Mit einem Ruck fuhr Bea hoch. »Fuck, willst du mich zu Tode erschrecken?«, rief sie und starrte Tom wütend an, der sich auf den kleinen Couchtisch gesetzt hatte und sie – wer wusste schon wie lange – beobachtete.
»Guten Morgen«, sagte er ganz ruhig. »Entschuldige, aber bist du jetzt wach?«
»Wie lange sitzt du schon da und beobachtest mich wie so ein Psychopath?«, erkundigte sie sich. Sie setzte sich mit dem Rücken ans Fenster, stopfte ein paar Kissen zwischen sich und die kühle Glasscheibe und zog die Decke bis zum Hals hoch.
»So zwanzig Minuten?« Er zuckte mit den Schultern. »Es ist schon nach neun, ich warte seit Stunden, dass du wach wirst.«
»So spät …?« Sie schüttelte die Müdigkeit nur langsam ab. Herrje, wann hatte sie zuletzt so lange geschlafen? Sie erinnerte sich nicht, wenn sie ehrlich war, und irgendwie war das beunruhigend.
Du bist eben müde gewesen.
»Möchtest du Kaffee? Frühstück? Ein Glas Wasser?«
»Gerne. Wasser zuerst.« Sie gähnte hinter vorgehaltener Hand. Tom stand auf. Er legte etwas auf den Tisch und ging in die Küche. Sie goss sich ein Glas Wasser ein; ihre Zunge klebte wie ein kleines Pelztier am Gaumen. Nie wieder Wein, schärfte sie sich ein. Jedenfalls nicht gleich wieder so übertreiben.
Dann entdeckte sie, was er neben der Wasserflasche abgestellt hatte. Bea nahm den Tiegel zur Hand, schraubte ihn auf, schnupperte am Inhalt. Eine Creme oder Paste war darin, süßlich duftend. Ringelblume, ein bisschen auch das herbe Aroma von Kamille. Olivenöl? Vor allem aber: süß. Wie Honig …
»Was ist das?«, rief sie Richtung Küche.
»Darum habe ich dich geweckt.« Tom tauchte in der Küchentür auf. »Das habe ich gestern Abend noch gefunden, war mir aber nicht sicher, ob ich es verwenden kann. Ist schon ein paar Jährchen alt.«
Sie schnupperte noch mal daran. So weit roch es ganz okay, fand sie. Jedenfalls nicht ranzig oder verdorben. Sie stippte einen Finger in die Creme und verrieb sie auf ihrem Handrücken.
»Macht auf mich einen guten Eindruck.« Auf dem Tiegel war einer von diesen papiernen Aufklebern, die Margarete Zeidler auch für ihre Honiggläser verwendete. »Zeidlers Brandlotion«, aha. Sie hatte ja in dem Journal bereits davon gelesen, dass die Imkerin ein paar Experimente mit Honigsalben gemacht hatte. Auf die Idee, dass es diese nach so langer Zeit noch gab, war sie noch gar nicht gekommen.
»Dann kann ich es ja benutzen.« Bevor Bea protestieren konnte, hatte auch Tom seinen Finger in den Tiegel gesteckt und verteilte großzügig die Salbe auf seiner Verbrennung.
»Hey, so geht das nicht!«, rief Bea. »Du weißt doch gar nicht, ob die für diese Verwendung zugelassen ist.«
»Hauptsache, es hilft.«
»So einfach ist das nicht.« Sie spürte, wie sie zornig wurde. Oh Mann! Was war das mit Tom, dass er einfach immer machte, während sie offenbar nur damit beschäftigt war, ihn vor Fehlern zu bewahren? Erst mit dem Abfüllen des Honigs, und nun schmierte er sich eine uralte Salbe auf die Brandwunde, gerade so, als könnte da schon nichts passieren …
Wenn er so auch die Imkerei führte, verstand sie Margarete Zeidlers Sorge, dass alles vor die Hunde ging. Das hatte ja schon in den Aufzeichnungen von vor knapp zwanzig Jahren mitgeschwungen, als Tom das erste Mal hier war und nach kurzer Zeit wieder verschwand, weil ihm das alles zu anstrengend war.
Natürlich war es anstrengend, wenn man nicht exakt arbeitete, sondern nur so ungefähr; wenn man vor sich hin wurschtelte wie er, musste man sich echt nicht wundern. Das mochte bei anderen Berufen ja funktionieren, als Künstler oder Musiker – obwohl: Auch da musste man ja diszipliniert sein, selbst mit Talent fiel einem nichts in den Schoß.
