Stefan wusste selbst nicht, was er sich erhofft hatte, als er Bea vorschlug, ihn nach Valencia zu begleiten. Als sie nun neben ihm in der Reihe 7 des Flugzeugs saß, das sie nach Spanien brachte, so blass und irgendwie mehr abwesend als anwesend, dachte er spontan, dass es ein Fehler gewesen war.
Trotzdem beugte er sich zu ihr herüber. »Möchtest du ein Glas Wein?«, fragte er.
Sie nickte abwesend. Er winkte eine Flugbegleiterin heran und bestellte zweimal Weißwein. Erst als er vor ihnen stand, wachte Bea aus ihrer Erstarrung auf.
»Danke, dass du mich mitnimmst«, sagte sie. Mit einem leisen »Plock« stießen die Weinbecher aneinander. Sie lächelte sogar.
»Ich habe zu danken«, bemerkte er. »Drei Tage Konferenz in einem Luxushotel. Nur eingebildete Onkologen, die meinen, sie hätten den Krebs besiegt. Koryphäen, wohin man schaut. Keine Praktiker wie wir.«
Bea nippte an ihrem Wein.
»Auch sie haben mal klein angefangen.«
Wenigstens sagte sie nicht, dass er sich inzwischen auch von der Praxis abgewandt hatte. Womit sie nicht so falschgelegen hätte.
»Mag sein. Aber die meisten haben längst den Bezug zur Realität verloren.«
»Vielleicht muss man das irgendwann …«, murmelte sie und stellte den Plastikbecher auf das Tischchen vor sich. Sie wirkte seltsam bedrückt.
»Alles okay?«, erkundigte er sich.
Sie schüttelte den Kopf, wollte aber auch nicht mit der Sprache herausrücken, was sie gerade so sehr bekümmerte. Vermutlich setzte ihr eine Patientin zu. Er hatte ihr das nie so gesagt, aber er wusste schon lange etwas über seine Frau, das sie vermutlich nicht wahrgenommen hatte – dass sie nämlich die Menschen und ihre Schicksale zu nahe an sich heranließ. Immer wieder hatte er sie gewarnt. Und kaum war er nicht mehr an ihrer Seite, schon passierte genau das. Dabei hatte er gedacht, der Panzer aus Unnahbarkeit, den sie sich zugelegt hatte, würde halten.
»Als junger Assistenzarzt ist mir mal was Blödes passiert«, begann er. Sie warf ihm über den Rand des Weinbechers einen Seitenblick zu. »Für einen Patienten wollte ich etwas tun, weil er mich darum gebeten hatte. Ich sollte seiner Dora sagen, dass er nicht zurückkommen würde. Also fuhr ich zu ihm nach Hause und klingelte an seiner Tür. Er bekam nie Besuch, ich fand, das ginge so nicht, wenn doch seine Dora daheim hockte.« Er lachte; die Erinnerung daran war auch viele Jahre danach noch sehr präsent. »Als niemand öffnete, habe ich bei einer Nachbarin geklingelt. Sie hatte einen Hund. Ein wunderschöner, kleiner Spaniel. Fast so hübsch wie unser Bud Spencer.«
Er hatte ihr noch nie davon erzählt, ging ihm auf. Weil er sich danach lange geschämt hatte, und irgendwann, merkte er, war der Zeitpunkt für diese Anekdote verstrichen.
»Jedenfalls erzählte ich der Nachbarin, dass ihr Nachbar wohl nicht zurückkommen würde. Sie wurde daraufhin traurig, verständlicherweise. Mir fiel zu spät ein, dass ich ihr gar nicht davon hätte erzählen dürfen. Aber ich wollte unbedingt Dora finden und fragte sie, ob sie wüsste, wo denn die Frau des Kranken steckte.«
Bea schien zu ahnen, wohin das führte; sie grinste in ihren Weißwein.
