Schattenstaub
Sie waren umzingelt. Von überallher hüllte die Dunkelheit sie ein, griff mit Fingern aus Zwielicht nach ihnen und verschlang alles Leben. Ein leiser Tod, grausamer als jeder Schwerthieb. Denn wer in den Schattenstaub geriet, der starb nicht einfach – vielmehr wanderte dessen Seele für alle Zeiten durch die Finsternis.
Unah stand auf dem obersten Balkon ihres Tempels, beide Hände in die Balustrade gekrallt, und starrte mit brennenden Augen nach unten. Der undurchdringliche Ring aus schwarzem Staub hatte bereits die innere Mauer erreicht. An manchen Stellen waberte er in dicken Schwaden darüber hinweg, weil die dort wachenden Priester ihre Schutzzauber nach Tagen des Kampfes nicht mehr aufrechterhalten konnten. Es war, als lösche diese dunkle Macht jegliches Licht – selbst jenes in den Herzen der Magier, der stärksten und weisesten Wesen des Kontinents Meribor.
»Wir haben versagt«, flüsterte Unah. Sie erschrak über die Bitterkeit der Erkenntnis in ihrer eigenen Stimme.
Eine kühle Hand legte sich auf ihren Unterarm. »Herrin, wir müssen fliehen, bevor der Staub auch Euch erreicht. Euer Tod wäre das Ende Meribors, wie wir es kennen.« In Yaras Augen stand Todesangst. Dennoch würde die junge Zauberin nicht gehen, ohne zu wissen, dass ihre oberste Lichtpriesterin, die Lumina, gerettet war.
Unah betrachtete sie mit einem Blick, so prüfend wie nie zuvor – die zierliche Statur, die feinen Hände, das Feuer in ihrem Herzen. Erst seit einem Jahr war Yara ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft, aber ihre Kraft war von herausragender Intensität. Eines Tages hätte sie die neue Lichtpriesterin werden können. Doch das Schicksal forderte stattdessen ein Opfer von ihr.
»Ich brauche dich, Soraya und Larimar«, wies Unah sie an. »Bringt eure Lebensbegleiter mit. Und … die Kinder.«
»Herrin, was habt Ihr vor?«
»Ich werde nicht zulassen, dass der Schattenstaub die Menschheit auslöscht. Ich werde ihn aufhalten.«
Ein gehetzter Ausdruck trat auf Yaras Gesicht. »Das ist unmöglich. Wir haben es mit allen Mitteln versucht. Sogar Euer Gemahl hat sein Leben gelassen, als er …«
Alle weiteren Worte erstickten in ihrer Kehle, denn in diesem Moment gab das Haupttor des Tempels dem Druck von außen nach und krachte aus den Angeln. Eine Woge der Finsternis überrollte die beiden Priester, die davorgestanden hatten, um mit ihrer vereinten Kraft das Eindringen der dunklen Macht zu verhindern. Das magische Glühen schwand aus ihren Händen, während sie von düsteren Wolken verschlungen wurden. Todesschreie hallten über den Platz, doch nur für einen Wimpernschlag, ehe wieder gespenstische Ruhe einkehrte. Unahs Herz krampfte sich zusammen. Genau so musste Ahbrem gestorben sein. Vor drei Tagen war er mit einer Gesandtschaft ausgezogen, um den Feind daran zu hindern, sie von allen Seiten zu umzingeln, aber er war nicht zurückgekehrt. Ihr Gefährte seit Kindertagen, ihr geliebter Gemahl, ihr Seelenpartner. Nie mehr würde sie seine Lippen auf den ihrigen spüren, denn er war nun ein Teil des Schattenstaubs.
»Uns bleibt keine Zeit! Rettet Euch!« Yaras drängende Stimme, ganz nah an ihrem Ohr.
»Tu, was ich dir gesagt habe«, befahl Unah und diesmal gehorchte die junge Frau. Mit einem letzten, von Grauen erfüllten Blick nach unten, fuhr sie herum und hastete davon.
Die Zauberin wandte sich der Lichtsäule zu, welche aus einem kreisrunden Loch im Dach des Tempels gen Himmel stieg. Ehrfürchtig stand sie davor – vor der Quelle ihrer Magie, dem Anfang und dem Ende jedes Mitglieds ihrer Gemeinschaft. Dort hinein legten die Novizen ihre leeren Hände, um sich von der Energie der großen Mutter durchdringen zu lassen. Und darin lösten sich auch die Körper ihrer Toten auf, um nach einem langen Leben im Dienste der Menschheit ihre Magie an die Quelle zurückzugeben. Heute würde sie versiegen, verschlungen von der Dunkelheit.
