Kapitel 15

Die Stille in ihrer Wohnung machte Bea wahnsinnig; sie schaltete den Fernseher ein, holte Wein und Chips, kuschelte sich unter die Wolldecke, schaltete durch die Kanäle und suchte bei den Streamingdiensten nach einer spannenden Serie oder einem lustigen Film. Nichts reizte sie. Genauso gut könnte sie auch schon ins Bett gehen, mittags um eins.

Bud Spencer war ihr auch keine Hilfe; er hatte sich auf das Futter gestürzt, das sie ihm in den Napf gekippt hatte, und jetzt schlief er in seinem Körbchen neben dem Sofa. Im Traum zuckten seine Pfötchen, als träumte er davon, wie er die Rehe hinter Toms Imkerhaus jagte.

Tom. Immer wieder schlich er sich in ihre Gedanken.

Sie hatte es sich so schön ausgemalt. Die ganze Woche lang hatte sie sich auf den Samstag gefreut, und dann hatte dieser Tag auch noch ihre kühnsten Hoffnungen übertroffen. Diese zwei Tage bei den Bienen – bei Tom! – waren das Highlight dieses Jahres. Als sie heute früh neben ihm aufwachte, war da einfach nur dieses Glück gewesen, bei ihm sein zu können. Ihm nahe sein zu dürfen.

Sie waren so unterschiedlich. Er der naturverbundene, leicht chaotische Weltenbummler und Single, der sich offenbar eher widerwillig in das ortsgebundene Imkereigeschäft wagte, weil es ihm nun mal als Neffe von Margarete Zeidler zugefallen war. Sie die karriereorientierte, erfolgreiche und organisierte Hamburgerin, die sich nie weit von ihrer Heimat entfernt hatte und noch immer in den Ausläufern einer Ehe steckte, die Stefan vielleicht doch nicht aufgeben wollte. Da war Verwirrung vorprogrammiert. Floh sie etwa vor Stefans merkwürdigen Avancen? Oder ging es ihr wirklich um Toms Nähe?

Beides.

Andererseits …

Sie ging in den Flur, wo sie vorhin enttäuscht den Karton mit den Tannenzweigen und den anderen Utensilien fürs Kranzbinden abgestellt hatte. Bea trug den Karton ins Wohnzimmer, stellte ihn neben den Kaffeetisch, den sie rasch abräumte. Dann goss sie Wein nach, suchte einen Weihnachtsfilm aus und breitete die Sachen vor sich aus. Es fehlten eigentlich nur die Honigkerzen, sonst hatte sie alles da – genug Tannengrün für einen üppigen Kranz, Äste mit getrockneten roten Ilexbeeren, Orangenscheiben, Zimtstangen und Kiefernzapfen. Ein dunkelrotes Schleifenband sollte den krönenden Abschluss bilden.

Sie machte sich an die Arbeit. Wie man einen Kranz band, hatte ihr Mama Claire beigebracht. Offenbar hatte sie ihr aber nicht gezeigt, wie man die richtige Menge Tannenzweige für einen Kranz abschätzte, denn als sie eine halbe Stunde später auf das fertige Werk schaute, hatte sich ihr Karton kaum geleert.

Sie starrte auf den kleinen Kranz. Hübsch sah er aber aus.

Und dann kam ihr eine Idee.

Sie konnte einfach nicht für die nächsten Tage und Wochen den Kopf in den Sand stecken. Tom hatte ihr ziemlich unmissverständlich klargemacht, dass er sie nicht bei sich haben wollte – was also sollte sie daran hindern, ihr Leben ohne ihn zu führen? Auch wenn es schmerzte. Das war nicht von ihr ausgegangen. Sie hatte etwas riskiert – und verloren. Manchmal war das so im Leben.

* * *

Das Summen ihres Telefons riss Bea aus dem Flow. Sie wühlte das Handy unter dem schwarz eingebundenen Journal hervor, das neben der Schüssel mit Lippenbalsam auf dem Küchentisch lag.

»Hallo?«, rief sie atemlos.