Tom war wieder in der Küche verschwunden. Entschlossen schwang Bea die Beine vom Sofa, warf die Decke ab und marschierte Richtung Bad. Sie brauchte jetzt eine heiße Dusche, dann einen süßen, starken Kaffee. Anschließend würde sie Tom mal zeigen, wie man eine Imkerei richtig führte.
* * *
»Verrätst du mir, was dein Problem ist?«, erkundigte Tom sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Seit dem Aufwachen war Bea auf Krawall gebürstet. Er hatte gedacht, nach den Gesprächen am gestrigen Abend hätten sie so etwas wie erste Freundschaftsbande geknüpft, aus denen, ginge es nach ihm, ruhig mehr werden könnte. Also rein freundschaftlich, natürlich, denn an einer Beziehung war er nun wirklich nicht interessiert. Sie offenbar auch nicht, denn wie sie da jetzt mitten in seiner Werkstatt stand und ihn mit in die Hüften gestemmten Fäusten anfunkelte, machte sie nicht gerade Werbung für sich.
Obwohl – er mochte ja Frauen, die wussten, was sie wollten. Die Temperament hatten. Nein, stopp. Er mochte es viel lieber, wenn Frauen ihn nicht anmaulten, weil er ihrer Meinung nach die Imkerei in den Ruin stürzte. Das hatte Tante Grete schon zur Genüge getan, und ja, ganz eindeutig: Bea war von ihr geschickt worden, damit sie ihm zeigte, wie viele Fehler er machte.
»Du musst dich auf die Märkte vorbereiten«, sagte sie. Ihr Blick ging durch die Werkstatt, über die kleinen Kartons mit gezogenen und gerollten Kerzen. »Ist das alles, was du hast? Keinen Honig in Geschenksets? Was ist da hinten drin?« Bevor er etwas einwenden konnte, betrat sie den Vorratsraum hinter der Werkstatt, wo die Eimer und Waben mit Honig lagerten. »Du hast noch nicht mal alle Waben ausgeschleudert«, rief sie.
Tom folgte ihr. Mit verschränkten Armen lehnte er sich an den schmalen Alutürrahmen. »Ich wüsste nicht, was dich das angeht.« Es belustigte ihn fast ein bisschen, wie sie durch den dunklen Raum tastete, immer auf der Suche nach weiteren Verfehlungen von ihm. »Du kannst mir vertrauen, ich weiß, was ich tue.«
Sie hielt inne. Richtete sich auf, strich eine Strähne aus dem Gesicht. Ein Schmutzstreifen verlief quer über ihre Stirn. Pustete die Backen auf, stieß die Luft langsam aus, sagte aber nichts. Merkte sie etwa, dass sie gerade weit übers Ziel hinausgeschossen war? Ihre Hände sanken herab, ratlos stand sie da.
»Hm«, machte sie. »Ich dachte …«
»Ich habe das im Griff«, behauptete Tom. Er schob sich an ihr vorbei und zeigte auf die Kartons und Kisten hinter der Tür. »Da, siehst du? Alles bereit für den Wintermarkt heute Nachmittag auf dem Obsthof Werder. Darum kann ich dich leider nicht länger unterhalten.«
»Ach, na gut.«
Dabei wusste er genau, wie wenig Ware in den Kartons war; gut möglich, dass ihm bei guten Verkäufen heute schon die ersten Produkte ausgingen.
Sie stand in der Kammer und sah so verloren aus. »Sorry«, murmelte sie. »Ist wohl besser, wenn ich …«
Jetzt hätte er sie gern in den Arm genommen und getröstet. Stattdessen fragte er sanft: »Was ist denn los?«
»Ich weiß es selbst nicht so genau«, flüsterte sie. »Ich glaube, ich brauche mal einen Moment für mich, okay?«
Er grinste. »Du kannst jederzeit nach Hause fahren.«
Bea schüttelte den Kopf. Das überraschte ihn. »Da wartet nichts auf mich«, erklärte sie lapidar.
»Also sorgst du lieber hier für Unruhe.«
Sie schien ernsthaft bemüht, sich wieder in den Griff zu bekommen. »Ich muss hier raus«, sagte sie. »Entschuldige …«
Sie kam aus der Kammer, drängte sich an ihm in der Enge der Werkstatt vorbei und öffnete die Tür. Den Kopf gesenkt, um ihn auf keinen Fall anzusehen.
