea saß immer noch bei Tom auf dem Fenstersitz. Inzwischen hatten sie die Decke über seine und ihre Beine ausgebreitet, und während sie am Wein nippten, den sie dann doch schon vor dem Abendessen geöffnet hatten, redeten sie. Erstaunlicherweise gingen ihnen die Themen nicht aus, eher im Gegenteil. Tom erzählte von seinen vielen Jobs und all den Reisen. Sie erzählte von einem Leben auf der perfekt geplanten Karriereleiter. So unterschiedlich waren sie, aber nun saßen sie hier beisammen, fühlten sich wohl und wollten beide nicht, dass es allzu schnell vorbei war.
Sie hatte die Kladde seiner Tante bei sich, ursprünglich hatte sie geplant, sie hierzulassen, sie hatte schließlich kein Recht darauf. Zwei Tage hatte sie darin gelesen, zusammen mit den Büchern, die sie sich besorgt hatte, bekam sie langsam ein Bild von der Imkerarbeit und den Bienen, eine Skizze nur bisher, denn das ganze Thema war so komplex. Sie hätte Tom tausend Fragen stellen können, stattdessen lauschte sie seinen Erzählungen.
Tom winkte ab, als sie das schwarze, abgegriffene Journal hervorzog und es ihm wiedergeben wollte. »Behalt es. Vermutlich war das Teil von Tante Gretes Plan.«
»Welcher Plan?«
»Dass ich es hier nicht verbocke mit ihrer Imkerei. Das denkt sie immer noch.«
»Hast du von ihr gehört?«, fragte Bea.
»Nee. Seit sie verschwunden ist, nicht.« Das schien ihm überhaupt kein Kopfzerbrechen zu bereiten, und sie wusste nicht, ob sie seine Sorglosigkeit bewunderte oder sich darüber aufregen sollte. Margarete Zeidler war krank. Sie würde nicht morgen oder übermorgen sterben, wenn sie ihre Chemotherapie vor sich herschob, aber es wäre schon wichtig, dass sie die Behandlung wie geplant abschloss.
»Sie hat immer schon ihr Ding gemacht. Scheint in der Familie zu liegen. Ich war da auch nicht anders. Bin’s vielleicht bis heute nicht.« Er beugte sich vor, stellte das Weinglas ab und wollte nach der Flasche greifen. Sie kam ihm zuvor, denn als er das zuletzt versucht hatte, war der Tisch großzügig in Wein gebadet worden, weil er mit der Linken nun mal nicht so geschickt war. Die letzten Tropfen rannen aus der Flasche in sein Glas.
»Oh, ups.« Sie kicherte. »Hast du noch eine?«
»Irgendwo bestimmt.« Seine Stirn legte sich in Falten, Tom blickte nach draußen. »Musst du nicht deiner Schwester Bescheid sagen, dass du bei ihr übernachtest?«
»Ich kann doch auch hier auf dem Sofa pennen. Gemütlicher als alle Pritschen im Bereitschaftsdienst, auf denen ich in meinem Leben genächtigt habe.«
»Okay. Wenn es dich nicht stört, dass ich keine Zahnbürste für dich habe.«
Was war das nur mit den Männern und den Zahnbürsten? »Ich kann ja deine benutzen.«
Tom lachte. »Mich würde es nicht stören, aber ich wette, das machst du nicht.«
Womit er recht hatte. Das war eine Form der Intimität, von der sie nicht einmal mehr wusste, ob Stefan und sie sie überhaupt je erreicht hatten.
Und wie kam sie auf so eine verrückte Idee? War das der Rotwein, der sie so wagemutig machte? Vermutlich sollte sie auf das dritte Glas verzichten. Aber Tom war schon aufgestanden und in der Küche verschwunden. Sie hörte ihn in einem der Schränke kramen.
»Kannst du mal kommen?«
Sie stand auf. Hoppla, der Boden hatte ja Seegang. Sie war den Alkohol einfach nicht gewohnt …
Tom stand in der Küche mit seiner verbundenen Hand etwas ratlos vor der Weinflasche, die er auf der Arbeitsfläche abgestellt hatte. Wortlos nahm Bea ihm den Korkenzieher aus der Hand und öffnete die Flasche.
»Deine Tante schreibt in ihrem Journal darüber, was man alles mit Honig machen kann. Hat sie das auch umgesetzt?«, fragte sie. »Und machst du das weiter?«
»Wieso interessierst du dich so für die Imkerei?«, fragte er gereizt.
