Glücklich
»Sag schon. Mach es nicht so spannend«, forderte Clarissa ihn auf. Ungeduldig drehte sie eine ihrer schwarzen Locken immer wieder aufs Neue um den Zeigefinger. »Raus damit!«
»Erst versprich mir, dass du nicht lachst«, entgegnete Dott.
»Egal, wie dein ganzer Name lautet, ich werde dich weiterlieben. Ich verspreche es«, schwor sie mit einem Lächeln, das Bäume umwerfen konnte. Zum Glück lagen sie beide schon – und zwar auf dem Heuboden einer alten Scheune am Rand des Anwesens des Landgrafen. Sie waren die Leiter hochgeklettert, hatten eine Wolldecke über das Stroh ausgebreitet und es sich darauf gemütlich gemacht. Arg gemütlich sogar – eng ineinander verschlungen genossen sie die Zweisamkeit.
Clarissa stützte ihren Kopf auf den Unterarm. Die Finger der freien Hand, die eben noch durch sein Haar gefahren waren, trommelten demonstrativ auf das Holz neben der Decke. »Dein Na…hame.«
»Also gut. Ich verrate ihn dir.« Dott machte eine Kunstpause.
Der jungen Frau dauerte die schöpferische Phase zu lang. Sie kniff ihn in den Oberarm. »Los jetzt! Sag ihn!« Ihre Augen blitzten neugierig.
Diesen Ausdruck liebte er an ihr. Stundenlang konnte er sie ansehen, ohne zu blinzeln, um ja keinen Wimpernschlag zu verpassen. Dott nahm Anlauf: »Eigentlich heiße ich Dothariel-Samuel.«
Für einen Moment hörte er die Grillen zirpen.
Die junge Frau presste ihre Lippen zusammen, ein Zucken erschien in ihren Mundwinkeln, eine Ich-bleibe-ernst-Falte machte sich auf ihrer Stirn breit, dann prustete sie los. Dott gefiel ihr helles Lachen. Ein Laut purer Freude, der seine Sinne betörte wie ein schöner Ausblick oder ein Wohlgeruch.
»Du hast versprochen, nicht zu lachen«, maulte er und verlieh seiner Stimme eine beleidigte Note, welche jedoch nicht so recht zu seinem breiten Grinsen passen wollte.
Sie holte tief Luft. »Habe ich nicht. Ich habe lediglich gesagt, ich werde dich weiterlieben.« Sie kicherte erneut. »Höre, Dothariel-Samuel, für mich bist und bleibst du Dott. Das passt zu dir, diesen Namen finde ich süß.«
Beim Aussprechen des letzten Wortes schürzte sie die Lippen. Unwiderstehlich.
Er vergaß zu atmen. »Wie findest du den?«
»Süß.«
Ein wunderschöner Moment: Er küsste sie, Clarissa schlang ihre Arme um ihn und zog ihn noch näher an sich heran. Sie streichelte ihm über die Wange, knetete sanft sein rechtes Ohrläppchen. »Was ist mit deinem linken geschehen?«, hauchte sie.
»Heute willst du aber auch alles von mir wissen«, flüsterte er.
»Nicht nur heute. Auch morgen. Und immer.«
»Großmutter sagte immer: Die Zeit wird überbewertet. Genieße den Augenblick. Heute ist das Gestern von Morgen
.«
Clarissa dachte darüber nach. »Ein kluge Oma.«
»Ja, sie war sehr gebildet und hat mich vieles gelehrt. Zum Beispiel das Wunder der Zahlen.«
»Wie? Du kannst weder Lesen noch Schreiben, dafür aber Rechnen?«
Dott nickte stolz. »So ist es. Jetzt rechne ich zum Beispiel mit einem weiteren Kuss.«
Sie gluckste. »Pah, so rechnen kann jeder. Doch du weichst wieder aus. Kein Küsschen, bevor du mir nicht die Ohrläppchen-Geschichte erzählt hast.«
Ob dieser ungeheuren Drohung ergab sich Dott. »Als ich sieben Jahre alt war, löste sich bei einer Jagdfeier versehentlich ein Bolzen aus der Armbrust meines Vaters, der mir gegenübersaß. Der Schuss zerfetzte mir das Ohrläppchen. An sich keine schlimme Verletzung, doch es wollte gar nicht mehr aufhören zu bluten.«
»Oh je – was für ein Pech.«
»Was für ein Glück!«, entgegnete er fröhlich. »Ein Fingerbreit weiter nach links, und er hätte mir den Kopf weggeschossen.«
»Kaum auszudenken, dann könntest du jetzt nicht bei mir sein. Liebst du mich, so wie ich dich liebe?«, fragte sie.
