Kapitel 13

Bea schloss die Küchentür leise hinter sich. Tom lag auf dem Fenstersofa, er hatte die Decke bis ans Kinn gezogen, lag ganz still auf dem Rücken. Eingeschlafen, keine Viertelstunde nachdem sie von ihrem Rettungseinsatz bei den Bienen zurückgekehrt waren. Sie wusste, dass jemand noch in der Werkstatt aufräumen musste. Er hatte einfach alle Sachen auf den Tisch geknallt und war wütend Richtung Haus davongestapft. Als sie wenig später zurückkam, lag er schon dort und starrte an die dunklen Fachwerkbalken an der Decke.

»Ich will jetzt nicht reden«, knurrte er, bevor sie etwas sagen konnte.

Sie versuchte, sich nicht zu sehr von seiner miesen Stimmung verletzt zu fühlen. Versuchte zu verstehen, dass die Behandlung der Bienen ihn viel Kraft gekostet hatte. Die einzelnen Arbeitsschritte gar nicht mal; es war der Umstand, den Bienen wehtun zu müssen, damit sie überleben konnten, der ihm nicht behagte. Das hatte sie gemerkt. Wie er mit jeder Beute grimmiger wurde. Seine Bewegungen ungeduldiger, sein Blick finsterer. Er sprach kaum mehr mit ihr, verständigte sich nur mit Handzeichen, als könnte sie seine Gedanken lesen.

In gewisser Weise konnte sie das.

Sie verstand seinen Schmerz.

Als sie das erste Mal einer Patientin im persönlichen Gespräch erklärte, wie eine Chemo ablief, welche Risiken und Nebenwirkungen damit einhergingen … Am liebsten hätte sie der vierfachen Mutter mit Brustkrebs versprochen, dass sie wieder gesund werden würde. Aber sie wusste, das durfte sie nicht. Danach hatte sie sich im Pausenraum versteckt, weil sie es nicht ertrug, wie ihr Gegenüber sie angestarrt hatte. Wie sie fragte: »Und wenn das nicht hilft?«

»Dann«, hatte sie gestottert, »finden wir andere Optionen.«

Sie hatte gehofft, dass sie als junge Ärztin jene Souveränität ausstrahlen würde, mit der sie ihrer Patientin ein kleines bisschen Hoffnung schenkte, aber nach dem Gespräch fühlte sie sich so verunsichert, als müsste sie selbst am nächsten Morgen zur Chemotherapie antreten.

Seitdem hatte sie einen langen Weg zurückgelegt. Inzwischen war sie besser darin geworden, im Gespräch mit Patientinnen Nutzen und Risiken einer Behandlung so zu gewichten, dass ihr Gegenüber sich mehr Hoffnung machte und über die Nebenwirkungen nur müde lächelte. Entscheidend aber war, dass sie die einzelnen Schicksale nicht mehr an sich heranließ, ohne dabei der Patientin gegenüber Kälte oder Distanz zu zeigen. Es war eine innere Distanz. Weil es niemandem half, wenn sie als Kämpferin an vorderster Front den Kopf verlor.

Sie wusste, dass beides möglich sein musste – kühl berechnend im Tumorboard den Behandlungsplan aufstellen, diesen mit der Patientin besprechen und dabei so viel Mitgefühl aufbringen, dass die Erkrankte daraus Kraft und Hoffnung schöpfen konnte.

Dazwischen aber stand sie – mit ihrer eigenen inneren Leere, ihrem tiefen Schmerz darüber, dass sie nicht alle retten konnte. Dies alles verschloss sie, zeigte es nicht nach außen. Weil es keinen Unterschied machen würde, wenn irgendjemand wusste, wie hilflos manche Krankheitsverläufe sie machten.

Man durfte nicht verzagen, auch wenn es aussichtslos schien. Daran hielt sie sich.