»Setz dich zu den Bienen«, riet er ihr. »Ist im Moment nicht viel los, aber das finde ich immer sehr beruhigend.«
Sie nickte, gab sich einen Ruck und verließ die Werkstatt. Tom trat in die offene Tür, blickte ihr nach, wie sie mit hochgezogenen Schultern zu den Beuten lief und sich auf den Schlitten setzte. Die Haare fielen offen über ihren Rücken.
Er hätte ihr gern etwas Tröstendes gesagt.
Was war mit ihr los? Seit sie gestern telefoniert hatte, war sie nicht mehr sie selbst – soweit er das überhaupt beurteilen konnte, denn im Grunde kannten sie sich nicht.
Ging es ihn denn überhaupt etwas an?
Nein.
Tja, oder doch. Irgendwie. Denn das musste er sich ja nicht von ihr gefallen lassen, dass sie ihn derart attackierte, gerade so, als wäre er schuld an ihrer schlechten Laune.
Er sah sich in der Werkstatt um. Er gab es ungern zu, aber natürlich hatte Bea recht. Tante Grete hatte im Sommer, bevor es ihr so schlecht ging, noch ein paar Anmeldungen für verschiedene Weihnachtsmärkte vorgenommen; die Standmieten waren bezahlt, er müsste nur noch an den Adventswochenenden den Kastenwagen vollpacken und hinfahren – und dann eben verkaufen, was die Imkerei so hergab. Aber der Honig war nicht abgefüllt, die Wachsplatten nicht zu Kerzen verarbeitet, auch die kleinen Geschenkkörbchen – Holzkisten mit drei kleinen Honiggläsern und einer wie ein Bienenkorb geformte Kerze – hatte er noch nicht zusammengestellt.
Im Moment lebte er von einer Bestellung zur nächsten, schaute nicht zu oft aufs Konto, um sich nicht verrückt zu machen, weil es tiefrot im Minus war. Er machte sich lieber keine Gedanken darüber, wie er ohne die Weihnachtsmärkte und die gelegentlichen Verkäufe an den Schliekerhof von Beas Schwester über die Runden kommen sollte. Man musste doch das große Ganze betrachten, und da ging es für ihn in erster Linie darum, dass die Bienen gesund blieben. Gesunde Bienen lieferten den besten Honig, oder?
Und mit steigender Qualität könnte er auch die Preise anheben, weniger Honigwaben entnehmen … Es wäre ein Gewinn für alle.
Noch hing er aber weiter an Tante Gretes eher konventionellen Bewirtschaftung fest, und das hieß, dass er massenweise Waben ausschleudern musste, den Honig filtern, abfüllen, die Gläser etikettieren, verpacken – und das war nur der erste Schritt. Die leeren Waben musste er zum Imkerbedarf bringen, soweit er sie nicht selbst weiterverarbeiten wollte. Wofür er übrigens gar keine Zeit hatte, wenn man es genau nahm. Damit käme wenigstens noch ein bisschen Geld herein. Und darüber hinaus … ah nein, so weit wollte er lieber nicht denken. Das war schon mehr Arbeit, als einer allein schaffen konnte.
Wie hatte Tante Grete das früher bewältigt?
Darüber schrieb sie in ihrem Journal nämlich nichts.
Erst mal Kaffee kochen. Danach machte er sich an die Arbeit, einen Schritt nach dem anderen. Es brachte ja nichts, wenn er den ganzen Tag hier rumstand und nach draußen blickte, wo das Honighaar im leisen Wind wehte. Wo der Schneefall wieder einsetzte und sich die zarten Flocken auf Beas Scheitel setzten.
Er seufzte. Traurig sah sie aus, wie sie dasaß. Als könnte man das allein an ihrem Rücken ablesen.
Er schob die Tür zu, heizte den Bullerjan an und machte sich an die Arbeit. Für Kaffee wäre später noch genug Zeit.
* * *
Sie hätte jetzt gern einen Becher Kaffee von der Sorte, wie Tom ihn kochte: Stark, unwiderstehlich süß und fast schon ölig. Den hatte er ihr vorhin serviert, als sie aus dem Bad kam. Ein Kaffee, der die Lebensgeister weckte und es vermochte, die dunklen Wolken zu vertreiben, die sich über ihrem Kopf ballten.