»Ja, inniglich und ewiglich«, antwortete Dott. Genauso war es, besser konnte er es nicht ausdrücken.
»Aha«, machte Clarissa und überlegte offenbar, ob ihr das für den Moment ausreichte. Dies schien der Fall zu sein, denn sie streckte den Kopf vor und abermals suchten sich ihre Lippen. Er schloss die Augen, in Gedanken ergänzte er sinniglich
, denn es gab nur noch sie, ihren Duft, ihre Wärme, ihre Berührung. Sie öffnete leicht die Lippen, ihre Zungen berührten sich, spielten zärtlich miteinander. Mit einem Zupfen öffnete er die Schnüre ihres Mieders. Seine Fingerkuppen schoben sich darunter, wanderten über ihre zarte Haut, ihr Seufzen entfachte noch mehr Leidenschaft und Wärme, Dotts Sinnesrausch ließ ihn aufstöhnen. Gleichzeitig öffneten beide die Augen und sahen sich an. Auch ihre Blicke umschlangen und streichelten einander, sodass es Dott schwindelte. Diese Frau, dieser Ort, dieser Tag bescherte ihm das Himmelreich auf Erden. Glücklicher konnte er nicht werden, also genoss er jeden Atemzug mit Clarissa.
Vor dem Gebäude erklang eine Stimme – herrisch, gereizt, befehlsgewohnt. »Du bist sicher, dass die beiden in die Scheune verschwunden sind?«
Clarissa schreckte hoch und riss die Augen auf. Die Furcht vertrieb jegliche Wärme und Zuneigung aus ihren Pupillen. »Oh nein, mein Vater!«
Von draußen ertönte: »Ja, Herr. Eure Tochter und dieser Junge sind dort hineingeschlüpft. Ich bin sofort zu Euch gelaufen.«
Dott blieb keine Zeit, sich über die Formulierung Junge
aufzuregen. Schließlich fühlte er sich mit seinen siebzehn Jahren im besten Mannesalter, allzeit bereit, die Welt zu erobern. Leider gehörte Letztere solchen Leuten wie Clarissas Vater, Hamthor zu Berlichhausen, seines Zeichens Landgraf und Bruder des Truchsesses von Kandoria. Der hatte Dott schon einmal unmissverständlich darauf aufmerksam gemacht, dass er nicht dem Bild eines Schwiegersohns entsprach, wie ihn sich dieser Herr Hochwohlgeboren vorstellte. Seine Tochter störte der Standesunterschied wenig, sie schaute eher ins Herz der Menschen als in deren Geldbeutel – das machte sie noch liebenswerter.
Wie ein Dolch fuhr der Schmerz aus Clarissas Augen in Dotts Brust. Sie fürchtete sich vor dem, was folgen würde. Hamthor zu Berlichhausen hatte neben dem verräterischen Diener zwei weitere Bedienstete mitgebracht, ein Zeichen, wie ernst er das Techtelmechtel des Unerwünschten mit seiner Tochter nahm.
Die Männer postierten sich am Ende der Leiter.
»Kommt sofort da runter, oder ich lasse die Scheune abbrennen!«, brüllte der Landgraf, sodass sich seine Stimme überschlug.
Clarissa zitterte. »Ich kenne diesen Ton, er meint es ernst. Sein Jähzorn ist so legendär wie zerstörerisch«, flüsterte sie leichenblass und presste jene Lippen zusammen, die Dott eben noch Lust und Freude gespendet hatten.
Er nahm ihre Hand in seine und suchte ihren Blick. Mannhaft strahlte er Zuversicht und Dottvertrauen aus. Dabei hoffte er inniglich und ewiglich, dass sie sein Zittern nicht bemerkte.