Als Tom zögerte, hatte sie ihn ermutigt, hatte ihn dazu bewegt, den ersten Schritt zu wagen. Er wollte den Bienen nicht wehtun, schon klar. Aber das musste er, damit die Völker überlebten. Und mit ihnen die Imkerei. Jetzt lag er müde auf dem Sofa. Sie hatten gerade mal die Hälfte aller Bienen behandelt, den Rest müssten sie morgen machen. Es wurde dunkel, und es hätte keinen Sinn, wenn sie blind die Lösung aufsprühten, damit richteten sie nur noch mehr Unheil an.

Sie zog das Journal aus ihrer Umhängetasche, die auf einem Küchenstuhl lag. Bud Spencer, der den ganzen Nachmittag im Haus geblieben war, kratzte an der Küchentür. Sie ließ ihn herein, dann setzte sie sich auf die Küchenbank und blätterte in Margarete Zeidlers Aufzeichnungen. Sie hatte vor knapp zwanzig Jahren eine ähnlich bedrohliche Situation für die Bienen durchgestanden. Ob Bea in den Eintragungen noch weitere Tipps fand, wie sie die Imkerei retten konnte?

Eine knappe Stunde später legte sie das Journal beiseite und seufzte. Sie hatte Hunger, aber inzwischen war es so arg, dass sie am liebsten Pizza bestellt hätte. Gab es einen Lieferdienst, der bis hier draußen ins Nirgendwo lieferte, ohne dass die Pizza dann schon kalt war? Unwahrscheinlich. Also blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als die Vorräte zu sichten.

Sie wusste selbst nicht, warum sie der gut gefüllte Kühlschrank überraschte. Sie beschloss, eine Lasagnesuppe zu kochen, dafür war nämlich alles da. Zusätzlich machte sie einen Salat und backte ein Baguette auf. Als sie eine halbe Stunde später die Küchentür einen Spaltbreit öffnete und Bud Spencer in den Wohnraum entwischte, lag Tom mit geöffneten Augen auf dem Sofa.

»Du schläfst ja gar nicht.«

»Es riecht hier so lecker«, sagte er. »Kochst du etwa schon wieder?«

»Gewöhn dich lieber nicht daran.«

Das brachte ihn zum Lächeln. Gut. Er schien sich langsam von der Arbeit zu erholen. Manchmal brauchte man das – ein bisschen Zeit für sich, die Augen schließen, nichts tun und warten, bis der innere Aufruhr sich legte.

Tom setzte sich auf und fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. »Habe ich geschlafen?«

»Keine Ahnung. Es ist kurz vor sechs.«

Tom nickte langsam, dann stand er auf und kam auf Socken zu ihr in die Küche.

»Wein?«, schlug er vor.

»Gerne.«

Er verschwand in der Vorratskammer, sie hörte ihn kramen. Dann holte er Weingläser aus dem Schrank, öffnete die Flasche und goss ein.

»Bist du mit dem Herd klargekommen?«

»Ich hoffe …« Sie hob den Deckel vom Topf. Der köstliche Geruch nach Tomatensugo und gebratenem Hackfleisch mit reichlich Kräutern und Zwiebeln stieg auf. Die kleingebrochenen Lasagneplatten waren schon fast weich. »Ich habe vorhin noch ein Scheit nachgelegt. Sieht gut aus, oder?«

»Riecht vor allem lecker.«

»Geht’s dir besser?«, erkundigte sie sich.

Tom zuckte mit den Schultern. Er lehnte am Küchentisch und nahm einen großen Schluck Rotwein, betrachtete sie über den Rand des Glases hinweg. »Schon ein bisschen«, sagte er. »Das war ziemlich anstrengend, mh.«

»Die Hälfte ist geschafft. Ich helfe dir morgen bei den anderen, wenn du willst.«

Er grinste. »Möchtest du etwa wieder über Nacht bleiben?«

Bea spürte, wie sie rot wurde. Der Gedanke war ihr tatsächlich schon gekommen, aber es wäre vermutlich komisch, wenn sie damit anfing. »Ich werde mich beim Wein zurückhalten«, versprach sie. »Außerdem habe ich nichts für Bud Spencer dabei.«

»Was braucht so ein Hund schon?«

»Na ja, Fleisch zum Fressen? Sein liebstes Gummitier zum Einschlafen, sein Körbchen …«, zählte sie auf.