Sie zuckte mit den Schultern. »Weil es spannend ist. Wusstest du, dass der Bien wie ein einziger Organismus funktioniert und man nicht so genau weiß, warum?«
»Der Bien.«
»Na, ein Volk eben.«
»Du klingst, als wärst du Expertin für Bienen. Hat Tante Grete dich deshalb hergeschickt?«
Überrascht blickte sie auf. »Hat sie das?«
»Na ja. Sonst hätte sie dir kaum ihr Journal überlassen. Sie weiß, dass ich nichts von ihren Weisheiten halte. Und du bist doch bestimmt auch schon auf den Trichter gekommen, dass sie damit ein Ziel verfolgt hat, oder?«
»Das wirst du mir erklären müssen. Welches Ziel sollte sie haben?«
»Lange Geschichte.«
»Okay. Aber ich habe langsam Hunger und werde uns erst mal was kochen.«
Tom nahm ihr die Weinflasche ab und stellte sie auf den Küchentisch. Er holte die Gläser aus dem Wohnzimmer und schenkte ihnen ein, Beas halbherzigem Protest zum Trotz. Der Küchentisch wurde auch wieder großzügig versorgt.
Während sie sich um das Abendessen kümmerte, wischte Tom den Tisch ab und erzählte ihr von der Imkerei.
»Zeidlers Bienenschwarm gibt’s seit über siebzig Jahren. Schon mein Onkel Carl ist damit aufgewachsen, und mit Tante Grete hat er die Imkerei groß gemacht. So groß, dass er zeitweise sogar Angestellte hatte.« Er schüttelte betrübt den Kopf, als würde allein die Vorstellung, dass es hier einst Angestellte gab, sein Weltbild erschüttern. »Nach seinem Tod machte sie weiter. Damals war ich ein paar Monate hier. Hatte gerade die Schule abgebrochen. Aber ich mochte schon damals nicht, wie sie imkerte. Sie kauft Königinnen zu, die sie in ein für die Königin fremdes Volk setzt. Hast du eine Vorstellung davon, wie viel Stress das für die Königin und das Bienenvolk bedeutet? Außerdem behandelt sie die Stöcke regelmäßig mit Ameisensäure oder Oxalsäure. Davon kriegen die Bienen auch was ab und haben danach Flügel, die aussehen wie verbrannt, und dann verrecken sie. Das ist die Realität. Sie sterben, nur wegen so einem Parasiten. Weil wir der Natur nicht ihren Lauf lassen.«
»Varroa«, murmelte Bea. Sie hatte natürlich darüber gelesen, denn die Varroamilbe war die größte Angst jedes Imkers. Dieser Schädling konnte einen ganzen Stock befallen, und wenn dieses Volk, geschwächt, wie es war, dann von einem anderen überfallen wurde – ja, die Natur war grausam, der Nektar eines geschwächten Volks war für andere Völker eine leichte Beute –, trugen sie die Varroa in ein gesundes Volk, wo sie dann weiter wütete.
»Ich mach da nicht mit. Ich behalte die Bienen im Blick, ja. Aber sie mit Oxalsäure behandeln? Nein. Das nicht.«
»Was machst du stattdessen?«
»Nichts.«
Sie sagte nichts dazu. Er war der Experte.
»Es geht mir nicht nur um die Varroa«, erklärte er. »Sie ist nur ein Symptom des Bienensterbens. Wir entziehen ihnen systematisch ihre Lebensgrundlage. Erst gibt es nicht genug Feldraine, nicht genug Wildblüher, weil in unserer Kulturlandschaft immer alles sofort ausgerupft und abgemäht wird. Und dann zurren wir die Beuten dutzendweise auf die Ladefläche eines LKW und fahren mit ihnen in irgendeine Obstplantage, damit sie dort genug zu fressen kriegen. Das ist alles andere als nachhaltig. Es stresst die Bienen, es stresst den Menschen. Und das alles nur zur Gewinnmaximierung.«
»Wow«, murmelte Bea.
»Was denn?«
»Du redest dich richtig in Rage.«
»Ist doch wahr.«
»Also … die Bienen und die Imkerei. Die übernimmst du von deiner Tante?«
Er zuckte mit den Schultern. Inzwischen hatte er wieder sein Rotweinglas in der Hand, während sie am Herd werkelte. Sein Angebot mitzuhelfen, schlug sie aus. Allein war sie schneller.