Traurig war sie nicht, merkte sie, obwohl es sich im ersten Moment so anfühlte; es war eher eine Erschöpfung, die sie so nicht kannte. Seit sie gestern Abend vom Wein beschwipst aufs Sofa gefallen war … Nein. Gar nicht wahr.
Stefans Anruf war’s. Der hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Weil er so überraschend kam. Auch wegen seiner Irritation, dass sie nicht allein war. Was hatte er denn gedacht? Dass sie sich nach der Trennung die Augen nach ihm ausweinte? Oder dass sie für was auch immer zugänglicher wäre, wenn sie erst mal ein paar Monate getrennt lebten?
Er hielt schließlich ein halbes Dutzend originalverpackter Zahnbürsten vor, falls er Übernachtungsbesuch hatte. Tom war nicht so vorausschauend, weshalb sie heute früh mit sehr schlechtem Gewissen nur auf sein Mundwasser zurückgreifen konnte. Klar, wenn sie einmal nicht die Zähne putzte, würden sie nicht sofort Karies kriegen.
Aber küssen wollte sie so auch niemanden.
Ach, Quatsch. Wer war denn hier zum Küssen …?
Du könntest mich küssen.
»Halt die Klappe«, murmelte sie. Herrgott, konnte die Stimme in ihrem Kopf nicht endlich mal die Klappe halten?
Willst du denn, dass ich die Klappe halte?
Das war es ja – auf keinen Fall. Sie wollte mit Tom reden. Über alles. Und deshalb hatte sie sich in einer Situation wiedergefunden, in der sie ihm Vorträge darüber hielt, wie man eine Imkerei betrieb. Sie wusste ja, dass sie besserwisserisch sein konnte, und ihre Position als Chefärztin trug nicht gerade dazu bei, dies zu entschärfen. Stefan hatte immer betont, dieses Beharren auf Wissen sei auch ihre größte Stärke, es dürfe nur eben nicht in allen Lebensbereichen überhandnehmen.
Tja, das ist wohl gerade passiert, oder? Tut mir echt leid, Tom.
Sie sah wieder sein Halblächeln, frech und ein bisschen herausfordernd.
Schon okay. Ich mag das.
Oh, was magst du denn noch alles …?
Als ob es irgendjemand mochte, wenn eine Klugscheißerin daherkam und einem sagte, wie man seinen Job zu machen habe. Das war in der Onkologie okay, weil sie sich dort wirklich auskannte. Hier war’s einfach nur daneben.
Sie fühlte sich beobachtet, sich und ihre Gedanken über Stefan, Tom, die Imkerei, Zahnbürsten und Küsse. Als könnte man ihrem Hinterkopf ansehen, dass sie sich gerade vorstellte, einen anderen zu küssen als ihren bald Ex-Mann.
Sein Anruf. Hätte sie den mal überhört, dann ginge es ihr jetzt nicht so komisch. Genau, der war schuld. Gar nicht die Tatsache, dass sie sich gerade vorstellte, wie ein Imker sie wärmte und küsste.
Dabei war es ja gar nicht um etwas Privates gegangen, sondern um das, was immer im Mittelpunkt ihrer Beziehung gestanden hatte: die Arbeit. Und dann blieb er auch noch so kryptisch, wollte gar nicht damit herausrücken, worum es ging. Wollte er ihr ein Angebot machen? Ein letzter Versuch, sie an seine Klinik abzuwerben, sie in die Forschung zu holen?
»Gib’s auf«, flüsterte sie in den leisen Schneefall und zog den Mantel enger um ihre Schultern. Sie hatte ihre Mütze im Haus vergessen, und mit ihren dünnen Chucks war sie auch nicht gerade optimal auf das Wetter vorbereitet. Wer rechnete auch im November schon mit Schneefall?
Sie beobachtete die Bienen. Das war seltsam entspannend, und angenehm war es auch, denn von den Beuten, die vor ihr standen, flog keine Biene auf. Bienen beobachten hieß also, auf die bunten Bretter unter den Einfluglöchern zu schauen, auf denen keine Bewegung war. Wie viel aufregender musste es im Sommer sein, wenn ein stetes Kommen und Gehen herrschte und die Sammlerinnen von ihren Ausflügen heimkehrten, am Flugloch empfangen wurden, ihre Schwestern ihnen den Nektar abnahmen, damit sie rasch wieder ausfliegen konnten … Bea hatte sich ja ein wenig Wissen darüber angelesen, wie Bienen lebten, und sie hätte sich gern mit Tom darüber ausgetauscht. Er wusste bestimmt noch mehr, schließlich arbeitete er täglich mit den Bienen.