»Darf ich am kommenden Wochenende mit deinem Besuch rechnen, Schwesterherz? Heute warst du nicht da, Tante Barbara saß sehr enttäuscht vor ihrem Apfelkuchen mit Eierlikörhaube. Ich frage für die Größe unseres Sonntagssüß.«

»Ach, du bist’s nur. Hey Alix.« Bea setzte sich auf einen Küchenstuhl und schluckte die Enttäuschung herunter. Insgeheim hoffte sie immer noch, Tom würde sich bei ihrer Schwester nach ihrer Handynummer erkundigen.

»Hey, ich habe ihr gesagt, drei Tage in Folge mit dir wären etwas viel. Es gibt Jahre, da haben wir uns nicht so oft gesehen. Und nun bist du enttäuscht, weil ich mich nach dir erkundige?«

»Mh«, machte Bea unbestimmt. »Waren wir denn heute verabredet?«

»Nein, aber Tante Barbara mag Regelmäßigkeiten. Also, hast du Lust, am Sonntag wieder vorbeizuschauen?«

Vielleicht, redete sie sich ein, hatte sie irgendwelche Zeichen übersehen und er war die ganze Zeit von ihr genervt gewesen.

Stopp. Was ist mit der gemeinsamen Nacht?

Ach, halt die Klappe, Tom.

»Und was ist das da im Hintergrund? Schaust du einen Weihnachtsfilm?«, fragte Alix, als sie nicht sofort antwortete.

Verärgert drückte Bea auf die Fernbedienung. Damit sie sich nicht ganz so einsam fühlte, ließ sie in letzter Zeit öfters nebenher Weihnachtsfilme laufen, ohne hinzusehen. Gerade war es Tatsächlich … Liebe.

»Ach, na ja. Schon.«

»Verstehe ich gut. Mir wäre auch gerade danach.« Alix seufzte, und sofort hatte Bea ein schlechtes Gewissen.

»Geht’s dir gut?«, erkundigte sie sich.

»Ja, ja, alles bestens …«

Alix verstummte, und erst da ging Bea auf, dass ihre Schwester vielleicht mehr auf dem Herzen hatte, als nur zu fragen, ob Bea am kommenden Sonntag zu Besuch kam. Schließlich hätte das noch ein paar Tage Zeit gehabt.

»Wirklich alles okay?«, erkundigte sie sich behutsam.

»Ich weiß nicht«, gestand Alix.

»Den Babys geht’s aber gut?« Sofort machte Bea sich noch mehr Sorgen.

Alix lachte leise. »Doch, ich denke schon.«

»Und wie geht es dir

Das schien nicht ganz so leicht zu beantworten zu sein, denn Alix schwieg ein bisschen länger, als man es normalerweise tat, wenn man die Antwort kannte. Oder wenn sie gesellschaftlich anerkannt war – und dann lautete sie »es geht mir gut«.

»Es geht mir gut«, behauptete Alix.

»Du bist eine miserable Lügnerin.«

Jetzt klang das Lachen ihrer Schwester fast gequält. »Was erwartest du? In diesem Jahr hat sich so viel verändert. Klar, vor allem schöne Dinge sind passiert. Sobald ich mal innehalte und auf all das blicke … Ich sollte stolz sein, verstehst du? Aber in solchen Momenten bin ich nur unfassbar müde.«

»Ich verstehe dich.«

»Wirklich?« Alix klang nicht, als würde sie Bea auch nur ein Wort glauben.

»Ja.«

»Warst du wieder bei deinem Schwarm? Gestern, meine ich.«

»Tom ist nicht mein Schwarm«, erwiderte Bea verärgert.

»Ich meine auch den Bienenschwarm. Entschuldige.«

Eigentlich müsste Bea sich entschuldigen, aber sie biss nur die Zähne zusammen.

»Nur kurz. Sonntag gibt’s also Kuchen? Ich würde wirklich gern vorbeikommen.«

»Und Plätzchen. Wir würden uns sehr freuen«, sagte Alix. »Klingt jetzt blöd, aber ich mag, wie wir uns nähergekommen sind.«

»Klingt gar nicht blöd«, widersprach Bea. Sie lächelte, denn ihr ging es genauso.

»Es ist sogar richtig schön«, bekräftigte ihre Schwester. »Du bist offener geworden. Ein bisschen entspannter. Das mag ich.«

Vor allem lege ich nicht mehr jedes Wort auf die Goldwaage, dachte Bea. Die alte Bea wäre ganz schön in die Luft gegangen, wenn Alix ihr so etwas gesagt hätte.