»Große Mutter, Nährerin allen Lebens«, flüsterte Unah. »Dein Strahlen erlischt durch meine Schuld, doch mit meinem letzten Atemzug werde ich die Samenkörner deiner Macht bewahren, auf dass sie gedeihen und meinen Fehler wiedergutmachen.«
Sie breitete die Arme aus und rief ihre Magie herbei. Ein letztes Mal genoss sie jenes Kribbeln, das durch ihren ganzen Körper fuhr, wenn die Kräfte sie durchströmten. Ein Lichtstrahl schoss aus ihren Händen, drängte die Woge schattigen Staubs zurück und schenkte den totgeweihten Verteidigern auf der Mauer ein paar weitere Atemzüge. Kreischen ertönte aus der Dunkelheit, während der Schattenstaub sich zurückzog wie ein verletztes Tier, das seine Wunden leckte. Doch der Feind war nur getroffen, nicht besiegt.
»Haltet eure Stellung!«, rief sie den Tapfersten der Tapferen zu, die mutig auf ihren Posten verharrten. »Euer Opfer wird nicht umsonst sein! Drängt ihn zurück, so lange ihr könnt! Für Meribor! Für das Licht!«
Die Herrin des Tempels blickte nach unten auf die schwärende Masse des Todes, die sich nun zu einer neuen Welle ballte, um sie endgültig zu überrollen. Aus dem Grau des Schattenstaubs wurde eine undurchdringliche schwarze Wand. Wie eine Naturgewalt kam die Finsternis zurück, durchbrach die letzten Schutzzauber und verschlang gierig die Körper der Priester auf der Mauer. Mit jedem Opfer, das sie sich einverleibte, schwoll ihr giftiger, grauschwarzer Leib weiter an. Es war eine gefräßige Dunkelheit, die einzig vom Tod lebte. Unahs Kehle entwich ein verzweifelter Laut. Womit hatte ihr Kontinent das verdient?
Hinter dem zerstörten Tor wogte der Staub zur Seite und machte Platz für seinen Meister. Dann schritt Razuhl hindurch, hochgewachsen von Gestalt und so stark, wie er es immer gewesen war. Seine blinden Augen richteten sich direkt auf Unah, als könnten sie die Furcht in ihrem Innersten sehen. So viel Leid, so viel Düsternis und Grausamkeit, vereint in einer einzigen Seele. Sie durfte jetzt nicht zaudern. Sie musste handeln!
Schnell rannte sie in den Tempel. Im obersten Raum lag das Heiligtum der Lichtpriester, das Herz ihrer Macht. Hier entsprang die Lichtsäule im Inneren eines verschlossenen Schreins. Nur die Lumina und ihre auserwählten Priester durften die drei ineinander verschlungenen Wurzeln des Lichts sehen, allen anderen war der Anblick untersagt. Sie schob den Ärmel ihres Kleids zurück und strich über das Zeichen auf ihrem linken Unterarm: drei ineinander verschlungene Flammen, sinnbildlich für die drei Säulen der Magie – Licht, Geist und Elemente. Wer dieses Zeichen trug, war der Bewahrer des Lichts, die oberste Seele des Tempels. Ihre Lippen bebten, während sie es an den Schrein hielt und die Öffnung aufspringen ließ. Sie erinnerte sich gut an den Tag, als dies das letzte Mal geschehen war. Es war der Moment gewesen, der die Dunkelheit geboren hatte. Unah blickte in den vielfarbigen Lichtstrahl. Unermessliche Zuversicht ging davon aus, stärker als die Angst zu versagen. »Große Mutter, hilf mir! Teile deine Macht!«, raunte sie und die Flammen antworteten ihr mit einem prasselnden Flüstern.
Langsam verblassten die Linien auf ihrer Haut. Dann, innerhalb eines einzigen Herzschlags, erlosch das Licht. Die hell leuchtende Säule zog sich zurück und völlige Finsternis breitete sich über den Tempel aus. Der Baum der Magie war gefällt, doch seine Samenkörner keimten nun im Verborgenen.
Unah schloss den Schrein im selben Moment, als das Weinen auf dem Flur erklang. Gleich darauf flog die Tür am anderen Ende des Raumes auf. Yara kam hereingeeilt, zusammen mit Soraya und Larimar – den fähigsten aller Priesterinnen – gefolgt von ihren Gefährten.