»Fleisch ist in der Tiefkühltruhe, ich habe eine gelbe Badeente und einen alten Bienenkorb, den ich für ihn mit einer Decke auspolstern kann.«

»Ich habe auch nichts dabei.«

Er zuckte mit den Schultern. »Findet sich alles.«

»Zahnbürste?«

Tom grinste. »Zufällig habe ich diese Woche eine neue gekauft. Ist noch originalverpackt.«

Sie blickte von ihm zu dem zweiten Weinglas auf dem Tisch. Dann machte sie zwei Schritte auf ihn zu, stand direkt neben ihm. Fast berührten sich ihre Hüften, als sie das Glas nahm. »Na dann«, sagte sie leise. Ihr Glas plingte gegen seins, sie nahm einen Schluck, samtweich floss der Wein durch ihre Kehle. »Aber das heißt jetzt nicht, dass wir in einem Bett schlafen oder so.«

»Na, wir wollen es mal nicht übertreiben. Ich vermute mal, der Hund wird sich bei dir einkuscheln wollen, und darauf kann ich nun wirklich verzichten.«

»Der Hund weiß sich zu benehmen«, erklärte sie würdevoll. »Kannst du das von dir auch behaupten?«

Er zwinkerte ihr zu. »Wollen wir’s ausprobieren?«

Sie wusste es nicht. Wollte sie?

Lieber noch einen Schluck Wein nehmen. Nicht zu genau darüber nachdenken, was sie beide da gerade andeuteten.

»Das Essen ist fertig«, sagte sie, statt auf seine Frage einzugehen.

»Dann lass uns essen.«

Er deckte den Tisch in dem kleinen Anbau, während sie das Baguette durch die Ofenklappe manövrierte. Es war ein bisschen schwarz an einer Ecke, aber das war wohl vertretbar.

Das Leben, das Tom hier draußen führte, war so anders als ihres in Hamburg. Klar, er hatte Strom und fließend Wasser, Internet wohl auch – vermutlich aber nicht das schnellste. Darüber hinaus aber hatte er vor allem Ruhe. Seine Bienen. Es wäre ein Leben, an das sie sich gewöhnen könnte.

Und Tom? An den gewöhnte sie sich gerade schon sehr …

»Wow«, murmelte sie, als sie den Topf mit der Lasagnesuppe in den Anbau trug. Auf dem alten Holztisch mit der blankpolierten Fläche lagen Leinenservietten neben den Tellern, bei genauerem Hinsehen waren diese sogar mit einem Monogramm bestickt, ein C und ein M über einem Z, drei Bienen drum herum. Wunderschön. Das Besteck blitzte im Schein der Kerzen, die Tom in einem Kandelaber angezündet hatte. Das sanfte, goldene Gelb der Bienenwachskerzen und der süße Duft, der in der Luft hing, waren so unbeschreiblich schön, dass sie erst mal innehielt, nachdem sich beide an den Tisch gesetzt hatten. Bud Spencer kam aus der Küche getrottet. Tom holte noch rasch die Weingläser.

»Gefällt es dir?«, fragte er.

Sie nickte, die Kehle wurde ihr eng. Was tat sie hier überhaupt?

Sie ging eine Verbindung ein. Ohne zu wissen, wohin diese Verbindung führen würde. Ob es überhaupt irgendwo hinführte.

»Ich habe mich gerade erst von meinem Mann getrennt«, platzte es aus ihr heraus.

Tom hob die Augenbrauen. »Okay«, sagte er langsam. »Und das ist relevant, weil …?«

»Der Imker. Bei dem ich heute war. Der fragte, ob ich deine ›Neue‹ sei. Und ich dachte …«

»Verstehe.« Er nickte. Schenkte Wein nach, sagte aber nichts. Bea starrte ihn wütend an. Was denn, mehr hatte er nicht dazu zu sagen? Er verstand, Ende der Geschichte? Na toll.