Gab es die alte Bea nicht mehr?

Doch, na klar. Irgendwo war sie noch. Aber es gab auch eine neue Bea. Eine, die sich am Samstagmorgen in die Küche stellte und anhand der Rezepte in einem alten Tagebuch Cremes und einen Lippenbalsam herstellte. Die zu ihrer Schwester so etwas wie ein freundschaftliches Verhältnis aufbaute und nichts komisch daran fand. Im Gegenteil, sie war froh darüber.

Als sie auflegte, sah Bea sich in der Küche um. Auf dem Tisch stapelten sich die kleinen Döschen und Gläser mit der Brandsalbe und dem Lippenbalsam. Gerade rührte sie noch eine Handcreme an. Alle drei Rezepte hatte Toms Tante schon vor Jahren zertifizieren lassen, und Bea musste jetzt nur noch die Etiketten ausdrucken und dann …

Ja, dann. Weiter hatte sie bisher nicht nachgedacht. Sie war davon ausgegangen, dass sich dieser Knoten zwischen Tom und ihr lösen würde. Oder dass sich dieses Gefühl verflüchtigte, dass sie sich in ihn verliebt hatte.

Nichts davon passierte. Und nun stand sie hier, mit ein paar Dutzend Döschen und Gläsern, aus denen es verführerisch duftete. Was sollte sie damit machen?

Zur Not zu Weihnachten verschenken. Aber sie wusste, dass es eigentlich nicht darum ging.

Bea seufzte. Sie musste etwas tun, das ihr unendlich schwerfiel, obwohl sie bisher gedacht hatte, sie hätte das ziemlich gut drauf.

Für sich selbst einstehen. Für ihre Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte. Höchste Zeit, dass sie damit anfing.

Sie zögerte. Und dann schrieb sie an Alix eine Nachricht. Sag mal, hast du zufällig die Handynummer von Tom Zeidler?

Ihr war klar, dass ihre Schwester über diese Frage lachen würde, und sie fürchtete sich ein bisschen davor, zu Alix’ Gespött zu werden. Aber als ihr Handy kurz darauf brummte, schrieb sie nur: Na klar, sie lautet …

Bea atmete tief durch. Und bevor sie der Mut verließ, speicherte sie die Handynummer ab und schrieb eine Nachricht an Tom. Denn sie hatte heute bei der Arbeit mal einen Blick in Margarete Zeidlers Krankenakte geworfen, die online über das Kliniksystem abrufbar war. Und dann hatte sie gelacht, ganz leise nur, weil ihr das nicht schon viel früher eingefallen war.

Obwohl: vielleicht auch besser so. Sonst wären Tom und sie sich nie nähergekommen.

Und dann wartete sie.

* * *

Schließlich war es Bea, die sich meldete.

Weißt du immer noch nicht, wo deine Tante steckt? Ich habe eine Idee … LG, Bea

Er rief sofort zurück, obwohl es bereits spätabends war, als er die Nachricht sah.

»Sag bloß, du weißt mehr.«

Seine Tante, das war sicheres Terrain, auf dem sie sich bewegen konnten, ohne sich in Gefühlen zu verlieren.

»Ich weiß nur, dass sie jeden Dienstag und Freitag zu ihren Terminen hier in der Klinik kommt. Zur Chemo«, fügte sie hinzu. Ihre Stimme klang seltsam belegt.

»Bist du erkältet?«, erkundigte er sich.

»Ein bisschen. Ich habe schon geschlafen.«

Verschnupft also. Er hatte ihren Unmut durchaus verdient.

»Tut mir leid.«

Sie antwortete nicht sofort. Er hörte im Hintergrund ihr Bettzeug rascheln, dann glaubte er ihre nackten Füße zu hören. Er stellte sich vor, wie sie durch ihre Wohnung ging. Bestimmt groß, hell (okay, nachts nur gut ausgeleuchtet) und mit teuren Designermöbeln bestückt.