Sie runzelte die Stirn. Allerdings … Die Fluglöcher bei den Beuten dort drüben, die sahen irgendwie komisch aus … größer als bei den anderen, oder?
Hatte Tom etwa vergessen, sie bei diesen Beuten für den Winter zu verkleinern? Das war wichtig – hatte sie gelesen –, damit keine Vögel oder Spitzmäuse in den Stock eindrangen und die Bienen räuberten.
Bea stand auf und ging etwas näher. Sie blieb etwa fünf Meter von den Beuten entfernt stehen, legte den Kopf schief, beobachtete einfach nur. Ein bisschen flößten ihr die Bienen schon Respekt ein, auch wenn sie genau wusste, dass sie zu dieser Jahreszeit schliefen.
Trotzdem – die Vorstellung, dass da pro Beute ungefähr zehntausend Bienen dicht aufeinanderhockten und einander wärmten, das war schon eine beeindruckende Zahl …
Und es wäre zu schade, wenn ein Stockräuber den Bienen Schaden zufügte …
Sie gab sich einen Ruck und stapfte zurück zur Werkstatt. Durch das Sprossenfenster neben der Werkstatttür sah sie im Innern Bewegung. Tom stand über die Honigschleuder gebeugt und bestückte sie gerade mit neuen Waben. Seine Bewegungen waren ruhig, dabei effizient und entspannt. Sie mochte, wie er arbeitete. Er schien ganz in dieser Aufgabe aufzugehen, das gefiel ihr.
Tom blickte auf, als sie hereinkam.
»Ich frage mich, ob du vielleicht ein paar Fluglöcher vergessen hast«, platzte sie heraus.
Er richtete sich auf. Gerade hatte er die Flussgeschwindigkeit überprüft und stellte nun einen neuen Eimer für den Honig auf. Diesmal hatte er an das Sieb auf dem Eimer gedacht, mit dem man direkt nach dem Schleudern Wachsreste und andere Bestandteile aus dem Honig filtern konnte.
»Wo habe ich Fluglöcher vergessen?«
»Als du die Bienen winterfest gemacht hast.«
»Ach so.« Er kratzte sich am Nacken. »Da fehlen welche?«
»Glaub schon.«
»Okay, ich komme gleich.«
Er blickte noch mal auf den Honig und versuchte abzuschätzen, ob er jetzt dabei weggehen konnte, ohne dass der süße Nektar überlief.
»Wenn du sie schon störst, kannst du vielleicht auch auf Varroa prüfen?«, schlug Bea vorsichtig vor. Zu eindrücklich waren ihr die Einträge in Margarete Zeidlers Journal in Erinnerung, in denen sie darüber schrieb, wie sie einen Teil ihrer Bienen durch die Varroamilbe verloren hatte.
»Varroa haben die nicht. Ich habe sie im Herbst genau beobachtet«, versicherte Tom ihr selbstbewusst.
»Hm«, machte Bea.
Er zögerte. »Na ja, ist schon etwas her, seit ich sie geprüft habe. Wir schauen mal, okay?«
Er ging hinaus, und als Bea ihm nicht sofort folgte, rief er: »Kommst du? Ich kann das kaum alles allein tragen.«
»Willst du denn, dass ich helfe?«, fragte sie.
Er blieb stehen. Sie folgte ihm etwas langsamer.
»Bisher hatte ich nämlich nicht den Eindruck«, fügte sie hinzu.
Er steckte die Hände in die Hosentaschen seiner Jeans, kickte einen imaginären Stein vor sich her.
»Also gut, ich geb’s zu. Du nervst schon sehr mit deinem angelesenen Wissen.«
Bea lachte. »Mich nervt das ja auch«, räumte sie ein.
»Aber du kannst nicht anders?«
Sie zuckte hilflos mit den Schultern.
»Na, dann komm. Wollen wir doch mal sehen, ob wir das theoretische Wissen in ein praktisches Tun verwandeln können.«
Bea lächelte, denn irgendwie fühlte sie sich gerade ein bisschen so, als hätte er sie als freie Mitarbeiterin bei Zeidlers Bienenschwarm aufgenommen.