»Wir kommen, Vater«, wimmerte Clarissa und kletterte Dott voran die Leiter hinunter. Er dachte gar nicht daran, sich zu verstecken, sondern beschloss, dem Adeligen die Stirn zu bieten, schließlich empfand er wahrhaftige, tiefe Liebe zur Tochter des Landgrafen. Was konnte daran verkehrt sein?
Noch bevor er den Boden erreichte, packten zwei der Bediensteten Dott und rissen ihn unsanft von den Beinen. Einer hielt ihm eine Mistgabel vors Gesicht, der andere zückte ein Kurzschwert und drückte ihm seinen Stiefel auf die Brust.
»Du Nichtsnutz wagst es, dich erneut meiner Tochter zu nähern?« Hamthor zu Berlichhausen platzte beinahe der Kragen. Vor drei Wochen hatte der Landgraf Dott verboten, sein Anwesen zu betreten, nachdem der mitbekommen hatte, dass seine Tochter sich für ihn interessierte. Drohend beugte sich der große, stattliche Mann über ihn. Die kunstvoll genähte Tunika aus Seide und Brokat, die Beinkleider aus feinstem Hirschleder, die Miene aus verhärtetem Hass. Der Landgraf ballte seine handschuhbewehrten Fäuste, kurz davor, zuzuschlagen.
»Lass ihn in Frieden, Vater. Ich habe ihn überredet, mir hierher zu folgen. Ich … ich liebe ihn«, gestand Clarissa tapfer und goss damit Öl ins Feuer.
Der Ungehorsam seiner Tochter machte ihn nur noch wütender. Gleich würde er dem unwürdigen Abschaum namens Dott die Nase brechen.
»Nein, Vater. Tu ihm nichts!«
Hamthor warf die Arme in die Höhe. »Was hast du mit meiner Tochter getrieben, Schweinehirte? Mein armes Kind redet wirr.«
»Ziegenhirte, Herr.« Sofort bereute Dott die kleine Richtigstellung, zumal sie sicherlich nicht dazu beitrug, den aufgebrachten Landgrafen zu besänftigen. Schnell fuhr er fort: »Auch ich liebe Eure Tochter von ganzem Herzen, Herr. Clarissa ist die Frau meines Lebens.«
Dieses Eingeständnis raubte dem Landherrn prompt den Atem. Seine Augen wie auch die Ader an seinem Hals traten ungesund hervor, zusätzlich schob er sein Kinn nach vorne. »Was wisst ihr beide schon von Liebe?« Seine Augenbrauen zogen sich zu einem dunklen Strich zusammen. »Hast du vergessen, Clarissa, dass du seit einem Jahrzehnt dem Grafen Meinhard versprochen bist? Nächstes Jahr im Frühling, an deinem sechzehnten Geburtstag, wirst du ihn heiraten. Gerade in diesen Zeiten der Finsternis ist es wichtig, Allianzen zu schmieden. Schließlich besitzt der Graf ein Anwesen auf den Inseln des Abends
.«
Plötzlich rückten seine Augäpfel ein Stück aus den Höhlen hervor, Zornesröte strömte in seinen Kopf. Er starrte auf Clarissas Mieder, dessen Verschnürung geöffnet war. »Das kann nicht wahr sein!«, flüsterte er, um dann umso lauter zu brüllen: »DU HAST SIE ENTEHRT!«
»Nein, nein«, entgegnete Dott.
»Natürlich nicht, Vater!«, rief Clarissa und nestelte mit rotem Kopf an ihrer Oberbekleidung herum.
»Wir sollten ihn direkt aufhängen, Herr.« Der Stiefel eines Bediensteten presste Dott nach wie vor auf den Boden, das Atmen fiel ihm schwer. »Der Balken dort könnte passen.« Hilfsbereit nahm der andere ein Seil von einem Haken in der Scheunenwand.
»Vater! Hör auf damit. Beim Grab meiner Mutter – es ist nichts geschehen!« Clarissas Stimme klang erstaunlich fest.