»Erst als sie mir den Spaniel auf den Schoß setzte, begriff ich. Dora war sein Hund. Er hatte niemanden auf der Welt außer diesen kleinen Spaniel, der während seines Klinikaufenthalts bei der Nachbarin war. Sie fragte mich, was denn nun aus Dora werden sollte nach seinem Tod. Ich wusste es nicht. Aber eine Woche nachdem er gestorben war, fuhr ich noch einmal hin. Ich holte Dora zu mir. Und darum, liebe Bea, dürfen wir die Patienten niemals so nah an uns heranlassen, dass ihr Schicksal uns persönlich berührt«, beendete er die Geschichte.
»Immerhin hast du seither einen Hund gehabt«, sagte sie.
»Nein. Es gab Dora. Dann kamst du.« Er musste selbst grinsen. »Und irgendwann eben noch Bud Spencer.«
»Weil ich keine Kinder wollte.« Sofort wurde sie wieder ernst. »So schließt sich der Kreis, nicht wahr?«
»Das hast du gesagt.« Er leerte seinen Becher und wünschte sich was Stärkeres. Die Sache mit dem Kinderwunsch war nicht unbedingt etwas, das er mit ihr einige Tausend Fuß über dem Erdboden diskutieren wollte. Es könnte nämlich sein, dass er sich mitten im Gespräch einfach nur möglichst weit weg wünschte. Ungefähr einige Tausend Fuß weit weg.
Eigentlich wollte er gar nicht darüber reden.
Dass Bea nicht wie andere Frauen war, hatte ihm anfangs ja gerade so gut gefallen. Keine Kinder, so hatte sie es immer formuliert, und selbst wenn er im Scherz meinte, eins wäre doch okay, verschloss sich ihr Gesicht sofort, als wäre das ein Angriff auf ihre Integrität als Frau.
Vielleicht hatte er trotzdem wider besseres Wissen immer noch darauf gehofft, dass sie ihre Meinung änderte. Und spätestens jetzt im Herbst hätte es so weit sein können, dachte er, schließlich bekam Beas Schwester Zwillinge, welche Frau ließ das denn kalt? Aber da hatte er schon aufgegeben, weil sie nicht mit ihm an die neue Klinik ging, sondern lieber in der alten Karriere machte. Auf ihre Art, nicht auf die, die er ihr ermöglicht hätte.
Einerseits imponierte ihm das, weil es so sehr Bea entsprach. Weil sie all die Jahre, die sie zusammen gewesen waren, ihre Unabhängigkeit bewahrt hatte. Auf der anderen Seite schmerzte es ihn. Sie hatte ihn abserviert, so fühlte es sich an. Er war nicht mehr nützlich.
»Du wolltest doch die Trennung«, sagte sie, und in diesen wenigen Worten schwang mehr Verletztheit mit, als er ihr seit der Trennung hatte anmerken können.
»Ja. Ich weiß.«
Sie lehnte sich zurück, die Augen weit offen, ihm zugewandt. Beobachtete ihn, neugierig. Nicht, als wartete sie auf eine Schwäche von ihm oder eine Entschuldigung. Ganz ohne Erwartungen.
»Das war dumm von mir.«
Da lächelte Bea. »Endlich siehst du es ein.«
Er atmete durch. Können wir die Zeit zurückdrehen, Bea?, hätte er sie am liebsten gefragt. Können wir einen Neuanfang wagen?
Aber er fragte nicht, denn er kannte die Antwort bereits.
* * *
Schon früher hatte sie Stefan häufig auf Konferenzen begleitet, doch diesmal war es anders.
Jetzt waren sie kein Ehepaar mehr, auch wenn es für Außenstehende so schien, denn als sie im Hotel eincheckten, wurden sie von der Rezeptionistin in akzentfreiem Deutsch darüber in Kenntnis gesetzt, dass ihr Zimmer bereits bezugsfertig sei.
»Nur ein Zimmer?«, flüsterte Bea.
Er fragte nach.