Die Beuten standen in einer nicht erkennbaren Ordnung; manche vorne, viele in der Mitte, alle mit dem Flugloch in dieselbe Richtung. Bea blieb bei dem Kinderschlitten stehen, während Tom zu der Beute ging, von der sie glaubte, sie sei nicht in Ordnung. Er bückte sich, untersuchte das Flugloch. Sie hörte ihn brummeln, gerade so, als bemerkte er seinen Fehler, wollte ihn aber nicht offen zugeben.
»Ich kümmere mich darum«, sagte er.
»Und die Varroa?«
Sie versuchte, ihrer Frage die Schärfe zu nehmen, sagte es leise, fast ehrfürchtig. Tom seufzte. Er richtete sich auf, seine Hand fuhr in den Nacken. »Die Varroa ist kein Problem«, beharrte er. »Ich habe das im Griff.«
»Machst du regelmäßig eine Stockkontrolle? Und behandelst du sie? Mit Oxalsäure oder mit Ameisensäure?«
Sie merkte selbst, dass sie mit ihren Fragen übers Ziel hinausschoss. Tom aber grinste nur. »Möchtest du mal in den Bienenstock hier schauen?«, fragte er.
Sie nickte und kam langsam näher. Als könnte jede heftige Bewegung einen riesigen Bienenschwarm aufstöbern.
»Sie sind ganz ruhig und entspannt«, versicherte er ihr.
»Ich habe keine Angst«, beteuerte Bea.
»Als ich das erste Mal bei den Bienen war, hatte ich riesige Angst. Habe ich mir nicht anmerken lassen. Nicht mal die Bienen haben was bemerkt, ich war einfach der coole Achtzehnjährige, der einzelne Arbeiterinnen mit den Fingern von einem Rähmchen fegte. Es ist ganz normal, wenn du dich anfangs unwohl fühlst. Sie sind dir fremd. Das bist du ihnen aber auch. Und wenn du sie lieb bittest, lassen sie sich gern anschauen.«
Bea runzelte die Stirn. Meinte er das ernst?
Du kannst mir vertrauen.
Das sagte er ja damit. Sie wollte ihm vertrauen, und neugierig war sie auch. Also näherte sie sich der Beute. Tom nahm den Deckel ab und lehnte ihn seitlich an den Holzkasten. Von oben betrachtete sie die Rähmchen, die nebeneinander aufgereiht waren. In der Mitte der Beute konnte sie zwischen zwei Rähmchen ein paar Bienen erkennen, deren Flügel leicht bebten.
»Das sind die Mantelbienen«, erklärte Tom. »Sie sitzen außen an der Wintertraube. Wenn es ihnen dort zu kalt wird, drängen sie weiter nach innen, wo es wärmer ist. Nur die Königin bleibt den ganzen Winter in der Mitte, wo es muckelige 37 Grad hat.«
»Mh, wie eine kleine Bienensauna«, murmelte Bea.
»Sie wärmen sich aneinander. Das ist schön, oder?«
Sie lächelte still. Ja, das wäre schön. Sich von Tom wärmen lassen – sie hätte absolut nichts dagegen.
Wie um ihrem Gedanken Nachdruck zu verleihen, fröstelte sie und stampfte auf den gefrorenen Boden. Sie hatte eindeutig das falsche Schuhwerk an für diesen Ausflug zu den Bienen.
»Du frierst«, stellte er fest und machte Anstalten, die Beute wieder zu schließen.
»Nein, lass.« Sie streckte die Hand nach seinem Arm aus. »Erzähl mir mehr von den Bienen.«
Er blickte sie an, den Deckel in der Hand. Dann stellte er ihn ab. »Was möchtest du wissen?«
Sie lächelte. »Alles.«
»Aber du weißt doch schon alles.«
Bea schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur das, was ich gelesen habe.«
Er erwiderte ihr Lächeln, und seine Stimme klang irgendwie ganz warm und fast ein bisschen zärtlich. »Aber du hast viel gelesen, seit du das letzte Mal hier warst.«
Sie spürte, wie ihre Wangen warm wurden, dem beißenden Wind trotzend, der selbst hier im Schutz des Waldrands eine erstaunliche Kraft hatte.
»Weil ich das Tagebuch deiner Tante gelesen habe.«
»Ach, hast du?« Er zuckte mit den Schultern.
»Dich stört das gar nicht.«
»Wieso auch? Sie hat es dir gegeben.«
»Ja, damit ich es dir bringe.«
»Und ich will es nicht. Mach damit, was du willst. Ich kann mich irren, aber das war eine Schenkung von ihr an mich und im Anschluss eine von mir an dich.«
Sie hätte gern etwas erwidert. Dass er so spitzfindig sein konnte!
