Manchmal musste man eben was riskieren.
Bea hatte es wirklich versucht. Sie hatte Tom noch geholfen, sein Auto vollzuladen, bevor sie sich verabschiedeten. Sie fuhr heim, duschte heiß und ausgiebig, zog Jogginghose und ein überdimensionales Sweatshirt an, drehte die Heizung auf und strich eine halbe Stunde vor dem Bücherregal herum, ohne sich entscheiden zu können, was sie lesen wollte.
Wem machte sie eigentlich was vor? Sie rief Lena an.
»Du musst mit mir auf den Wintermarkt auf dem Obsthof Werder gehen«, sagte sie anstatt einer Begrüßung.
»Wie schön, dass du auch mal am Wochenende was unternehmen willst.« Lena gluckste. »Leider habe ich heute schon was vor.«
»Oh, Lena! Das kannst du mir nicht antun.«
»Warum?«
Bea seufzte. »Da gibt’s einen Mann. Er ist Imker.«
»Oh, ich höre? Erzähl mir mehr!«
»Ich denke, du hast keine Zeit?«
»Wenn es einen Mann gibt, habe ich alle Zeit der Welt. Hier geht gerade der Brotteig und ich bewache den Eintopf für heute Abend. Du kannst also gern herkommen und mir bei der Bügelwäsche helfen.«
»Vielen Dank, ich verzichte.«
»Also los. Woher kennst du ihn? Und was muss das für ein toller Kerl sein, dass du dich in ihn verliebst?«
»Ich habe mich nicht verliebt.« Noch nicht, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Noch nicht.« Manchmal kannte Lena sie einfach zu gut. »Aber hey, ich freue mich sehr für dich. Und nun erzähl schon.«
Bea zog die Sofadecke über ihre Knie.
»Was willst du wissen?«
»Alles.«
Bea lachte. Und dann begann sie zu erzählen.
* * *
Zweifelnd ließ Tom den Blick über seinen Verkaufstisch gleiten. Eigentlich sah doch alles gut aus – hier die Gläser mit dem Honig, dort die Kerzen. Ein paar Wachsplättchen hatte er noch in Tüten abgepackt und verkaufte sie als Do-it-yourself für Wachstücher, darauf standen die Städter neuerdings ja. Die Anleitung dafür hatte er aus dem Internet ausgedruckt und beigelegt.
Trotzdem. Sein Tisch sah irgendwie … leer aus. Er ärgerte sich darüber. Selbst schuld; er hätte den ganzen Herbst lang Zeit gehabt, sich darum zu kümmern. Die kleinen Bienenkörbchen aus Wachs zu gießen. Geschenksets mit kleinen Honiggläsern zusammenzustellen. Flyer zu gestalten, damit Interessierte auch größere Mengen Honig direkt bei ihm kaufen konnten. Jetzt erst fielen ihm all die Dinge ein, die er hätte machen können.
»Na, das sieht ja mal en büschen mickrig aus.« Linde Werder war eine stämmige Mittfünfzigerin mit rotem Gesicht und raspelkurzem, lila gefärbtem Haar. Sie schritt die einzelnen Verkaufsstände in ihrer hohen, geräumigen Deele ab und unterhielt sich mit den Verkäuferinnen. In wenigen Minuten würden die ersten Besucherinnen kommen.
»Tja, das lief dieses Jahr nicht so gut wie erhofft.«
Sie blieb stehen. »Geht’s Margarete besser?«, erkundigte sie sich.
»Ich weiß es nicht«, gab Tom zu. »Ich hoffe.«
Etwas Argwöhnisches blitzte in ihren dunkelgrünen Augen auf. »Ach?«
»Sie ist vor ein paar Tagen verschwunden. Sicher bei einer Freundin untergekrochen. Die Krankheit macht ihr zu schaffen.«
Das schien ihr einzuleuchten; klar, Margarete Zeidler, die verkroch sich lieber bei einer Freundin, statt von ihrem Neffen und Nachfolger betüddelt zu werden.
»Na dann mal schöne Grüße, wenn du sie siehst.«
»Richte ich aus, danke.«
Sie klopfte auf den halbvollen Tisch und ging zum nächsten Stand, wo zwei hagere Frauen jenseits der siebzig beisammenstanden. Ihre Hände fanden keine Ruhe, sie strickten in Rekordtempo Socken, die sich paarweise bereits auf dem Tisch häuften.
»Die Redeker-Schwestern haben sich dieses Jahr wieder mal selbst übertroffen«, rief Linde ihnen entgegen, und die beiden Damen strahlten. Sie blieb bei ihnen stehen, die drei steckten die Köpfe zusammen, eine der Strickomis guckte sogar zu ihm rüber und runzelte die Stirn.