»Ich bin ein Zeidler. Darum wollte sie unbedingt, dass ich übernehme. Das war ihr so wichtig, dabei ist es nur ein Name. Früher nannte man die Leute, die in den Wald gingen und einen wilden Bienenstock leerräumten, Zeidler. Aber nur wegen eines Namens etwas machen? Ich weiß ja nicht. Aber ich … na ja. Hätte gern etwas, das länger hält.«
»Aber wenn du die Völker nicht pflegst, entziehst du dir die Lebensgrundlage.« Vorsichtig lugte Bea zu ihm hinüber.
»Ist das so? Letztlich müsste es die Völker stärken, wenn nur die überleben, die sich gegen Schädlinge und Krankheiten durchsetzen.«
»Du argumentierst wie ein Impfgegner«, schimpfte sie.
»Oh, wow. Das musst du mir erklären.«
Sie trug die beiden Teller zum Tisch. Über die Spaghetti mit dem roten Brokkoli-Pesto hatte sie ordentlich Parmesan gestreut.
»Hmmm«, machte Tom. »Sieht köstlich aus.«
»Also, Impfgegner«, fing sie an, nachdem beide die Spaghetti geschickt mit der Gabel aufgewickelt und gekostet hatten und Tom ihre Kochkünste überschwänglich gelobt hatte. Er schenkte Wein nach, diesmal widersprach sie nicht. »Die sagen, es wäre für die Entwicklung eines Kindes total wertvoll, wenn es eine Krankheit durchmacht. Masern zum Beispiel.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn man einmal in der Klinik ein Kind gesehen hat, das als Spätfolge einer Masernerkrankung eine Gehirnentzündung bekommt. Die nicht heilbar ist. Da liegt also ein Kind, das sich langsam wieder zurückentwickelt, das irgendwann nicht mehr laufen kann, nicht mehr essen, nichts mehr, es ist auf Pflege angewiesen, rund um die Uhr. Und das passiert erst fünf bis zehn Jahre nach der durchgemachten Masernerkrankung. Es kann jedes Kind treffen, man weiß es vorher nicht. Und diese Impfgegner stellen sich hin und erklären großspurig, dass so eine Viruserkrankung mit hohem Fieber das Kind in seiner Entwicklung weiterbringt, man ihm das nicht verwehren darf. Nee, wirklich super.« Wenn sie sich aufregte, wurde sie immer schnell sarkastisch.
»Ja, klingt schlimm. Und was hat das mit den Bienen zu tun?«, wollte er wissen.
»Du weißt nicht, welche Auswirkungen dein Nichthandeln irgendwann auf das Volk hat. Ob es wirklich gestärkt daraus hervorgeht. Oder ob es das Gegenteil bewirkt. Ich denke immer, es ist besser, eine Krankheit zu bekämpfen. Nicht darauf zu warten, dass sie vielleicht wie durch ein Wunder verschwindet. Dafür sind Wunder zu selten.«
»Da spricht die Ärztin aus dir.«
»Ja, und dafür schäme ich mich nicht. Wir wissen ohnehin viel zu wenig darüber, wie die Welt funktioniert, ständig stoßen wir irgendwo an unsere Grenzen. Ich …«
Tom unterbrach sie: »Dein Handy.«
»Was?«
»Dein Handy. Es klingelt. Meins macht nicht so komische Geräusche.« Er zeigte in die Wohnstube, aus der das leise Gedudel ihres Handys erklang.
Bea sprang auf und lief nach nebenan. Manchmal kam ein Anruf ungelegen. Der hier kam genau richtig, bevor sie sich in irgendwas reinsteigerte. Sie wollte auch gar nicht streiten, aber das Thema Impfen war eines, das sie sehr bewegte, seit sie während ihres Praktischen Jahrs auf einer Kinderstation gearbeitet hatte und einen kleinen Patienten erlebt hatte, der an den Spätfolgen der Masern litt.
»Hey. Du klingst atemlos.«
»Stefan!« Sie freute sich, von ihm zu hören.
»Ich habe dich zu Hause nicht erreicht, und ich wollte dich fragen, ob du Montag mal bei mir vorbeikommen kannst.«
»Abends?«
»Na ja, nachmittags. Im Büro. Es gibt etwas, das ich mit dir besprechen möchte.«
»Oh.« Also nichts Privates. Aber wieso auch.
»Rein beruflich«, fügte er hinzu.