Die Rezeptionistin schaute noch mal im Computer nach. Ja, tatsächlich nur ein Zimmer. Ob er die E-Mail nicht bekommen habe, dass sein Wunsch nach zwei Zimmern so kurzfristig nicht erfüllt werden konnte, schließlich sei das Hotel dank der Konferenz bis unters Dach ausgebucht.
Sie sagte wirklich »bis unters Dach«, als würden sich die Damen und vor allem Herren Onkologen in Stockbetten stapeln.
Bea trat einen Schritt beiseite und überließ Stefan das Feld. Er konnte das nicht unbedingt besser; er war aber immerhin diplomatischer.
Leider schien auch Diplomatie nicht zum gewünschten Ziel zu führen.
»Tja, da haben wir den Salat.« Er trat zu ihr. Zwei Schlüsselkarten in der Hand. »Kommst du damit klar? Ich kann versuchen, irgendwo noch ein Hotelzimmer zu bekommen, aber …«
Sie nahm ihm eine Karte aus der Hand, seufzte und lief zu den Aufzügen.
Langsam reichte es ihr. Wo war denn bitte schön das Problem, wenn sie mal für zwei Nächte mit ihrem baldigen Ex-Mann in einem Bett schlief? Er blieb auf seiner Seite der Matratze, sie auf ihrer. Ende der Geschichte.
Aber sie war auch sauer. Auf alles und jeden. Auf Stefan, weil er sie in diese missliche Lage gebracht hatte. Weil er ihr Valencia als Ausweg verkauft hatte, als Auszeit von ihrem Leben, das in den letzten Wochen so gesellig, anstrengend und kompliziert geworden war. Weil er dann auch noch die Sache mit dem Hotelzimmer verbockt hatte. Keine Frage: Hätte sie das vorher gewusst, wäre sie zu Hause geblieben.
Auf sich selbst, weil sie tatsächlich dachte, räumliche Distanz könnte ihr schweres Herz leichter machen. Sie war weggelaufen, ganz klar. Bisher hatte das Leben ihr keinen Grund gegeben, davor wegzulaufen. Aber diese vertrackte Situation mit Tom …
War sie auf Tom sauer? Ja, doch. Irgendwie schon. Erst dieses Gerede über eine alte Freundin, und dann, nachdem sie sich ihm geöffnet hatte – was ihr ohnehin so schwergefallen war –, machte er zu. Verhielt sich so abweisend, beinahe feindselig, dass kein Platz blieb für sie und ihre Gefühle.
Darum Valencia. Weg mit diesem Herzklopfen, das ja doch niemand hören wollte. Und wenn sie dafür mit ihrem Ex in einem Bett schlafen sollte, war ihr das auch egal.
* * *
Valencia also.
Eins musste man Stefan lassen – die Idee, mitten im Winter nach Spanien abzuhauen, war absolut heilsam. Sonne. Licht. Das Leben fand auf den Straßen statt, und als sie am Abend zu einem längeren Spaziergang aufbrachen, hatte Bea schon den Ärger über das geteilte Hotelzimmer vergessen. Sie freute sich auf die Konferenz, auf Fachgespräche mit den Kolleginnen und darauf, die Sonne und das gute Essen zu genießen.
Sie spazierten zur Marina und fanden ein kleines Fischrestaurant, wo sie einkehrten und bei Wein, Rotbarbe und einer köstlichen Paella saßen und sich unterhielten. Stundenlang unterhielten, über alles Mögliche.
»Du hast also diesem Bienenfreund gezeigt, wie man imkert?« Stefan hielt die Weinflasche hoch, und Bea nickte. Ein paar letzte Tropfen rannen in ihr Glas. Sofort sah er sich nach der Kellnerin um.
»Und sein Bestand war tatsächlich gefährdet. Wir mussten also zum Imkerfachhandel fahren und die Oxalsäure für die Behandlung holen. Er war danach fix und fertig, weil er dachte, seine Bienen würden an der Säure sterben und nicht an der Varroamilbe.«
»Du kriegst direkt so ein Strahlen, wenn du davon erzählst. Macht das Imkern so viel Spaß?«
Er wurde seltsam ernst, und sie hörte eine zweite Frage heraus. Ist dieser Bienenfreund so toll?