»Woher hast du meine Nummer?«

»Meine Schwester Alix. Wir haben das ja irgendwie …«

»Ja, verpasst. Sorry.« Auf die Idee, ihre Schwester zu fragen, war er noch nicht gekommen. Er hatte sich überlegt, ob er ihr in der Klinik auflauern könnte, auch wenn das irgendwie unangenehm war – für alle Beteiligten. Er hätte sich wie ein Stalker gefühlt. Immerhin war es ja gut möglich, dass sie ihm aus gutem Grund ihre Nummer nicht gegeben hatte.

»Also, deine Tante. Das hat mir keine Ruhe gelassen, und ich habe ein wenig nachgeforscht.«

»Sie ist erwachsen und kann machen, was sie will«, erinnerte er sie sanft.

»Und es ist dir scheißegal, wo sie ist?«

Er schwieg.

Natürlich war es ihm nicht scheißegal. Er respektierte Tante Gretes Entscheidung. Auch wenn er nicht damit einverstanden war. Sie fehlte ihm. Nicht nur ihre Gesellschaft, sondern auch ihre Weisheit bezüglich der Bienen. Die vergangenen zwei Tage, die er komplett mit der Varroabehandlung verbracht hatte, hingen ihm nach. Jetzt hätte er gerne mit Tante Grete darüber geredet.

Diese Erkenntnis kam hoffentlich nicht zu spät.

»Jedenfalls ist sie morgen um halb zehn wieder in der Tagesklinik für ihre Chemotherapie eingetragen. Wenn du mit ihr sprechen möchtest. Bisher hat sie jeden Termin wahrgenommen.«

Er lachte unbehaglich. »Ich weiß halt nicht, ob sie mit mir sprechen möchte.«

Sieh an, dachte Tom. Tante Grete hatte sich irgendwo verkrochen und ging brav zu ihren Behandlungsterminen. Also ging es um ihn. Seinetwegen war sie verschwunden.

Aber warum?

»Denkst du nicht, sie möchte wissen, wie es ihren Bienen geht?«, fragte Bea. »Sie ist verschwunden, aber damals dachte sie bestimmt, du würdest klarkommen. Na ja, du kommst nicht klar.«

Touché.

»Du kennst sie besser als ich, könnte man meinen.«

Diesmal lachte sie. »Das bringt der Beruf mit sich.« Und als er nicht nachfragte, fuhr sie fort: »Die Menschen hier. Meine Patientinnen. Sie merken, wenn sie mit dem Krebs konfrontiert werden, was für sie wirklich zählt. Bei deiner Tante waren es die Bienen, denke ich.«

»Wirft kein gutes Licht auf mich, oder?«

»Weiß nicht. Ich denke schon, dass für sie die Bienen und du eine Einheit bilden. Tut mir leid, ich muss jetzt dringend schlafen. Ich wollte dir nur wegen deiner Tante Bescheid geben.«

»Danke«, sagte er. Dann: »Kommst du mit auf den Weihnachtsmarkt am nächsten Wochenende? Ich hätte dich gern dabei.«

»Ich glaube nicht.«

Gut, das hatte er verdient. Er hatte sie fortgeschickt, als sie beide gerade eine Ahnung dafür bekommen hatten, was aus ihnen werden könnte. Und er ärgerte sich darüber maßlos, denn rückblickend wäre es gar nicht so schwer gewesen, ihr zu erklären, dass Dana wieder da war, dass er die Sache aber klarstellen würde und Bea nichts von ihr zu befürchten hatte.

Er war ein Narr, weil er dazu nicht imstande gewesen war. Und jetzt ließ Bea ihn verständlicherweise auflaufen.

»Ich würde gerne …«

»Mach’s gut, Tom«, unterbrach sie ihn.

Klick. Sie hatte aufgelegt.

Er wog das Handy in der Hand. Wollte noch mal anrufen, ließ es dann aber. Er hatte das hier verdient, und sie würde ihre Meinung jetzt nicht ändern, nur weil er sie nervte.

Es tat trotzdem weh.

* * *

Viertel nach zehn am nächsten Morgen. Wieder mal hatte die Visite etwas länger als gedacht gedauert. Bea seufzte. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre E-Mails und ihr privates Handy, bevor sie ihr Büro wieder abschloss und sich auf den Weg zu der onkologischen Tagesklinik machte, die in einem anderen Flügel des Gebäudes untergebracht war. Dort wurden unter der Woche die Patientinnen für die ambulante Chemotherapie aufgenommen. In großen, hellen Räumen konnten sie in den bequemen Ruhesesseln sitzen, während das therapeutische Gift durch den Port in ihre Körper tröpfelte.