»Ja, klar.« Sie spürte die Enttäuschung, die in ihr hochstieg. Schob dieses Gefühl aber sofort wieder beiseite. Es gab keinen Grund, enttäuscht zu sein. Wirklich nicht. »Ich schreib’s mir auf.«
»Alles okay bei dir?«
Sie zögerte. »Wieso?«
»Du klingst so merkwürdig.«
»Könnte am Wein liegen«, nuschelte sie.
»Muss ich mir Sorgen machen?«
»Nein, wieso?«
»Weil Samstagabend ist und du allein Wein trinkst.«
»Ich bin nicht allein.«
Sie merkte, wie ihn diese Eröffnung überraschte. Erst war’s ganz still in der Leitung, dann hörte sie ihn leise sagen: »Ja dann …«
Sie schwiegen noch ein bisschen, aber schließlich verabschiedete Bea sich, und Stefan tat es ihr nach. Sie legte auf und schaltete das Handy stumm. Keine Störungen mehr, bitte.
Tom hatte auf sie gewartet, und als sie jetzt wieder auf den Stuhl sank, hielt er die Weinflasche in Richtung ihres Glases.
»Ich hatte genug«, sagte sie leise.
In ihrem Kopf herrschte auf einmal ein merkwürdiges Durcheinander. Es war nicht Stefans Art, sie abends anzurufen. Am Wochenende dazu. Dann auch noch in einer Sache, die genauso gut bis Montagfrüh Zeit gehabt hätte. Und sie saß hier mit einem anderen Mann, den sie zumindest sehr mochte, trank Wein, bis die Grenzen zwischen mögen und mehr wollen zu verschwimmen drohten.
Das bin ich nicht.
Vielleicht wäre sie das gerne, weil es das leichter machte. Noch ein Glas Wein, auf dem Fenstersofa aneinanderrücken, erst zufällige Berührungen, dann Küsse. Schön wäre das, keine Frage. Die Hand eines anderen Menschen, die ihre Hand berührte, dann ihre Schulter, ihre Wange streichelte … Sie schluckte.
Bea sprang auf. Der Wein war ihr zu Kopf gestiegen.
»Ich sollte lieber gehen«, murmelte sie.
Tom stand ebenfalls auf. »Sicher nicht. Du bleibst hier.«
»Aber …«
»Ich lasse dich jetzt nicht mehr fahren. Du hattest mindestens so viel Wein wie ich.«
Okay, das verstand sie schon. Irgendwie. Und ohnehin hatten sie sich ja bereits darauf geeinigt, dass Bea auf dem Sofa in der Wohnstube schlafen konnte. Sie ging hinüber, er folgte ihr. Als sie sich auf die Polster kuschelte, spürte sie eine Decke, die er über sie zog. Er löschte das Licht, bevor er wieder in der Küche verschwand. Sie hörte ihn mit Geschirr klappern und leise vor sich hin summen.
Erschöpft schloss Bea die Augen.
Was mache ich überhaupt hier?, fragte sie sich.
Ich habe mir nicht die Zähne geputzt.
Das war ihr letzter Gedanke. Und dann schlief sie einfach ein. Sie ließ die Müdigkeit zu, die sie sonst immer erfolgreich verdrängte. Weil zu viel Müdigkeit einen irgendwann nun einmal übermannte. Und wenn man dann an einem sicheren Ort war, konnte man ihr auch einfach nachgeben.
Hier war sie sicher.
Und dieses Gefühl – das hatte sie schon lange nicht mehr gehabt.
* * *
Tom öffnete die Küchentür einen Spalt. Da lag sie unter einem Deckenberg, den Kopf auf einem der Kissen. Sie schlief tief und fest, war geradezu umgekippt. Erst noch diese hitzige Diskussion übers Impfen und seine Bienen, dann bekam sie einen Anruf und wirkte danach irgendwie … angeschlagen. Ein besseres Wort fiel ihm dafür nicht ein.
Vielleicht hatte ihr auch der Rotwein den Rest gegeben. Jedenfalls schlief sie jetzt in der Wohnstube, abends um neun. Vermutlich würde sie bis morgen früh nicht aufwachen. Er holte aus der kleinen Speis hinter der Küche eine Flasche Wasser, trug sie mit einem Glas ins Wohnzimmer, stellte beides behutsam auf den Tisch, um sie nicht zu wecken. Falls sie doch schon nachts und mit Durst aufwachte. Das Licht in der Küche ließ er brennen, die Tür einen Spaltbreit offen, damit sie sich zurechtfand.