Sie verteilte die Suppe, brach energisch ein Stück Baguette ab und steckte es Bud Spencer zu, der neben ihrem Stuhl Stellung bezogen hatte. Den Wein ignorierte sie.

»Ich habe in der vergangenen Woche wirklich viel geschuftet«, sagte er leise. »Meine Freundin Dana …« Er verstummte, dachte nach. »Also, sie ist …«

»Du musst mir nichts erklären«, sagte sie leise.

Sie wäre ihm gern nah gewesen. Sehr nah. Dieser Nachmittag draußen bei den Bienen, der Kampf ums Überleben seines Betriebs, den sie Seite an Seite führten – das alles hatte sie ihm noch näher gebracht. Sie hatte für ihn gekocht, sie saßen beisammen, aßen und tranken einen ziemlich leckeren Rotwein. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen, wie er mit ihr redete.

Aber auf keinen Fall wollte sie etwas über seine Freundin hören.

»Ich will das aber sagen. Es ist wichtig, weil da nichts mehr ist. Da war was, ja. Aber das ist jetzt vorbei. So.«

»Ach so«, sagte sie nur. Der Appetit war ihr vergangen, sie spürte ihr Herz bis zum Hals klopfen. Bea hätte jetzt gern Toms Hand genommen, sie einfach ein bisschen gehalten und seiner Stimme gelauscht, wie er etwas anderes erzählte als über eine »alte Freundin«, mit der »da was war«, das »jetzt vorbei« war. Ja, was denn nun?

»Ich wollte einfach, dass du das weißt«, fügte er hinzu.

Sie atmete tief durch. Versuchte, diesen inneren Aufruhr zu befrieden. Ein Schluck Wein beruhigte die flatternden Nerven.

Weißt du eigentlich, wie ungeübt ich in diesem Spiel inzwischen bin, Tom? Ich weiß gar nicht, wohin mit mir und meinen Gefühlen.

Da, sie hatte es gedacht. Gefühle.

Sie hatte wirklich Gefühle für ihn.

»Ich habe die ganze Woche Honig abgefüllt«, fuhr er irgendwann fort, um das Schweigen zu brechen. »War ziemlich viel Arbeit. Und es wartet noch mehr auf mich.« Er legte den Löffel neben den Teller, sah sie lange an, ehe er weitersprach. »Ehrlich gesagt habe ich das alles unterschätzt. Ich dachte, es wäre leichter.«

Bea musterte ihn aufmerksam und wartete.

Er zeigte auf die Kerzen. »Ich würde mehr von denen machen. Aber allein wird’s schwer.«

»Hat deine Tante keine Vorräte mehr?«

»Kaum. Von den Wachsplatten ist genug da, aber die fertigen Kerzen werden definitiv nicht reichen, um alle Märkte ausreichend zu bestücken.«

»In ihrem Journal schrieb sie über Cremes und solche Sachen. Ginge das schneller als die Kerzen?«

»Es wäre etwas völlig anderes, aber ja. Vermutlich ginge es schneller. Mir fehlt dafür aber die Ausrüstung.«

Und für die war kein Geld da, vermutete sie.

»Als Tante Grete selbst Cremes angerührt hat, war die Werkstatt gut ausgestattet. Aber das ist schon knapp zwei Jahrzehnte her. Seitdem ist vieles kaputtgegangen.«

»Meine Schwester hat doch eine Seifenwerkstatt«, platzte es aus Bea heraus. »Und die Zutaten habe ich schon mitgebracht.« Das Olivenöl fiel ihr ein, der Kanister stand noch im Auto. Ob es gut war, wenn es bei den kalten Temperaturen draußen blieb? Sie holte es lieber nach dem Essen rein. »Kannst du mir eine Liste schreiben, welche Utensilien fehlen? Dann fahre ich morgen hin und besorge, was sie für uns entbehren kann.«

Er hob die Augenbrauen. »Für uns?«

Das feine Lächeln. Bea schluckte, und dann erwiderte sie es. Ein bisschen zittrig. War das schon ein Flirt oder einfach nur ihr trauriger Wunsch danach? »Wenn du magst, helfe ich dir«, brachte sie hervor. Ihre Stimme klang belegt.