»Wir können uns gern weiter über die Bienen unterhalten. Meinetwegen den ganzen Tag. Aber ich habe eine Bedingung«, sagte Tom.
»Und die wäre?« Ihr Herz schlug hart gegen die Brust. Wieso bloß?
Weil ich mich gerade in dich verliebe.
Mach das nicht.
Ach Mann, in ihrer Vorstellung war er entweder der zugewandte, liebe Kerl oder der distanzierte Blödmann, der den Anschein machte, nicht gut für sie zu sein.
Sie sollte sich langsam mal entscheiden.
»Ich will nichts mehr von Tante Grete hören. Sie ist erwachsen und trifft ihre eigenen Entscheidungen. Ich mache mir vielleicht Sorgen, aber sie hat dich auch benutzt, und das finde ich nicht in Ordnung. Auch wenn es schön ist, dass du hier bist«, fügte er hinzu.
»Aber ihr Journal …«
»Nein«, schnitt er ihr das Wort ab. Also doch der Blödmann?
Tom atmete tief durch. Er legte den Deckel zurück auf die Beute und machte zwei Schritte zurück. Seine Hände fuhren durchs Gesicht.
»Was ist das mit deiner Tante und dir?«, fragte Bea behutsam, auch weil sie nicht wusste, ob sie das Recht hatte zu fragen. Sicher nicht.
Tom lachte. »Kompliziert ist das«, sagte er schließlich. »Ich meine, sie will mir das hier überlassen, aber weil ihr nicht passt, wie ich das mache, verschwindet sie aus dem Krankenhaus. Ich habe ihr nichts getan. Aber ich will es auf meine Art versuchen.«
»Auch wenn du damit den Bienen schaden könntest?« Sie dachte daran, wie er die Bedrohung durch die Varroa leugnete. Wie ein Senior, der glaubte, er müsse sich nicht gegen Influenza oder Pneumokokken impfen, das würde schon gut gehen. Ja, ging es auch. Bis es dann gründlich schiefging.
»Sie sind stärker als die Varroa. Sie müssen doch dagegen ankämpfen können, oder? Das stärkt ihre Immunität, es wird für den Herdenschutz sorgen. Wenn wir die Varroa immer wieder mit aggressiven Mitteln bekämpfen, wird der Bien es nie lernen.«
»Oder er wird daran zugrunde gehen«, murmelte Bea.
»Na ja. Heute können wir ohnehin nichts machen. Ich werde aber mal Windeln unter zehn Beuten einlegen, die kann ich dann in einer Woche auszählen. Einverstanden?«
Sie nickte. Hey, sie hatte ihn überzeugen können – das war irgendwie ein gutes Gefühl.
»Erzählst du mir jetzt mehr über sie?«, fragte Bea.
Tom lächelte. »Sehr gern«, sagte er schlicht. Und dann begann er zu erzählen.
Sie vergaß alles um sich herum. Es gab diesen Mann, die Beuten, dieses kleine Stückchen Erde, das vom Schneegestöber umschlossen völlig losgelöst schien von der Welt da draußen. Als könnte man sich einfach von allem lossagen.
Schön wäre das. Unmöglich, weil anderswo so vieles wartete. Aber zumindest kurz die Vorstellung genießen, wie es wäre – das wollte sie.
Als sie viel später zum Haus zurückspazierten, spürte sie Toms Hand an ihrem unteren Rücken, er ging halb hinter ihr, halb neben ihr, es war nur der Flügelschlag einer Berührung, damit sie stehen blieb.
Drei Rehe standen am Waldrand und ästen. Eins hob den Kopf, dann stoben sie wie auf ein stilles Zeichen davon.
»Die besuchen mich oft«, sagte er.
Ich würde dich auch gern öfter besuchen.
Dann komm doch. Meine Tür steht immer für dich auf.
Sie atmete tief durch.
»Darf ich wiederkommen?«, fragte sie plötzlich.
Er sah sie an und lachte. »Ähm, ja klar? Also, jederzeit.«
»Das ist gut.« Sie lächelte.
Nur Freunde, redete sie sich ein. Dieses andere Gefühl da, das würde sich mit der Zeit verflüchtigen.
Aber Freunde könnten sie werden, gar kein Problem.