Die Küche war notdürftig aufgeräumt, soweit seine Hand das eben zuließ. Es ärgerte ihn, dass er nicht in der Lage war, die Ordnung herzustellen, die er brauchte, um am Morgen mit einem zufriedenen Gefühl die Küche zu betreten. Aber morgen ging es ihm hoffentlich besser.
Er ärgerte sich sowieso. Besonders über seine eigene Ungeschicklichkeit. Das Pochen seines Handrückens war in den letzten Minuten heftiger geworden. Der Wein, dachte er. Auch nicht seine schlauste Entscheidung, er trank selten, schon gar nicht eine halbe Flasche auf einmal.
Ein letzter Blick zum honigfarbenen Schopf unter der Wolldecke, dann stieg er langsam die schmale Treppe hoch und ging in sein Schlafzimmer.
Er wurde nicht ganz schlau aus ihr. Aber wie auch, sie kannten sich kaum. Und wenn er eins begriffen hatte in seinen Vagabundenjahren, dann wohl dies: Jeder Mensch war nicht nur die eine Eigenschaft, die sofort ins Auge fiel. Es gab immer noch all die Facetten, die es sich zu ergründen lohnte. Sie war auf den ersten Blick für ihn die Ärztin, die ganz in ihrem Beruf aufging. Sehr korrekt, fast ein bisschen strikt. Und dann, der Blick auf die Facetten. Sie machte sich um seine Tante Sorgen. Er übrigens nicht, er kannte Tante Grete. Vermutlich saß sie bei einer Freundin und mümmelte Platenkuchen. Früher oder später würde sie wieder nach Hause kommen, davon war er überzeugt.
Wenn Bea Wein trank, war es ein bisschen so, als würde sie Schicht für Schicht all das abstreifen, was sie aus professioneller, beruflicher Sicht ausmachte. Dann war sie eine Frau, nicht mehr ganz jung und naiv, aber weit davon entfernt, alt zu sein. Und wenn sie die Strenge verlor, die sie sich vielleicht über die Jahre zugelegt hatte, um die Arbeit nicht zu nah an sich heranzulassen, war sie darunter … weicher.
Ein besseres Wort fiel ihm auf die Schnelle nicht ein. Sie gab mehr von sich preis, und er bekam eine Vorstellung davon, wie es wohl wäre, mit ihr befreundet zu sein. Oder sie noch besser zu kennen …
Sie war eine Besserwisserin, oje. Aber selbst das gefiel ihm irgendwie an ihr. Wie sie erst ganz ahnungslos tat und ihm dann Fragen stellte. Gerade so, als wäre sie es gewohnt, das Wissen aus anderen herauszukitzeln.
Vermutlich wusste sie jetzt schon mehr übers Imkern als er. »Ich habe ein bisschen gelesen«, waren das nicht ihre Worte gewesen? Beinahe entschuldigend, tut mir leid, dass ich mir da was angeschaut habe, es interessiert mich so sehr.
Weil sie Tante Gretes Journal gelesen hatte.
Er warf sich im Bett hin und her, und weil das mit der Müdigkeit nirgendwo hinführte, stand er dann doch auf und schlich wieder nach unten. Seine Hand pochte schmerzhaft, und die Tabletten lagen auf dem Küchentisch.
Auf dem Weg zurück nach oben sah er das Journal neben der Wasserflasche auf dem Kaffeetisch liegen. Nach kurzem Zögern nahm er es mit. Er schluckte zwei Ibuprofen trocken herunter, ein bisschen auch aus Trotz, weil er vermutete, dass Bea ihm bestimmt erklären würde, man müsse die Schmerztabletten mit genügend Wasser und am besten zu einer kleinen Mahlzeit einnehmen.
Sie ging ihm nicht aus dem Kopf. Sobald er die Gedanken schweifen ließ, landeten sie bei Bea.
Offenbar war das mit dem Schlafen in Kombination mit Wein, seiner schmerzenden Hand und dem Schmerzmittel heute Nacht nicht möglich. Nun denn. Konnte er sich ja auch mit Tante Gretes Journal befassen. Er würde darin sicher nichts lesen, was sie ihm nicht schon tausendmal erzählt hatte, aber was anderes hatte er gerade nicht zur Hand, um sich von der hübschen Ärztin abzulenken, deren weicher Kern unter der rauen Schale ihm mehr gefiel, als gut für ihn war.