Sie blickte ihn an. Schwieg, weil alles, was sie jetzt noch hätte sagen können, sie auf verflixt dünnes Eis geführt hätte.

Von dem sie nicht wusste, ob es sie beide trug.

»Also, wenn das für dich in Ordnung ist.«

»Du hast die Zutaten alle schon mitgebracht?«

Sie nickte. »Für die Brandsalbe, einen Lippenbalsam und für eine Handcreme.«

»Wow.«

Er sah ihr tief in die Augen und als sie nicht nachgab, sondern seinen Blick unverwandt erwiderte, seufzte Tom.

»Ich werde aus dir nicht schlau.«

Bea lachte nervös und griff nach ihrem Weinglas.

»Was heißt das nun wieder?«, murmelte sie.

»Genau das. Du tauchst hier auf, weil du meine Tante suchst. Du bleibst, kommst sogar wieder. Bist auf einmal eine Bienenexpertin, wenn auch eher im theoretischen Sinne.« Er lächelte, um dieser versteckten Kritik die Schärfe zu nehmen. »Und dann willst du mir helfen. Erst bei der Behandlung, jetzt auch noch mit den Kerzen. Und du hast neue Ideen. Gerade so, als ginge dich das hier etwas an.«

Sie schluckte. Die Botschaft war klar und deutlich.

Es geht dich nichts an, Bea.

Gegen ihren Willen spürte sie, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie konnte es sich nicht erklären, und um gegen diese überbordenden Gefühle anzukommen, stand sie auf und brachte die leeren Teller in die Küche. Dort stellte sie alles in die Spüle, stand davor und wartete, dass dieses Gefühl in ihrer Brust verschwand.

»Ich meine es ernst«, flüsterte sie.

»Dann nehme ich dein Angebot gerne an.«

Sie fuhr herum. Er stand im Türrahmen. Bud Spencer drängelte sich an ihm vorbei und setzte sich erwartungsvoll neben sie. Klar, ein Stückchen Baguette reichte ihm nicht.

Tom lächelte. »Entschuldige, ich wollte dich nicht belauschen.«

»Ach …« Peinlicher konnte es kaum werden. Sie gab sich einen Ruck. »Ich würde wirklich gern helfen. Weil …« Weiter wusste sie nicht.

»Wollen wir darüber reden?«, schlug er vor.

Sie lächelte müde. »Müssen wir?«

Er trat ein, öffnete die kleine Kammer, die ihm als Vorrat diente, und kramte darin herum. »Wir müssen gar nichts. Außer noch ein bisschen Wein trinken. Was meinst du?«

»Das ist das Klügste, was ich heute von dir gehört habe.«

Tom lachte. Sie liebte es, wenn sie ihn zum Lachen brachte, es war wie ein Versprechen. Dass er ihr nicht wehtun würde, wenn sie sich ihm öffnete.

»Ich bin sehr einsam«, fing sie an.

»Das überrascht mich.«

Sie lächelte traurig. »Es ist aber so. Mir fällt es schwer, mich anderen Menschen zu öffnen. Eigentlich brauche ich auch nicht viele in meinem Leben. Und manchmal passiert dann das hier.« Sie machte eine unbeholfene Handbewegung, mit der sie diese kleine, urige Küche, das Fachwerkhäuschen, die Werkstatt und sogar die Obststreuwiese mit den Beuten am Waldrand einschloss. Vor allem aber den Mann, der da so lässig neben ihr an der Anrichte lehnte, die Haare wild verwuschelt, weil er sie sich heute mehr als einmal gerauft hatte. Die dunklen Augen aufmerksam auf sie gerichtet. »Ich … verliebe mich. In ein Leben.«

»Mein Leben ist nicht besonders liebenswert«, widersprach er.

Aber du. Du bist liebenswert.

Sie sagte es nicht, sondern sah ihn einfach an. Dachte es. Gab sich einen Ruck.