Ihr Vater hob die Hand. »Häng das Seil wieder hin«, knurrte er, wobei für jeden ersichtlich wurde, wie schwer ihm diese Entscheidung fiel. »Nein, mein Bruder würde das nicht gutheißen. Es ist seine Aufgabe, das Gesetz des Königs durchzusetzen.«
»Sollen wir ihm nicht wenigstens eine Hand abschlagen?«, fragte der Diener hoffnungsvoll.
Hamthor schien über diesen Vorschlag nachzudenken.
»Es könnte wie ein Unfall aussehen ...«, legte der Bedienstete nach.
Was für ein hinterhältiger Wicht!
Clarissa stöhnte. »Wenn ihr ihm nur ein Haar krümmt, werde ich euch alle bis an mein Lebensende hassen. Vater, warum willst du, dass ich unglücklich werde?«
Hamthor zu Berlichhausen antwortete: »Du siehst die Welt immer noch mit den Augen eines Kindes. Graf Meinhard ist ein ehrenwerter Mann, vermögend und einflussreich. Er wird für dich sorgen und dir ein unbeschwertes Leben bieten. Wenn es sein muss, sogar auf den Inseln, wo du vor dem Schattenstaub sicher bist. Dieser Schweinehirte hingegen besitzt nichts. Keinen Titel, kein Geld, keine Zukunft. Als ein Nichts ist er geboren, als ein Nichts wird er sterben.«
»Was muss ich tun, Herr, um Euch zu beweisen, dass ich Eurer Tochter würdig bin?«, hörte Dott sich auf einmal fragen.
Verdutzt sah ihn der Landgraf an. »Wie bitte? Was für ein absurder Gedanke. Wir sollten ihn wahrlich aufhängen.« Er warf einen prüfenden Blick in Richtung Balken. Doch mit einem Mal runzelte er die Stirn, seine Stimme nahm einen geschäftsmäßigen Ton an. »Du klingst wild entschlossen, deshalb ich schlage euch beiden einen Handel vor: Du versprichst, meiner Tochter nie wieder näher als hundert Schritt zu kommen, es sei denn, du bringst mir vorher …«, seine Pupillen leuchteten listig, »… fünfzig Goldstücke als Mitgift. Erst dann erlaube ich, dass du um sie wirbst.« Er drehte sich zu Clarissa um und griff mit beiden Händen ihre Oberarme. »Und du, meine Tochter, hältst dich solange von ihm fern. Doch ich verspreche dir: Schafft dein Schweinehirte es, das Gold vor dem nächsten Frühling aufzutreiben, darfst du ihn heiraten. Schafft er es nicht, wirst du mit Graf Meinhard vermählt.«
Clarissa blieb stumm. Die Verzweiflung glomm in ihren Augen und Dott wusste, warum. Selbst wenn er all seinen Besitz verkaufte – die Hälfte davon trug er am Leib – käme er nicht einmal auf ein lausiges Silberstück und hätte auch keine Tasche mehr, um es einzustecken. Fünfzig Goldstücke bedeuteten für einen Ziegenhirten unerreichbaren Reichtum, so weit weg wie Mond und Sonne. Was für ein mieser Handel! Genauso könnte der Landgraf von ihm verlangen, mit einem Satz über die Scheune zu springen. »Einverstanden, ich gebe Euch mein Wort«, sagte Dott. »Doch lasst mich vorher ein letztes Mal mit Eurer Tochter sprechen.«
Der Landgraf legte den Kopf schräg und antwortete mit Grabesstimme: »Wenn du etwas zu sagen hast, dann sage es jetzt. Glaube nicht, ich lasse dich noch ein einziges Mal mit Clarissa allein.«
Dott spürte, dass er sich damit zufriedengeben musste. Er packte das Bein des Bediensteten, dessen Stiefel immer noch auf seine Brust drückte und stieß es kräftig von sich. Fluchend stürzte der Mann auf den Hintern und ließ dabei die Mistgabel fallen. Als er sich aufgerappelt hatte und sich wütend auf Dott stürzen wollte, bremste Hamthor ihn mit einer einfachen Handbewegung. »Mach schon, Schweinehirte. Und dann geh mir und vor allem meiner Tochter aus den Augen!«
Dott stand auf und stellte sich vor Clarissa. Ihre Wangen und Pupillen glänzten feucht, doch das Entsetzen und die Tränen taten ihrer Schönheit keinen Abbruch. Er traute sich nicht, sie hier und jetzt ein letztes Mal in den Arm zu nehmen, allein dafür hätte er die fünfzig Goldstücke bezahlt. »Ich werde das Geld auftreiben, Clarissa, es mir ehrlich verdienen. Noch vor deinem sechzehnten Geburtstag werde ich zurückkommen, sodass du diesen Grafen nicht heiraten musst. Das verspreche ich dir. Glaube an mich!«
Sie straffte ihren Rücken und reckte das Kinn vor. »Ich glaube an dich. Ich warte auf dich, Geliebter.«
»Kinder!« Der Landgraf verdrehte die Augen. »Jetzt haben wir das geklärt. Verschwinde aus dem Leben meiner Tochter. Hinfort, Schweinehirte!«
»Inniglich und ewiglich«, flüsterte Dott Clarissa zu, drehte sich um und verließ mit feuchten Augen die Scheune.