Bea nickte der jungen Schwester am Empfang zu. »Guten Morgen. Ich suche eine meiner Patientinnen. Frau Margarete Zeidler. Sie müsste heute hier sein.«

»Ich schaue mal nach.« Die junge Frau beugte sich über die Tastatur und tippte etwas ein. Bea merkte, wie sie nervös wurde. Sie hielt das kleine Päckchen fest an sich gedrückt.

Sie ärgerte sich insgeheim über sich selbst. Warum war sie nicht sofort auf die Idee gekommen zu kontrollieren, ob Margarete Zeidler regelmäßig zur Chemo ging wie angeordnet? Sie hätte Tom einige Wochen der Sorge ersparen können.

Weil er gar nicht so besorgt wirkte.

Das warf auch immer wieder neue Fragen auf. War er froh, dass seine Tante verschwunden war und ihm bei der Imkerei nicht länger im Weg stand? Oder hatte er die ganze Zeit mit seiner Tante Kontakt gehalten?

Sie hoffte, dass Margarete Zeidler ihr einige Antworten liefern würde.

»Kommen Sie mit?«

Die junge Schwester ging voraus und führte Bea den Gang entlang zu einem Raum, dessen hohe Fenster einen atemberaubend schönen Ausblick auf den Klinikpark boten. Theoretisch, denn an einem wolkenlosen Tag wie heute, an dem die Sonne zudem recht niedrig stand, waren die Sonnenschutzblenden heruntergelassen, damit die Patientinnen nicht gestört wurden. Sie mussten eh schon genug ertragen, wenn sie hier saßen.

Ein halbes Dutzend Sessel, von dem die Hälfte besetzt war. Der letzte in der Reihe gehörte Margarete Zeidler. Sie war allein.

Bea atmete tief durch. Wieso hatte sie auch gehofft, Tom hier zu sehen? Gestern hatte er überhaupt nicht so geklungen, als hätte er vor, mit ihrer Information etwas anzufangen.

»Sie haben mir schon ein bisschen Kummer bereitet.«

Sie trat zu der alten Dame, verschränkte die Hände mit dem Päckchen hinter dem Rücken.

Margarete Zeidler blickte auf. »Ich hätte früher mit Ihnen gerechnet«, erwiderte sie, doch dabei lächelte sie freundlich.

Bea zog einen Hocker heran und setzte sich. »Weiß Tom, dass Sie herkommen?«

»Wohl nicht. Tom hat immer schon die Grenzen respektiert, die man zog.«

»Ach, und Sie meinen, ich tue das nicht?«

Darüber musste Margarete Zeidler lachen. Sie lehnte den Kopf zurück gegen den gepolsterten Ruhesessel. Mager war sie geworden. Der Schlauch, der unter ihrem weiten Oberteil verschwand, schien ihr eher das Leben auszusaugen, als ihr noch ein paar Jahre Lebenszeit zu schenken. Um die silbrigen Haare trug sie einen dunkelblauen Turban gewickelt, der so voluminös war, dass man meinen könnte, das Gewicht drücke sie nieder.

»Sie haben mir Ihr Tagebuch hinterlassen«, sagte Bea. »Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Offensichtlich nicht so viele Sorgen, dass Sie die Polizei benachrichtigt haben. Oder voreilige Schlüsse zogen.«

»Sie sind nicht die erste Patientin, die mir abhandenkam. Aber von denen, die verschwinden, sind Sie die Erste, die brav zweimal pro Woche zur Chemotherapie erscheint.«

Bea legte das Journal neben Margarete Zeidler auf die Sessellehne. Das Päckchen behielt sie in der Hand. »Es gehört Ihnen.«

»Nein«, widersprach die Ältere. »Ich werde nicht in die Imkerei zurückkehren, egal was wird. Ich habe meinen Platz woanders gefunden.«

»Ich habe aber genauso wenig ein Recht darauf.«

»Waren Sie dort?«, erkundigte sich Frau Zeidler.

Widerstrebend nickte Bea.