Klar, sie redeten über ihn. Zerrissen sich das Maul darüber, dass Tante Grete nicht da war und er mit so wenig Ware angerückt war.
Es war ihm selbst peinlich. Er hatte gedacht, die Sachen würden locker für den drei Meter langen Tisch reichen. Es sah aber etwas kümmerlich aus.
Davon wollte er sich jetzt nicht unterkriegen lassen. Die ersten Besucherinnen betraten die festlich erleuchtete Deele. Linde Werder lief weiter und die Redeker-Schwestern winkten ihm zu, gerade so, als hätten sie nicht über ihn gelästert.
Er wurde vom Interesse der Kundinnen überrollt. Die ersten standen bald um seinen Tisch herum, sie befingerten die wenigen Kerzen, die er fächerförmig ausgebreitet hatte, lasen die Etiketten auf den Honiggläsern, vor allem aber kauften sie. Viele ließen Grüße an seine Tante ausrichten, gerade so, als wäre der Einkauf bei Zeidlers Bienenschwarm für sie eine feste Institution auf diesem kleinen Wintermarkt.
»Hallo.«
Er blickte auf. Gerade hatte eine Lehrerin bei ihm zehn Gläser Honig gekauft. »Das Übliche«, hatte sie gemeint. »Für die Lieblingskolleginnen.« Und ihm dann, weil er nicht wusste, wer ihre Kolleginnen waren, von der Grundschule erzählt, an der sie unterrichtete. »Grüßen Sie Ihre Tante. Wir alle vermissen sie sehr.«
»Das tue ich auch«, murmelte er.
Und nun stand sie vor ihm. Nein, nicht Tante Grete, auch wenn ihn das nicht gewundert hätte, sondern …
»Was machst du denn hier?«, murmelte er.
»Dir helfen.«
Bea schlüpfte hinter den Tisch. Sie bückte sich, zog einen Karton mit Honig darunter hervor und begann, aus den Gläsern eine hübsche Pyramide zu bauen. Sie trug einen dunkelroten Norwegerpulli über den hellblauen Jeans und wieder die Lammfellstiefel. Genau richtig, um ein paar Stunden in der zugigen Deele zu stehen. Die Haare hatte sie zu einem praktischen Pferdeschwanz hochgebunden.
»Du musst alles auf den Tisch bringen. Wenn’s später leer aussieht, ist das nicht schlimm«, erklärte sie ihm. Gerade so, als hätte sie schon jahrelange Marktstanderfahrung.
Er hätte ihr gern erklärt, er kenne sich aus, vielen Dank auch, aber da trat schon wieder eine Kundin an den Tisch, und diesmal sprach sie nicht ihn an, sondern Bea. Staunend beobachtete Tom, wie sie ganz selbstverständlich die Beratung übernahm und drei kleine Schachteln mit Bienenwachskerzen verkaufte. Die Geldkassette klappte zu, sie wünschte der Kundin noch einen schönen Tag.
Eine kurze Verschnaufpause. Die nutzte er und stellte Bea zu Rede. »Was machst du hier?«
»Mir war zu Hause langweilig. Ich wollte gucken, wie das hier so läuft. Und dann habe ich gesehen, dass du viel zu tun hast.« Sie senkte den Blick. »Ich dachte, du freust dich über etwas Hilfe.«
Sofort tat es ihm leid, weil er sie so angeblafft hatte. »Könnte ich tatsächlich brauchen, hm.«
Aber es war ihr Wochenende. Sie hatte ihm heute Vormittag schon so viel geholfen.
»Nicht gut?«, fragte sie leise.
»Doch.« Er gab sich einen Ruck. »Sogar schön.«
Sie lächelte. Und vielleicht lag ihr noch eine Antwort auf der Zunge, aber dann begann schon der nächste Ansturm.
* * *
Drei Stunden später war alles vorbei, und Bea starrte völlig überwältigt auf den fast leergeräuberten Tisch. »Du meine Güte«, meinte sie. »Was war das denn?«
Tom schloss die Geldkassette ab und begann aufzuräumen. »Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Aber ohne dich hätte ich das nicht geschafft.«
Sie waren ein gutes Team gewesen. Hatten den Ansturm zeitweise nur bewältigen können, indem sie Hand in Hand arbeiteten – eine beriet, einer verpackte und kassierte. Oder umgekehrt. Auf jeden Fall schafften sie es mühelos, gerade so, als würden sie das schon jahrelang gemeinsam machen. Keine Spannungen, kein Gezicke. Bea war froh über die paar Stunden, die sie bei Alix ausgeholfen hatte, denn das hatte ihr schon eine ungefähre Vorstellung davon gegeben, wie es war, im Verkauf zu stehen.