»Ja«, gab sie zu. »Es ist etwas völlig Neues. Spannend, herausfordernd. Du kommst nicht weit, wenn du nicht auf die Bienen hörst. Und die Menge Honig oder Wachs, die sie produzieren, ist begrenzt. Am Ende des Jahres kann man nur so viel verkaufen, wie sie hergeben. Und selbst das muss man ihnen vergüten, denn ohne Ersatz überleben sie den Winter nicht.«
»Es ist also fast eine Symbiose, die Imker und Bienen eingehen. Sie leben gemeinsam vom Honig, die Bienen lassen sich dafür entlohnen …« Stefan zog die Stirn kraus. »Und alle leben gut damit? Das Gegenteil von Krebs, wo nur der Fressfeind gut davon lebt und der Wirt stirbt?«
Darüber musste Bea erst mal nachdenken. Sie mochte es nicht, wenn man irgendwas mit Krebs verglich, denn im Grunde verlor da jeder – der Krebs, der ja doch immer die Rolle des Bösen zugedacht bekam, weil er nur ein Ziel kannte, das Überleben durch maximale Zerstörung. Oder die Patientin, die starb. Oder deren Leben danach so extrem auf links gedreht war, dass sie lange brauchte, um sich darin wieder zurechtzufinden.
Wie war das bei den Bienen?
Könnten Toms Bienen ohne ihn überleben? Sie hatte in Margaretes Journal darüber gelesen, dass regelmäßig Teile eines Volks im Frühsommer mit der Königin schwärmten, wenn man nicht aufpasste. Wenn die Imkerin sie dann nicht einfing, würde sich das Volk dann eine neue Bleibe suchen. Würden sie sich dort genauso gesund und munter vermehren, wie es in der Imkerbeute geschah?
Vielleicht hatten sie sich schon zu weit davon entfernt, wild zu leben. Aber was wusste sie schon darüber? Wusste man etwas darüber?
»Der Mensch ist der Tumor«, sagte sie leise.
»Wie bitte?« Stefan musterte sie aufmerksam.
»Ich meine … Dass die Varroamilbe überhaupt eine Chance hat, liegt sicher auch daran, dass die Völker geschwächt sind. Durch die Haltung in Beuten. Oder dadurch, dass man ihnen zu viel Honig wegnimmt? Ich weiß es nicht.« Sie merkte, dass sie trotz der Lektüre in den vergangenen Wochen und obwohl sie so viel mit Tom darüber gesprochen hatte, im Grunde viel zu wenig wusste. »Ist Zuckerteig genauso gut wie Nektar? Merken sie den Unterschied?«
Sie verstummte, denn sie erkannte: Stefan war der Falsche für dieses Gespräch. Er sah sie etwas dümmlich an, gerade so, als wüsste er nicht genau, ob sie von ihm eine Antwort erwartete.
»Entschuldige«, murmelte sie.
»Nein, nein. Das ist alles sehr spannend. Und …« Er beugte sich zu ihr rüber, sie saßen übereck an dem kleinen Tisch ganz hinten im Restaurant, weil vorne auf der Terrasse nichts mehr frei gewesen war. Es war hier hinten dunkel und gemütlich, zwei Kerzen brannten auf dem Tisch, mehr nicht. Seine Hand strich eine ihrer Strähnen aus dem Gesicht. »Du hast es wieder. Dieses Strahlen. Weißt du, was ich meine?«
Sie atmete langsam aus, lehnte sich etwas zurück, entging damit seiner Hand. Nicht, weil es ihr unangenehm war, wenn er sie berührte. Denn auch nach all diesen Monaten ohne ihn reagierte ihr Körper auf seinen gerade so, als gehörten sie immer noch irgendwie zusammen.