»Sie haben Tom kennengelernt.«

»Sie sollten Ihre Entscheidung noch mal überdenken. Er geht fahrlässig mit den Bienen um. Fast hätte er sie an die Varroa verloren.«

Jetzt hatte Bea die Aufmerksamkeit von Margarete Zeidler. Sie richtete sich auf. »Erzählen Sie mir mehr«, sagte sie leise.

Bea fasste zusammen, wie sie mit Tom die Beuten kontrolliert und anschließend gegen seinen Widerstand die Behandlung durchgesetzt hatte.

»Sehen Sie. Darum habe ich Ihnen das Journal hinterlassen.«

Bea schüttelte entschieden den Kopf. »Sicher nicht. Außerdem hat Tom kein Interesse an mir. Wenn das also ein Verkupplungsversuch war …«

Margarete Zeidler legte den Kopf in den Nacken und lachte. Sie lachte so laut und fröhlich, dass die anderen Patientinnen und die zwei Besucherinnen, die bei ihnen saßen, überrascht die Köpfe zu ihnen drehten. Lautes Lachen, das war man hier nicht gewohnt. Hier sollte man sein Elend tapfer ertragen.

»Haben Sie wirklich gedacht, ich wollte Sie mit Tom verkuppeln? Niemals. Ihr jungen Leute habt doch eure eigenen Vorstellungen, da mische ich mich nicht ein. Hören Sie, Dr. Heinemann. Es ging mir die ganze Zeit wirklich nur um die Bienen. Nie um mehr. Die Bienen waren es. Nicht Tom.«

Oh Gott, wie peinlich. Bea spürte, wie sie rot wurde.

»Herrje. Sie haben sich doch nicht in ihn verliebt?« Jetzt klang Frau Zeidler geradezu alarmiert, als wäre das eine Entwicklung, die sie weder vorhergesehen noch erhofft hatte.

»Es ist nichts«, erwiderte Bea ärgerlich.

»Das tut mir leid.« Margarete Zeidler ließ sich nicht so leicht täuschen. »Hätte ich das gewusst …«, murmelte sie.

»Sie hätten es trotzdem gemacht«, sagte Bea leise.

»Tom ist kein Mann fürs Leben«, erklärte ihr Frau Zeidler. Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Er hat da eine alte Freundin, die vertreibt jede andere Frau.«

Bea horchte auf.

»Was wissen Sie darüber?«, fragte sie.

»Na ja, viel mehr nicht. Sie war ein paarmal da in den vergangenen Monaten. Die beiden sind dann für ein paar Nächte in ein Hotelzimmer verschwunden. Ich habe ihn nicht gefragt, weil es mich ja auch nichts angeht. Er ist erwachsen. Auch wenn ich es nicht gutheiße, was die beiden da treiben. Sie ist verheiratet und hat ein kleines Kind.«

Das waren nicht unbedingt die Informationen, auf die Bea gehofft hatte, als sie hergekommen war.

»Ich habe noch etwas für Sie.« Bea überreichte ihrer Patientin das Päckchen.

Margarete Zeidler riss die Augen auf. »Ein Geschenk?«

»Ich hoffe, Sie mögen es.«

Gespannt beobachtete Bea, wie die alte Imkerin die zwei Gläschen und die kleine Dose aus dem Papier wickelte. Die Etiketten waren eher provisorisch. Erst runzelte Margarete Zeidler die Stirn, dann begriff sie.

»Sie haben die Rezepte nachgemacht«, sagte sie voller Ehrfurcht. Sofort öffnete sie die Dose mit dem Lippenbalsam, schnupperte dann daran und probierte ihn direkt aus. »Ich habe im Moment so unfassbar trockene Lippen«, klagte sie. »Diese Chemotherapie mag ja helfen, aber die Nebenwirkungen, puh …«

»Ich weiß«, sagte Bea leise. »Es tut mir leid, dass wir Ihnen nur so helfen können.«

»Immerhin können Sie mir helfen, Kindchen.« Ergriffen legte Margarete Zeidler ihre Hand auf Beas Arm. »Sie haben sich verändert.«

»Finden Sie?«

Sie nickte.