Sie war völlig erledigt. Ihre Füße schmerzten vom langen Stehen, sie hatte Durst und ihr Magen knurrte. Zwischendurch war einfach keine Pause möglich gewesen.
Sie half Tom beim Aufräumen. Als sie die dunkelgrüne Decke zusammenfalteten, die er untergelegt hatte, kam die Obsthofbesitzerin vorbei. »Ihr zwei habt das super hingekriegt!« Sie reckte beide Daumen in die Höhe. »Seid ihr nächstes Wochenende auf dem Adventsmarkt drüben in Stade?«
»Wahrscheinlich«, meinte Tom. Der Blick, den er Bea zuwarf, ging ihr durch und durch. Als wollte er wissen, ob er auch am kommenden Wochenende auf sie zählen konnte.
Ja, dachte sie. Das wäre schön. Mit Tom über die Märkte tingeln. Auch wenn’s unfassbar anstrengend war und sie keine Ahnung hatte, wie sie das neben ihrer täglichen Arbeit in der Klinik schaffen sollte.
Außerdem gab es da noch ein anderes Problem …
»Drüben am Glühweinstand gibt’s noch Reste. Holt euch was, geht aufs Haus.«
»Bratwürstchen auch. Wenn ihr mögt.« Linde – was für ein wunderschöner Name! – klopfte auf den Tisch und ging weiter.
»Hunger?«, fragte Tom.
»Und wie!«
»Ich hole uns was.« Er nahm eine der leeren Kisten hoch. »Die bringe ich schon mal weg.«
Sie hockte sich auf einen Klappstuhl und atmete tief durch. Aus der Gesäßtasche hangelte sie ihr Handy.
Mehrere Nachrichten von Stefan. Sie runzelte die Stirn.
Du bist gar nicht zu Hause! Bud Spencer und ich wollten dich eigentlich überraschen …
Darunter ein Foto von dem kleinen Cocker Spaniel vor ihrer Wohnungstür.
Die Nachricht war vom frühen Nachmittag, als sie bereits unterwegs zum Wintermarkt war. Glück gehabt, dachte sie. Wäre sie zu Hause gewesen, hätte sie kaum ein Argument gefunden, warum sie nicht mit ihrem Ex und dem Hund eine große Spazierrunde drehen sollte. Nicht, weil sie gern viel Zeit mit Stefan verbrachte. Aber sie hätte sich so gefreut, Bud Spencer zu sehen.
Etwas störte sie an dieser Aktion ganz gewaltig. Was bezweckte Stefan damit? Er hatte die Beziehung beendet, hatte sie mit der Trennung zutiefst verletzt. Es hatte Monate gedauert, bis sie einen halbwegs normalen Umgang mit ihm pflegen konnte, und sie sehnte den Tag herbei, an dem die Scheidung rechtskräftig wurde, sie ihren alten Namen wieder annehmen konnte. Wieso ließ er sie nicht in Ruhe?
Es wäre ja kein Problem, wenn sie sich verabredeten und er dann zu ihr kam. Aber so ein Überfall …
»Ich hoffe, du magst Currywurst.«
Sie blickte auf. Tom stellte ein Tablett auf den Tisch, es gab Glühwein aus dunkelgrünen Bechern und in Pappschälchen schwammen die kleingeschnittenen Würstchen in einer Sauce, die großzügig mit Curry bestäubt war.
»Ich habe einen Bärenhunger.«
Er grinste. »Hoch die Tassen! Und danke noch mal. Du hast mir heute den Arsch gerettet.«
»Ach was.« Sie nickte zu den leeren Kartons unter dem Tisch. »Da hast du unter der Woche aber viel zu tun.«
Er wirkte etwas ratlos. Mit dem Pappschälchen in der Hand setzte er sich neben sie auf den zweiten Klappstuhl. Ziemlich dicht neben sie. Bea lehnte sich ein bisschen zu ihm herüber, mit ihrer Holzgabel mopste sie ihm ein Stückchen Wurst.
»Hey!« Seine Augen blitzten vergnügt.
»Das ist nur fair, ich arbeite schließlich ohne Bezahlung.«
»Hm, stimmt«, brummte er.
»Du könntest mich in Honig bezahlen.«
»Ich habe auch Kerzen. Oder nein, im Moment leider nicht.«
»Schaffst du das? Ich meine, die Kerzen und den Honig bis zum kommenden Wochenende zu produzieren?«
»Schon. Aber nächstes Wochenende läuft da nichts. Ich habe vergessen, die Standmiete zu überweisen. Bei allen anderen Märkten hatte Tante Grete das noch gemacht.«
»Oh nein, wie ärgerlich.« Sie wusste aus dem Journal seiner Tante, wie wichtig die Märkte im Advent für ihr Einkommen gewesen waren. Wenn einer von fünf Märkten wegbrach, bedeutete das eine ganz schön heftige Umsatzeinbuße.