Jede der Frauen trug ein weinendes Kind. Selbst in der Dunkelheit konnte man die leuchtenden Zeichen sehen, die nun wie flüssiges Licht auf den Armen der beiden Jungen und des kleinen Mädchens prangten. Unahs Herz flatterte bei deren Anblick. Sie waren ihr eigen Fleisch und Blut, geboren aus Liebe und erfüllt mit den Gaben der hellen Macht. Arn war mit drei Jahren der Älteste, Gordyn und Beryll hatte sie jeweils im Abstand eines weiteren Jahres geboren. Sie waren so winzig, so unschuldig. Und doch trugen ihre zarten Schultern nun das Schicksal einer ganzen Welt. Schluchzend, beinahe anklagend, reckte Arn ihr seinen dünnen Unterarm entgegen, auf dem eine einzelne Flamme leuchtete.
Unah küsste ihren Ältesten auf die Stirn. »Die Säule der Elemente vertraue ich dir an, mein Sohn. Bewahre sie und bring sie eines Tages zurück an diesen Ort, auf dass das Licht niemals erlöschen möge.« Dann ging sie weiter zu Gordyn und erhob ihn zum Bewahrer der Lichtmagie. Zuletzt übereignete sie die dritte Säule, die Geistmagie, der kleinen Beryll.
»Was habt Ihr vor, Herrin?«, fragte Yara, deren Gesicht blass und verweint aussah.
»Ich werde den Rest meiner Zauberkraft nutzen, um Portale zu schaffen, durch die ihr fliehen könnt«, antwortete Unah, an alle drei Paare gewandt.
Die Erwachsenen sahen einander hoffnungsvoll an.
»Das ist kein Geschenk, sondern eine Bürde«, mahnte sie. »Bringt die Kinder an geheime Orte. Kümmert euch um sie, als wären sie eure eigenen Söhne und Töchter. Schützt das Erbe des Lichts mit eurem Leben. Und wenn die Zeit reif ist, kommt mit ihnen zurück und kämpft!«
Bittend legte Yara eine Hand auf den Arm der obersten Priesterin. »Flieht mit uns! Ihr müsst hier nicht sterben.« Noch während sie sprach, leckte die erste Zunge aus Schattenstaub über die Fensterlaibung.
Unah bündelte die Macht in ihrem Inneren. »Jemand muss die Portale schließen, damit euch niemand folgen kann. Diese Aufgabe obliegt mir – es ist nur gerecht, denn durch meine Fehlentscheidung ist das Unglück über uns gekommen. Nun geht! Das Licht wird über euch wachen.«
Mit einer ausladenden Geste schnitt die Zauberin drei hell leuchtende Öffnungen in die diesseitige Sphäre. Die Landschaften, die sich dahinter offenbarten, schimmerten verschwommen wie Luftspiegelungen. Yara drückte den kleinen Arn an sich, nahm die Hand ihres Gemahls und trat in das erste Lichtportal, welches alle drei augenblicklich mit einem langgezogenen Zischen verschluckte.
Immer mehr nebelige Dunkelheit quoll zum Fenster herein. Unah vernahm Schritte im Flur. Das Geräusch ließ sie frösteln. Seltsam schlurfend, ohne Hall, ohne Leben. Sie kamen näher. Langsam, aber stetig. Unaufgeregt und siegesgewiss. Schnell winkte Unah auch die beiden anderen Paare heran und schickte sie nacheinander mit ihren Kindern durch die Portale an Orte, die hoffentlich sicherer waren als dieser hier. Ihr Herz blutete. Ich liebe euch
, sandte sie ihren Kindern im Geiste hinterher. Mit letzter Kraft ließ sie die drei Portale entschwinden. Sie wankte, für einen kurzen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Auf dem Boden waberte der Schattenstaub und ihre Füße waren bereits bis über die Knöchel darin versunken
.
Die Geräusche im Flur verstummten. Krachend sprang die Tür auf und Razuhl schritt über jene Schwelle, die er niemals hätte übertreten dürfen. Eingehüllt von einer Wolke aus schwarzem Staub, die wie ein Umhang um seine Schultern wallte, ging er bedächtig auf Unah zu. Seine schwarzen, lidlosen Augen starrten ins Nichts, ehe sein toter Blick sich langsam auf seine ehemalige Herrin richtete. »Das ist dein Ende, Lichtpriesterin!«, raunte er mit seiner sanft klingenden Stimme, die vor langer Zeit die Herzen vieler junger Novizinnen betört hatte.
»Warum tust du das?«, fragte Unah, bemüht, ihre Fassung zu bewahren. »Du warst einer von uns. Weshalb strafst du einen ganzen Kontinent? Um deine Rache zu bekommen? Es waren nicht die Menschen von Meribor, die dich blendeten.«
»Fürwahr. Das warst du!«, säuselte er. Noch immer klang seine Stimme so warm und liebevoll wie die des jungen Anwärters, der damals an das Tor des Tempels geklopft hatte. Er war ein ehrgeiziger und begabter Priester gewesen. Manch einer hatte große Hoffnungen in ihn gesetzt – die meisten davon er selbst, zumal sich ihm in kürzester Zeit zwei der drei magischen Säulen erschlossen hatten. War er vom Ehrgeiz zerfressen worden? Denn so sehr Razuhl sich auch bemüht hatte – die dritte Säule war für ihn unerreichbar geblieben.