»Ich musste doch irgendwas tun«, sagte Bea. »Damit die Imkerei überlebt.«

Ihr Blick fiel auf Margarete Zeidlers müde Hände, die in ihrem Schoß ruhten. Diese Hände, die jahrzehntelang für die Bienen gesorgt hatten. Die ihr Erbe nun in andere, ebenso fähige Hände hatten legen wollen. War es das? Hielt sie Tom für ungeeignet? Hatte sie Bea deshalb zur Imkerei geschickt, in der Hoffnung, dass sie sich schon kümmern würde, weil sie sich der Faszination der Bienen nicht entziehen konnte?

»Ich dachte, Sie haben es«, sagte Margarete Zeidler. »Und ich hatte recht.« Sie klang sehr zufrieden.

»Ich habe was?«

Doch die Kranke schüttelte nur den Kopf. Müde legte sie ihren Kopf gegen das Polster. Sie schloss die Augen. Ihre Hand strich noch einmal über die Dose mit dem Lippenbalm. Dann richtete sie sich auf und hielt Bea das Journal hin.

»Nehmen Sie das mit. Bitte. Ich brauche es ja doch nicht mehr.«

Aber ich brauche es doch auch nicht!, schrie es in Bea.

Trotzdem nahm sie das Tagebuch an sich. Sie blieb noch ein paar Minuten sitzen, ohne so genau zu wissen, worauf sie wartete. Dass Margarete Zeidler noch mal mit ihr redete? Offenbar war sie eingeschlafen.

Am besten dachte sie gar nichts. Hatten nicht alle älteren Kolleginnen sie immer davor gewarnt, sich auf die merkwürdigen letzten Wünsche der Patientinnen einzulassen? Das war nicht ihr Job. Ihre Aufgabe war es, den bestmöglichen Therapieplan zu erstellen, damit ihre Patientin überlebte. Nicht, sich in ihr Leben einzumischen und sich darin zu verlieren. Wenn sie damit erst mal anfing, würde sie gar nicht mehr zu ihrer Arbeit kommen.

Stefans Warnungen waren immer eindringlich gewesen. Ausgerechnet er, der eine joviale, beinahe vertraute Beziehung zu seinen Patientinnen hielt, hatte sie immer wieder davor gewarnt, sich auf etwas einzulassen, aus dem sie sich nur unter großen Schmerzen wieder befreien konnte.

Sag ihnen nie, dass sie auf jeden Fall überleben.

Versprich ihnen niemals, etwas für sie zu tun, das über die Behandlung hinausgeht.

Lass dein Privatleben nicht vom Beruflichen kompromittieren.

»Kindchen? Sind Sie noch hier?«

Bea beugte sich vor. »Ich bin hier«, sagte sie leise.

Margarete Zeidler lächelte. »Das ist gut. Tun Sie mir einen Gefallen? Einen letzten?«

»Das kommt drauf an …«

»Versprechen Sie’s mir. Bitte.«

Versprich niemals einer Todkranken etwas.

»Was kann ich für Sie tun?«

Margarete Zeidler lächelte, als wüsste sie, dass sie gewonnen hatte.

»Machen Sie, was Sie wollen. Auch mit dem Journal. Meinetwegen verbrennen Sie es. Tom will es nicht. Aber ich brauche es nicht, und es erinnert mich zu sehr an das, was ich schon längst verloren habe.«

Sie schloss die Augen wieder. Bea blieb sitzen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Schließlich stand sie auf, drückte das Buch an ihre Brust und lief mit gesenktem Kopf Richtung Ausgang. Auf dem Weg dorthin zog sie ihr Telefon aus der Kitteltasche, sie wählte aus dem Kopf eine Handynummer, die sie wohl nie vergessen würde. Nach dem dritten Klingeln sprang die Mailbox an.

»Hey Stefan. Wie sieht’s aus – nächstes Wochenende Valencia? Einmal Konferenz und ganz viel Sightseeing? Meld dich mal, dann können wir alles Weitere besprechen.«

Das Journal warf sie am Eingang in den Papierkorb. Sie wollte es nicht, genauso wenig wie Tom oder Frau Zeidler. Dieses vermaledeite Journal hatte alles nur komplizierter gemacht. Gerade dann, als es ganz danach aussah, als könnte ihr Leben wieder einfach werden. Als könnte es in die geordneten Bahnen zurückkehren, in denen sie bisher gelebt hatte.