»Jedenfalls könnte es daran liegen, dass ich dich ständig nerve.«

»Du weißt, dass das Quatsch ist.« Er kramte in der Schublade nach dem Korkenzieher. Bea fand das Gesuchte auf dem Küchentisch und reichte ihn an Tom weiter. Ihre Finger berührten sich in diesem Moment ganz kurz, sie zuckte zusammen.

»Hey«, sagte er leise.

»Wollen wir erst den Abwasch machen?« Sie hasste es, wenn man nach dem Essen das Geschirr in der Küche stapelte und am nächsten Morgen auf dieses abgefressene Chaos traf.

Tom lachte. »Kann es sein, dass du in manchen Dingen etwas zwanghaft bist?«

»Ich hab’s einfach lieber ordentlich.«

Er schüttelte den Kopf, lächelte aber immer noch, gerade so, als könnte er ihr gar nichts übelnehmen. Während Bea heißes Wasser ins Spülbecken einließ und die Teller abkratzte, holte er das restliche Geschirr aus dem Anbau.

»Also gut, du spülst, ich trockne ab. Aber nur, wenn es dazu Wein gibt.«

»Einverstanden.«

Sie würde wohl doch über Nacht bleiben. Der Rotwein sorgte für eine angenehm beschwipste Wärme. So eine, die sie gern durch eine andere Wärme ergänzen würde.

»Warum bist du einsam?«, fragte Tom unvermittelt. Fast wäre ihr vor Schreck der Teller aus den Händen gerutscht.

»Ich habe niemanden«, erklärte sie schlicht. »Meine Ehe ist gescheitert, es gibt also nur meine Arbeit und alle zwei Wochen am Wochenende meinen Hund.« Sie nickte zu Bud Spencer, der sich inzwischen auf dem Flickenteppich unter dem Küchentisch eingerollt hatte und leise schnarchte.

»Keine Freundinnen?«

Bea zuckte mit den Schultern. »Eine. Aber Einsamkeit definiert sich nicht durch die Menge der Sozialkontakte, sondern eher durch das, was man braucht.«

Sie brauchte mehr als eine Freundin.

»Familie?«

»Ach …«

»Du hast von deiner Schwester erzählt. Die auf dem Schliekerhof lebt.«

»Alix, ja. Ich habe mir aber in den letzten Jahren wenig Zeit für die Familie genommen.«

Und im Umkehrschluss, das wurde ihr jetzt erst bewusst, hatte sich die Familie natürlich auch wenig um sie gekümmert. Bea hatte alle auf Abstand gehalten, und ausnahmslos jeder hatte diesen Abstand akzeptiert. Kein Wunder also, dass Alix erstaunt reagiert hatte, weil Bea neuerdings so gesellig war.

»Ich versuche gerade, das zu ändern. Aber es ist schwer.«

Wobei, gar nicht mal. Niemand hegte einen Groll gegen sie, weil sie sich nicht eingebracht hatte. Keiner machte ihr Vorwürfe. Im Gegenteil; sie wurde weiterhin zu allen Familienfesten eingeladen, und wenn sie keine Zeit hatte, weil die Arbeit nun mal wichtiger war, dann nahm ihr das niemand übel.

»Noch mehr Familie?«

»Zwei Schwestern. Und unsere Eltern natürlich. Hast du Familie?«

Er verzog das Gesicht, gerade so, als wäre das für ihn kein so gutes Thema. »Meine Eltern sind nicht mehr«, sagte er nur, und kurz verfinsterte sich seine Miene so sehr, dass sie nicht nachfragte.

»Das tut mir sehr leid.«

Während sie sprachen, spülte Bea das Geschirr, und Tom trocknete ab. Er räumte die Teller in den Schrank, schaltete das Radio ein, das auf der Fensterbank stand. Leise Klaviermusik erfüllte die Küche, und einen winzigen Moment lang lehnte sich Bea gegen den Spülschrank, die Hände im heißen Wasser, und schloss die Augen.

Das hier, dachte sie. Dieses einfache Leben, mit einem Mann zusammen, der genau weiß, was er will. Wer er ist.