»Du meinst, weil ich wieder on fire bin?«
So hatten sie das früher genannt. Wann immer sie sich für ein Thema begeisterte, war sie das. Sie war dann Feuer und Flamme, sie wäre bereit, bis zur Erschöpfung zu schuften, wenn man sie nicht bremste. Inzwischen hatte sie gelernt, diesen Impuls zumindest im Klinikalltag zu unterdrücken. Gäbe sie nach, würde sie irgendwann völlig entkräftet einfach umkippen. Damit wäre niemandem geholfen.
»Ist lange her, dass ich dich so erlebt habe.« Er lächelte traurig. »Ich vermisse es.«
»Damals hast du gesagt, es wäre nicht gut, wenn ich so bin«, erinnerte sie ihn sanft.
»Das war etwas anderes. Damals hast du um Menschenleben gekämpft. Jetzt …«
»Geht es nur um Bienen?«, vollendete sie seinen Satz. Und dachte doch: Nicht nur. Es sind nicht nur die Bienen.
Aber das konnte sie ihm nicht sagen. Weil es ihr ja schon schwerfiel, es sich selbst einzugestehen.
Toms Worte klangen ihr noch im Ohr.
Du musst dich entscheiden, Bea. Was erwartest du vom Leben? Dass es einfach ist? Gut. Dann bleib bei deinem Krebs, der ist ein klar definierter Gegner, und du bist gut darin, gegen ihn zu kämpfen. Oder willst du etwas anderes vom Leben? Willst du etwas für dich erreichen? Etwas, das über die Befriedigung hinausgeht, wieder ein Leben gerettet zu haben?
Da war sie wütend geworden. Weil sie dachte, es könnte doch nichts geben, das wichtiger war als ein Menschenleben. Aber in diesem Moment begriff sie, was Tom eigentlich gemeint hatte.
Willst du etwas für dich erreichen?
Wie in: Willst du für dich etwas im Leben erreichen, etwas aufbauen, das bleibt, das dir schon auf dem Weg so viel Freude bereitet?
Sie saß da, tief in ihre Gedanken versunken. Stefan merkte, dass sie nicht mehr bei ihm war, dass sie sich entfernte. Als wäre diese Reise nach Valencia, die sie beide unter so unklaren Vorzeichen begonnen hatten, bereits jetzt zu einem Ende gekommen. Einem, bei dem sie für sich ganz klar sagen konnte: Das hier ist nicht das, was ich will.
* * *
Sie spazierten eine Stunde später zurück zum Hotel, sprachen nicht viel. Bea tastete nach ihrem Handy; sie hätte jetzt gern mit Tom gesprochen. Sich entschuldigt. Für den bitteren Streit, für die vielen Missverständnisse, die sich zwischen ihnen aufgetürmt hatten. Weil sie sich lieber in ihrer Empörung suhlte, seine ausgestreckte Hand wegschlug. Weil sie nicht zuhörte. Richtig zuhörte. Er zweifelte weder ihre Eignung für die Arbeit als Ärztin an noch wollte er ihr diese ausreden. Es ging nur darum, ob sie damit glücklich war.
Oder ob sie woanders glücklicher wäre.
Sie blieb vor der Tür des Hotelzimmers stehen. Stefan ging hinein, er schaltete alle Lichter an.
»Kommst du?«, fragte er.
»Das funktioniert nicht«, sagte sie. Ohne so genau zu wissen, ob sie diese gemeinsame Nacht im Hotelzimmer mit ihrem Ex meinte oder das Leben selbst, das sie gerade führte. Ersteres vordergründig. Über den Rest müsste sie mehr nachdenken.
»Oh, okay.« Er stand ratlos zwischen Bett und den beiden Sesseln. »Ich könnte auch da schlafen.« Zeigte auf die Sessel.