Gedankenversunken schlug er den Heimweg ein. Seine Mutter und er wohnten in einer windschiefen Kate am Stadtrand in der Nähe der Viehweiden. Dadurch hatte er es nicht weit bis zu den Ziegenherden, die leider immer kleiner wurden, was auch seinen Verdienst schmälerte. Sein Vater war vor drei Jahren am Wundbrand gestorben, nachdem er sich einen rostigen Nagel in den Fuß getreten hatte.
Über zwei Drittel der Bewohner Kandorias waren bereits vor dem Schattenstaub in Richtung Norden geflüchtet, allen voran die reichen Familien. Die ehemalige Metropole verödete und vereinsamte. Doch Dott beschäftigten andere Probleme – fieberhaft rekapitulierte er die Vorgänge in der Scheune. Zwischen höchstem Glück und tiefem Unglück lagen manchmal nur ein paar wenige Worte. Egal wie er es auch drehte und wendete, die Aufgabe lag klar und deutlich vor ihm: Er musste die verfluchte Mitgift besorgen. Jetzt wusste er auch, warum das so genannt wurde. Seine Lebensfreude und sein Optimismus wurden selten von Zweifeln getrübt, doch der Verlust der Wärme und Glückseligkeit, die er in Clarissas Nähe empfand, wog noch schwerer als die drohende Finsternis des Schattenstaubs. Wie hatte er sich nur auf diesen Handel einlassen können? Ganz einfach, der Graf hatte ihm keine Wahl gelassen. Er glaubte zwar nicht, dass sie ihn tatsächlich aufgeknüpft hätten – das ließ selbst die kandorianische Gerichtsbarkeit, die stets die Adeligen bevorzugte, nicht zu – doch unversehrt wäre er nicht aus der Scheune hinausgekommen. Nun trug er die Verantwortung für ein Wunder auf den Schultern. Selbst wenn er Tag und Nacht sämtliche Ziegen, Schafe, Pferde und Rinder auf den Weiden vor der Stadt hütete, würde er bis zum Frühling nicht einmal ein einziges Goldstück verdienen.
Kopf hoch, Augen auf und dem Glück entgegen,
ermahnte er sich.
Er erreichte die alte Eiche an der Wegkreuzung. An der knorrigen Rinde hatte jemand ein gelbes Pergament angebracht. Dott blieb stehen und betrachtete den Anschlag. Lesen konnte er den Text nicht, doch er erkannte das Siegel des Truchsesses Ferok zu Berlichhausen. Und die Zahl fünfzig sprang ihm ins Auge. Vermutlich erhöhten sie mal wieder eine Steuer. Schulterzuckend drehte er sich um, schließlich hatte er andere Sorgen.
Auf halbem Weg kam ihm sein Jugendfreund Micha entgegen, eine schlaksige Vollwaise, die immer Hunger hatte und daher ständig nach Essbarem Ausschau hielt.
»He, Dott, wo kommst du denn her?«
»Frag besser nicht«, seufzte er zur Antwort.