Wusste sie denn, wer sie war? Oder sehnte sie sich nur deshalb nach Tom und seinem einfachen Leben, weil es den maximalen Kontrast zu ihrem hochtechnologisierten, naturwissenschaftlich geprägten Sein bildete?

»Hey.«

Sie schrak hoch. Tom stand direkt neben ihr, seine Hüfte berührte ihre und sie wäre fast zurückgezuckt. Aber nur fast. »Hey«, erwiderte sie leise.

»Geht’s hier weiter oder hast du schon genug vom Abwasch?«

Sie lächelte und wusch den Topf ab. Wenig später waren sie fertig, die Küche wirkte im Rahmen ihrer Möglichkeiten aufgeräumt und sauber. Mit der Weinflasche und den Gläsern gingen sie hinüber in den Wohnraum, wo sie sich auf dem Sofa einkuschelten, jeder in einer Ecke. Aus der Küche kam das leise Schnüffeln von Bud Spencer, der die angelehnte Tür mit der Schnauze aufstieß und zu ihnen kam. Er blieb abwartend vor dem Sofa stehen.

»Darf er?«, fragte Bea.

Tom zuckte mit den Schultern. »Klar.«

Mehr brauchte der Hund nicht. Er hüpfte zwischen ihnen auf die bunte Patchworkdecke und rollte sich zufrieden ein.

»Ich glaub, du führst das gute Leben«, sagte Bea leise. Sie blickte durch die Sprossenfenster nach draußen. So finster wie da draußen war es in der Stadt nie. Aber anders als in ihrer Wohnung fühlte sie sich hier geborgen. Lag das an diesem Haus oder an Tom?

»Es ist ein hartes Leben, das hast du ja heute gesehen.« Er seufzte. »Manchmal denke ich, Tante Grete hatte doch recht.«

»Womit genau?«

»Dass ich nicht hierfür tauge. Darum das Journal, das sie erst mir aufgedrängt hat und dann dir, damit du es mir aufdrängst.«

»Das verstehe ich auch nicht. Warum ich?«

Tom lachte unbehaglich. »Ich glaube, weil sie in dir etwas gesehen hat. Vermutlich nicht das, was ich in dir sehe, aber …« Er verstummte. Sie wartete.

Tom leerte sein Weinglas, mit einem kleinen Knall stellte er es auf den Kaffeetisch. »Zeit fürs Bett«, meinte er. »Morgen haben wir noch viel vor. Also, wenn du weiter helfen willst.«

Bea lächelte. »Du wirst mich schon wegschicken müssen, wenn du mich loswerden willst. So lange bleibe ich und helfe dir.«

Tom stand auf. Er streckte sich, dann setzte er sich noch mal etwas näher neben sie. Bud Spencer wachte auf und knurrte leise.

»Lass das«, wies Bea ihn zurecht.

»Meinst du den Hund oder mich?«

»Was denkst du denn?«

Toms Hand streifte ihre. »Ich denke gar nichts«, sagte er leise. »Vielleicht gerade mal, dass ich verdammtes Glück habe, weil du hier bist.«

Er beugte sich vor. »Darf ich das so sagen?«, flüsterte er.

»Ja, bitte«, wisperte sie.

Sein Gesicht ganz nah. Seine Lippen auf ihren. Sie kam ihm entgegen, schloss die Augen, weil es in diesem Moment genau das war, was sie wollte, was sie brauchte und so lange insgeheim ersehnt hatte.

Tom rückte näher. Seine Hände legten sich um ihre Taille, dann hielt er sie in den Armen, sie legte ihrerseits die Arme um seinen Hals. Wollte ihm ganz nah sein in diesem Moment, ihn spüren, mit ihm sein …

Plumps.

Ein leises Jaulen vom Fußboden ließ die beiden auseinanderfahren. Da hatten sie den kleinen Cocker Spaniel doch tatsächlich vom Sofa gedrängt, so dass er auf den Boden geplumpst war. Der anklagende Blick von Bud Spencer richtete sich vor allem an Bea, sein Frauchen war ja wohl eindeutig schuld, konnte sie nicht mal auf ihn aufpassen?