Bea schüttelte den Kopf. »Nicht nötig.« Sie trat ein, ging direkt ins Bad und warf das Wenige in den Kulturbeutel, was sie bisher herausgeholt hatte. Aus dem Schrank holte sie die Reisetasche, verfuhr ebenso mit den Kleidungsstücken, ihrem Ladegerät, das auf einer Bettseite eingesteckt war.
»Was machst du da?«
Er stand mit hängenden Armen vor ihr.
Bea legte die Hand auf seine Wange. »Ich fliege zurück«, sagte sie leise.
»So spät geht kein Flieger mehr.«
»Dann nehme ich den ersten morgen früh.«
»Du willst doch nicht die ganze Nacht auf dem Flughafen …?« Er verstummte. Die Vorstellung, dass sie eine Nacht auf dem Flughafen der in einem bequemen Bett an seiner Seite vorzog, missfiel ihm sichtlich.
»Ich komme klar«, versicherte sie ihm. »Es ist nicht die erste Nacht ohne Schlaf für mich.«
»Aber …«
Sie lächelte müde. Nahm ihre Reisetasche und die Handtasche, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen letzten Kuss auf die Wange. »Ich wünsche dir viel Spaß hier in Valencia. Wir reden, wenn du zurück bist, okay?«
Die Tür fiel hinter ihr zu. Sie ging den langen Korridor Richtung Fahrstuhl entlang, lauschte. Erleichtert stellte sie fest, dass Stefan ihr nicht folgte; das hätte sie jetzt auch nicht ertragen.
Manchmal nahmen die Dinge ein Ende.
Und manchmal brauchte man länger, um zu begreifen, dass es wahrhaftig vorbei war, dass es kein Zurück in das alte Leben gab.
Jetzt musste sie aber herausfinden, wie ihr neues Leben genau aussehen sollte.
* * *
Zuerst musste sie dafür ihren ganzen Mut zusammennehmen. Und weil ihr das im ersten Anlauf nicht gelang, fuhr sie an der schmalen Zufahrtsstraße vorbei und bog ein Stück weiter in die Auffahrt zum Schliekerhof ein. Samstagmittag. Sie vermutete ohnehin, dass Tom auf dem Weihnachtsmarkt in Jork stand und seine Kerzen und den Honig verkaufte.
Der Hofladen war inzwischen geschlossen, die Deele leer. Bea lief zur Küchentür, klopfte und trat ein. Vier Köpfe fuhren herum, Alix stand auf und umarmte Bea, gerade so, als hätte sie sie erwartet. »Hunger?«, fragte sie.
Bea nickte. Auf dem Rückflug hatte sie nichts gegessen, und sie war danach direkt hergekommen.
Ihre Schwester stand schon am Herd, sie füllte Steckrübeneintopf in eine Schüssel und legte zwei Scheiben gebratene Blutwurst obenauf. »Die kommt von einem befreundeten Schlachter«, erklärte sie, als wäre das ein Qualitätsmerkmal. War’s übrigens, denn es schmeckte hervorragend. Bea wurde auf einen freien Stuhl geschoben, sofort sprang Loki auf ihren Schoß und machte eine lange Nase in Richtung Blutwurst. Tante Barbara kratzte so geräuschvoll ihren Teller aus, dass Alix ihr auch noch eine Portion gab, ehe sie sich zwischen Bea und ihren Freund Max setzte.
»Was macht die Keksfabrik?«, fragte Bea, einfach um ein Gespräch in Gang zu bringen. Und Max griff ihre Vorlage gern auf, er erzählte launig von den Fortschritten bei der Verlagerung der Produktion. Hannes stand auf, stellte seinen Teller ins Spülbecken und verließ wortlos die Küche. Bea blickte überrascht auf.
»Liebeskummer«, sagte Alix leise. »Unsere Schwester mal wieder.«
»Ach so.«
Das konnte Bea immerhin nachfühlen, sie hatte ja auch welchen.