»Ich habe gar nichts getan«, sagte Unah bestimmt. »Du jedoch hast dich heimlich bei unserer Zusammenkunft eingeschlichen, zu einer Zeremonie, die nie für deine Augen bestimmt war. Schon damals warst du blind vor Machtgier. Du glaubtest, ein Blick auf die drei Säulen würde dich uns gleichstellen – stattdessen wurdest du geblendet.«
»Nein, du irrst: Ich wurde zum König über mein eigenes Reich!«, zischte er. »Erst seit jenem Tag sehe ich die Welt, wie sie wirklich ist. Staune, was ich erschaffen habe: eine Magie, gegen die ihr allesamt machtlos seid, ein Zauber, der das Licht verschlingt und mich wieder sehen lässt.« Er hob beide Arme an, woraufhin der Schattenstaub zu Unahs Füßen aufwallte und gierig an ihren Beinen nach oben leckte. Auf Höhe ihrer Hüfte hielt er inne, wie ein Raubtier, das auf den richtigen Moment zum Zuschlagen wartete.
»Ahbrem und die anderen hatten recht: Wir hätten dich töten sollen. Die Gnade, die ich dir habe zuteilwerden lassen, bedeutet unseren Untergang.«
»So ist es!« Er kam näher, die Hände tastend nach vorn gestreckt. »Willst du nicht kämpfen? Seit ich blind bin, sind meine anderen Sinne um so vieles stärker geworden. Ich rieche deine Furcht, ich höre dein bebendes Herz. Es ist mir eine Freude, zu erleben, wie deine Magie im Schattenstaub verpufft. Die Finsternis ist immer hungrig.«
Unah spürte es. Tiefe Schwärze hatte Besitz von ihrem Tempel ergriffen, hatte ihn angefüllt von den Katakomben bis in den heiligen Raum. Außer ihr war kein Priester mehr am Leben, keine Zauberkraft mehr übrig. Der Tempel des Lichts war zur Ruine der Dunkelheit geworden. Ein Schauder lief ihren Rücken entlang.
Razuhl packte ihre Handgelenke. Die eisige Kälte seiner von fahler Haut überzogenen Finger fuhr in ihre Adern. »Wo ist das Licht?«, summte seine Wiegenliedstimme.
Unah musste sich zwingen, ihm in die bewegungslosen Augen zu sehen, dunkle Löcher, ohne Emotion, ohne Gnade, aber sie wollte den Blick nicht demütig vor dieser Kreatur senken. »Es ist tot. Die große Mutter ist erloschen!«
Er packte sie fester, zwang sie zur Säule und presste ihre Handflächen auf den Schrein. Doch kein Klicken ertönte, welches üblicherweise den Mechanismus zur Öffnung in Gang setzte. Razuhl versuchte es erneut an einer anderen Stelle, aber der Erfolg blieb aus. »Was hast du getan, verfluchtes Weib?«
Für einen kurzen Moment genoss Unah seine Wut, den Riss in seiner Selbstherrlichkeit. »Nichts! Meine Macht ist versiegt, mein Zeichen verblasst. Der Schattenstaub hat alles aufgesogen.«
»Du bist die Hüterin des Lichts! Wer trägt den Schlüssel zum Schrein, wenn nicht du?«
Unah spürte seine dunkle Macht in ihren Kopf eindringen. Er war ein Meister der Manipulation und mit jedem weiteren Schlag, den ihr Herz tat, würde er tiefer in sie vorstoßen – so lange, bis er ihr Geheimnis freigelegt hatte. Ihre verbliebenen Kräfte reichten nicht aus, um ihm zu widerstehen.
Sein Kopf sank in den Nacken und aus seinem Mund drang ein zufriedenes Seufzen. »Kinder!«, stieß er lachend hervor. »Schwache, kleine Kinder! Ich hätte es mir denken können. Die Mutterliebe darf nicht unterschätzt werden.«
Er weiß es!
Eine Woge der Angst überflutete Unah. Bislang hatte er in ihrem Geist noch nicht herausgefunden, wo sie waren und wer sie schützte, doch er drang von Sekunde zu Sekunde tiefer in ihre Gedanken ein. Sie durfte es nicht zulassen.
»Du wirst sie niemals finden!«, flüsterte sie. Dann entriss sie ihm ihre Hände und ließ sich in den Schattenstaub sinken.