»Wird schon. Habe ich mehr Zeit für die anderen Märkte. Hast du Lust?«
Sie lächelte. »Worauf genau?«
»Mir zu helfen. Ich würde dich nicht fragen, du hast sicher genug zu tun. Aber du warst hier, hast mit angepackt, gerade so …« Er zuckte mit den Schultern, spießte das letzte Stückchen Currywurst auf und faltete die Pappschale zusammen. »Als gehörtest du dazu.«
Seine Worte erzeugten eine Wärme in ihrem Bauch, und zu gerne hätte sie sich ganz diesem Gefühl hingegeben. Hätte sich noch mal bei ihm angelehnt. Aber gerade, als sie genau das tat, stand Tom auf, trank seinen Glühwein aus und streckte die Hand nach ihrem Becher aus. »Kann ich den mitnehmen?«
Bea wäre fast auf seinen leeren Stuhl gekippt. Sie stützte sich ab, sah bestimmt total bescheuert aus, wie sie da zwischen den Stühlen hing. Der Rest Glühwein aus ihrem Becher ergoss sich über ihren geliebten Norwegerpulli. Wie sinnbildlich für ihr aktuelles Leben!
»Hoppla. Alles okay?«
»Nix passiert!« Wie zum Beweis hob sie beide Hände. Er blieb stehen, musterte sie. Lächelte so wohlwollend auf sie herab, dieses warme, kribbelige Gefühl wollte gar nicht mehr verschwinden.
»Das war ein toller Tag«, sagte er dann. »Mit dir.«
»Das ging mir auch so.«
Erneut streckte er die Hand aus, und in ihrer Verwirrung dachte sie kurz, er wollte ihre Hand nehmen. Tom lachte, als sie ihm ihre leere Hand entgegenreckte. »Der Becher!«
»Ach klar, hier.« Sie gab ihm den Becher und stand auf. Tom marschierte mit dem Tablett zum Glühweinstand. Sie steckte die Hände in die Gesäßtaschen ihrer Jeans und blickte ihm nach.
»Ihr passt gut zusammen!«
Linde Werder drehte sich kurz zu Bea um, sie machte ihre letzte Runde und verabschiedete gerade die Strickomis, die mit leicht geröteten Wangen die letzten Kisten mit Socken nach draußen schleppten.
Bea lächelte nur.
Passten sie gut zusammen? Der chaotische, naturverbundene und in wirtschaftlichen Dingen völlig ungeschickte Tom Zeidler und die naturwissenschaftliche, kühl rechnende Dr. Bea Heinemann? Sie könnten kaum verschiedener sein.
Und trotzdem: Ein Fünkchen Wahrheit war dran an diesen Worten. Sie beschloss, dass sie ruhig auch mal was riskieren konnte.
»Ich bringe dich heim, okay?«
Tom war zurück. Er nahm den letzten Karton vom Tisch. Bea folgte ihm.
»Ich kann selbst fahren«, widersprach sie. Außerdem musste sie ja morgen früh zur Arbeit, wie sollte das ohne Auto gehen?
»Ach so. Ja, dann …«
Er begleitete sie zu ihrem Wagen. Der Hof lag leer im Dunkeln, die meisten Ausstellerinnen waren inzwischen schon weggefahren. Bea winkte den Redeker-Schwestern und ärgerte sich; ein Paar Wollsocken wären jetzt genau das Richtige für ihre trotz ihrer dicken Stiefel zu kleinen Eisklötzchen gefrorenen Füße.
»Mach’s gut.« Sie stand mit dem Schlüssel in der Hand neben ihrem Auto.
»Du auch.« Er regte sich nicht. Bea seufzte, jetzt verstand sie – sein Angebot war mehr als pure Höflichkeit gewesen und sie hatte ihn direkt abblitzen lassen. Verflixt! Sie war einfach viel zu unerfahren in diesem Spiel.
»Bis bald?«, fragte sie.
Seine Miene hellte sich auf.
Dieses Lächeln blieb ihr, als sie vom Hof fuhr. Sie schaltete das Radio ein, sang leise mit. Selbst Last Christmas von Wham konnte sie jetzt nicht aus ihrer überaus feierlichen Stimmung reißen.
Tom und sie hatten doch alle Zeit der Welt. Sie mussten sie nur richtig nutzen.