Nach dem Mittagessen half sie beim Abräumen. Alix kochte mit einem Porzellanfilter frischen Kaffee, während Tante Barbara in der Vorratskammer verschwand und mit den Dosen klapperte. »Na ja«, sagte Alix, als Bea sie fragte, was sie dort trieb. »Da du heute schon kommst, ist kein Kuchen da. Ich vermute, sie räubert unsere Weihnachtsplätzchenvorräte.«
»Nee, muss es nicht. Wir haben ohnehin viel zu viele. Guck?« Dabei reckte sie den Bauch vor.
Bea musste grinsen.
Mit einem Plätzchenteller, auf dem sich kleine Marzipankartoffeln, Zimtsterne, saure Sahnekringel und Kokosmakronen türmten, ließ Tante Barbara die beiden Schwestern allein.
»Nun?«, fragte Alix. Sie rührte zwei Stückchen Zucker in ihren Kaffee.
»Ich weiß auch nicht«, sagte Bea leise. Sie probierte einen sauren Sahnekringel mit Hagelzucker. Oh, die waren ja so lecker! »Ich frage mich …«
Sie dachte daran, dass Alix vor gut einem halben Jahr hergekommen war, auch weil sie eine Pause von ihrer Beziehung mit Max gebraucht hatte.
»Du und Max … Ihr hattet ja so eine … mh, Krise.«
»Du meinst, als ich herkam und alles aufgemischt habe.«
»Ja, so ungefähr. Woher wusstest du, dass du und Max … Dass ihr trotzdem zusammengehört?«
Alix wählte mit Bedacht einen Zimtstern und lehnte sich zurück. Sie verzehrte das Plätzchen und nahm einen Schluck Kaffee, bevor sie antwortete. Bea merkte, wie sie unwillkürlich den Atem anhielt.
»Das wusste ich nicht. Als ich drinsteckte, war ich teilweise sogar ziemlich sauer auf ihn. Weißt du, ständig gibt es irgendwelche Missverständnisse. Dauernd muss man sich neu orientieren. Man steckt so tief in einer Krise, dass man nur auf Sicht fährt. Und das macht wütend. Weil man doch endlich wissen will, wohin man gehört.«
»Und wann wusstest du, wohin du gehörst?«
Ihr Herz klopfte heftig. Als hinge von Alix’ Antwort alles ab.
»Ich wusste es nicht. Ich habe es einfach entschieden. Wie wenn man eine Münze wirft. Kopf gehen, Zahl bleiben. Und dann wirft man Kopf und merkt, nee. Das ist es auf keinen Fall.«
»Merkwürdige Methode«, murmelte Bea.
»So ist das im Leben. Ein ständiges Probieren. Wir können nicht davon ausgehen, dass es immer so weitergehen wird wie bisher. Irgendwas kann uns immer wieder aufs Neue vom Kurs abbringen. Bevor das letzte Jahr passierte, habe ich auch gedacht, ich wäre sicher. Das würde schon immer so weitergehen. Aber das tut es nicht. Vielleicht traf das auf unsere Eltern zu. Papa ging in seinem Job auf, Mama blieb zu Hause. Es gab trotzdem für beide Veränderungen, immer wieder. Vielleicht nicht so oft wie für uns. Aber sie waren da.«
»Mh«, machte Bea. Sie hatte gedacht, bei Alix könnte sie Antworten finden, aber was passierte? Noch mehr Fragen.
»Fragst du dich, ob du zu Stefan zurückgehen sollst?«, erkundigte Alix sich behutsam.
»Gott, nein! Auf gar keinen Fall.«
Alix nickte. »Siehste mal. Da hast du deine Münze geworfen, und es kam Kopf dabei raus.«
Und das, merkte Bea, half ihr dann doch. Sehr sogar.
Eine halbe Stunde später saß sie wieder im Auto, eine Dose mit Weihnachtskeksen und ein Adventsgesteck neben sich auf dem Beifahrersitz. Sie wollte erst Toms Nummer wählen, ließ es dann aber.
Sie wusste, wohin sie gehörte. Und sie wollte es ihm gern persönlich sagen.