»Ich brauch was zu futtern. Sollen wir beim alten Hannes ein paar Äpfel vom Baum klauen?«
Eigentlich verdiente Micha seinen Lebensunterhalt als Bettler. Er war richtig gut darin, den Städtern etwas Essbares abzutrotzen, doch die schweren Zeiten schmälerten die Freigiebigkeit der Leute enorm.
»Wie viele Äpfel brauchen wir, um auf dem Markt fünfzig Goldstücke zu verdienen?«, fragte Dott.
»Hm. Erst einmal essen wir selbst ein paar davon, die müssen wir natürlich abziehen.« Er legte seine Stirn in Falten. »Wenn wir ein Kupferstück für drei Äpfel bekommen, dann … äh … viele, sehr viele, unglaublich viele.«
»Ich glaub noch mehr, eineinhalb Millionen«, stöhnte Dott.
»Million? Ist das mehr als Tausend? Wozu brauchst du ausgerechnet fünfzig Goldstücke?«, fragte Micha in einem seltsamen Tonfall.
Dott horchte auf. »Wie meinst du das?«
»Ich komme gerade vom Marktplatz. Stell dir vor, der alte Marl, der verrückte Funkensprüher, hat im letzten Moment seinen Kopf vom Richtblock gezogen, weil er sich der Prüfung
unterworfen hat.«
»Was für eine Prüfung
?«
»Wer sich freiwillig meldet, einen Auftrag ausführt und ihn erfüllt, bekommt fünfzig Goldstücke.«
Dott erstarrte. »Du willst mich auf den Arm nehmen.«
»Aber nur, wenn du was zu essen hast«, antwortete Micha.
»Was muss man dafür tun?«
»Irgendwas mit Kampf gegen den Schattenstaub. Ich fürchte, an der Sache ist ein gehöriger Haken. Niemand bezahlt freiwillig so viel Geld für einen kleinen Auftrag. Deshalb traue ich dem Braten nicht.« Micha verwendete ständig Essensbegriffe.
Längst galoppierten die Gedanken durch den Kopf des Ziegenhirten. Ein Zeichen der Lichtgöttin. Es klang nach einem Märchen, wie Großmutter sie früher erzählt hatte. Es war einmal ein Verliebter. Und wenn er nicht gestorben ist, hütet er immer noch einsam Ziegen – es sei denn, er meldet sich für diese ominöse Aufgabe und gewinnt genau die fünfzig Goldstücke, die er als Mitgift so dringend benötigt.
»Bist du immer noch so scharf auf Clarissa?«, fragte Micha jetzt.
Dott nickte schwach, ihm schwirrte nur noch die Prüfung
durch den Kopf.
»Mit ihrem Vater ist nicht gut Kirschen essen. Der sieht es nicht gern, wenn unsereins mit seiner Tochter rummacht.«
Rummacht?
Seine innigliche und ewigliche Liebe zu Clarissa derart zu verunglimpfen, ging Dott zu weit. »Du musst auch bei allem deinen Senf dazugeben«, sagte er und passte sich der Sprache des Freundes an. »Selbst wenn du keine Ahnung hast.« Er schnalzte entschlossen mit der Zunge. »Sag mir lieber, wo ich mich für diese Prüfung
anmelden muss.«
Micha riss die Augen auf. Mit Sicherheit vergaß er für einen Moment seinen Hunger. »In der Lichtbogenfeste. Du … willst da wirklich hin?«
»Ran an den Speck!«, erklärte Dott sehr anschaulich. »Ich erkläre dem Bauern, dass du in meiner Abwesenheit die Ziegen hütest. Einverstanden?«
»Das kriege ich hin. Darf ich dann eine davon aufessen?«
»Untersteh dich«, sagte Dott lachend. »Bitte nicht.« Er überlegte. »Ich gebe noch meiner Mama Bescheid. Ich hoffe sie versteht, was ich vorhabe.« Seit Vater gestorben war, wurde seine Mutter immer wirrer im Kopf. Oftmals lebte sie so sehr in ihrer eigenen Welt, dass sie Dott kaum erkannte.
Micha nickte: »Viel Erfolg bei der Prüfung
. Egal, ob du gewinnst oder nicht, bring mir was zu essen mit.«
»Versprochen!«, lächelte Dott.