Bea lachte, sie legte den Kopf an Toms Schulter, gerade so, als gehörte er dorthin.

»Ach du meine Güte«, murmelte er.

Der Hund sah sie unter hochgezogenen Brauen an, dann wandte er sich ab und trottete Richtung Küche, um sich vor den Ofen zu legen, vermutete Bea. Und vielleicht auch, um sich das verliebte Elend seines Frauchens nicht länger angucken zu müssen.

Menschen!

»Ich glaube, er ist beleidigt.«

»Er wird schon drüber hinwegkommen«, meinte Bea.

»Wie herzlos von dir.«

»So bin ich gar nicht.«

»Ich weiß.« Er lächelte. Und dann küssten sie sich erneut, es war ganz einfach, einander in die Arme zu sinken, sich am anderen festzuhalten und einfach nur zu sein.

Das habe ich so sehr vermisst.

Danach verbot sie sich jeden weiteren Gedanken. Genießen wollte sie das hier, jawohl. Wer wusste schon, wie lange es so war.

* * *

Manchmal ging es also schnell, und schon übernachtete sie ein zweites Mal bei ihm. Nicht auf dem Fenstersofa, sondern in seinem Bett oben im Schlafzimmer mit den dunklen, niedrigen Deckenbalken und den zwei winzigen Sprossenfenstern.

»Morgens kann man zu den Bienen schauen«, sagte er, als sie aneinandergekuschelt unter der dicken Bettdecke lagen. Bea hörte schon nicht mehr ganz zu, sie war so wohlig müde, sie wusste gar nicht, wann das zuletzt der Fall gewesen war. Auf eine wunderbare, wohltuende Art erschöpft nach diesem langen, ereignisreichen Tag. In dieser Nacht würde sie nicht frieren. Und zum ersten Mal seit Langem wäre sie nicht allein. Tom hatte sogar den Bienenkorb für Bud Spencer geholt, hatte ihn mit einer alten Decke ausgepolstert und auf ihrer Bettseite auf den Boden gestellt. Der kleine Cocker Spaniel schaute etwas pikiert, ließ sich dann aber schnaufend im Körbchen nieder und schlief schneller ein als Bea oder Tom.

Trotz ihrer Müdigkeit lag Bea wach, während Bud Spencers Pfoten im Traum zuckten und Tom neben ihr schlief, den Arm über ihren Bauch gelegt. Zu viel ging ihr durch den Kopf, und als ihr Handy auf dem Nachttischchen aufleuchtete, war sie fast froh um die Ablenkung. Nachts um drei allerdings, das war keine gute Zeit, sofort war sie alarmiert.

Stefan schrieb.

Lust auf drei Tage Valencia nächste Woche? Onko-Tagung mit bestem Fünf-Sterne-Hotel – ich nehme dich gern mit!

Hätte sie besser nicht nachgeschaut. Jetzt hatte sie noch mehr zu grübeln.

Seit ein paar Wochen verhielt Stefan sich so, als hätte er einen Irrtum bemerkt, den er nun um jeden Preis rückgängig machen wollte.

Sie wollte nicht mal darüber nachdenken, was das bedeutete. Oder ob sie das wollte.

Sie legte das Handy auf ihre Brust, hielt es fest umklammert, überlegte. Ihr fiel keine adäquate Antwort ein, und dann vibrierte das Handy erneut.

Kannst du auch nicht schlafen?, schrieb Stefan.

Natürlich; er hatte gesehen, dass sie seine Nachricht gelesen hatte. Sie ärgerte sich. Über das Nachhaken, am meisten über sich selbst, weil sie nicht mal jetzt Ruhe hatte von der Welt jenseits dieses kleinen Häuschens unter den Eichen.

Bud Spencer jibbelte leise im Schlaf.

»Ich weiß«, murmelte sie, versetzte das Handy in den Flugmodus und legte es auf die kleine Kommode. Schluss damit. Ihr Leben war jetzt hier, und das wollte sie genießen, soweit es möglich war.