Der schwarze Marl
»He, kann mich jemand hören?« Marl hämmerte zum wiederholten Mal an die Tür seiner Zelle. Der karg eingerichtete Raum erinnerte ihn auf eine ungute Art und Weise an seine Zeit im Kloster und alles in ihm drängte danach, hier herauszukommen – obwohl er zugeben musste, dass es lange her war, dass er in einem derartig sauberen und weichen Bett geschlafen hatte und Ratten schien es auch keine zu geben. Jetzt aber war er wach, der Eimer für seine Notdurft randvoll und Letztere verbreitete einen solch widerwärtigen Gestank, dass sich Marl am liebsten aus dem kleinen Fenster gewunden hätte, um ihm zu entkommen. Unglaublich, welch schrecklichen Geruch der menschliche Körper hervorbringen konnte – genauer gesagt, sein eigener.
Erneut schlug er an die aus groben Holzplanken gefertigte Tür. Diesmal deutlich energischer und unter Zuhilfenahme seines Fußes. »Macht schon auf, hier drinnen muss dringend mal gelüftet werden und ich habe Hunger!«
Letzte Nacht, bei der Farce von einem Festmahl, das eher einem Leichenschmaus für die zehn Getöteten glich, hatte er – wie fast alle anderen Probanden – kaum etwas herunterbekommen. Lediglich dieser Sigismund hatte das Essen in sich hineingestopft, als wäre nichts gewesen. Nachdem Marl sich aber anschließend in Ruhe entleert hatte, war er an diesem Morgen tatsächlich mit Hunger aufgewacht und neben dem vollen Eimer. Was die verfluchten Zauberer heute auch mit ihm vorhaben sollten – er war fest entschlossen, sich dem mit gefülltem Magen zu stellen.
Marl wummerte jetzt mit beiden Fäusten in einem schnellen Stakkato an seine Tür und schrie, bis er heiser war: »Hallo, ist da jemand? Hallo, ist da jemand?!«
Nur vollkommene Stille antwortete ihm. Ja, war er denn allein auf dieser verdammten Burg?
Resigniert und mit einem langgezogenen Stöhnen ließ er sich auf sein mit Stroh gefüttertes Bett fallen. Was sollte das Ganze hier? Gestern noch hatten sie brüllend im Hof gestanden und einander abgeschlachtet und heute hatte sich über die Lichtbogenfeste eine Glocke der Ruhe gelegt, die fast ohrenbetäubend war. Marl wäre in diesem Moment geradezu froh, wenn er wenigstens irgendeinen seiner Mitstreiter husten oder furzen hören könnte. Einen kurzen Augenblick war er versucht, die Augen zu schließen, aber dann kamen ihm die Träume der vergangenen Nacht in den Sinn, und er setzte sich abrupt auf. Das Letzte, was er jetzt wollte, war einzuschlafen.
Marl lief ein unangenehmer Schauder über den Rücken, als er an die Visionen dachte, die sein Unterbewusstsein ihn im Schlaf hatte erblicken lassen. Erinnerungen an die Zeit, nachdem er aus dem Kloster geflohen war. Dunkle Tage waren das gewesen, in denen er alles – wirklich alles – dafür getan hatte, um etwas zu Essen zu bekommen. In der Nacht war ihm das Bild der Frau erschienen, die ihm, dem zerlumpten Betteljungen, ein Stück von ihrem Brotlaib abgegeben hatte und der er dann in die dunkle Gasse gefolgt war, weil es nicht genug gewesen war – nie genug sein konnte. Ihre schönen, überraschten Augen hatten ihn letzte Nacht wieder angestarrt. Die Ungläubigkeit über das, was er ihr gleich antun würde, konnte er immer noch daraus lesen.
Marls Atem beschleunigte sich und seine Hände begannen zu zittern. Er versuchte an etwas anderes zu denken und blickte auf den Eimer voller Exkremente. Nicht die schönste Ablenkung, aber es funktionierte – für einen kurzen Moment.
Viele Jahre hatte er nicht mehr an die Frau gedacht. Andere Gesichter hatten ihres verdrängt. Gesichter jeden Alters und jedes Standes. Sie war nur die erste in einer langen Reihe gewesen, die der Schwarze Marl – so nannten ihn seine wechselnden Kumpanen ehrfürchtig – dahingerafft hatte in seiner Gier: mehr Essen, mehr Gold, mehr Frauen. Mehr von allem.
»Jenes Leben habe ich hinter mir gelassen«, sprach er laut in den leeren Raum hinein.
Hast du das wirklich?
Marl hasste es, wenn sein Geist ihm diese scheußlichen Selbstgespräche aufzwang, aber irgendwie wirkten sie auch befreiend. Er musste an das denken, was er gestern getan hatte. Da war er wieder gewesen, der Schwarze Marl, der Schrecken der südlichen See und der Feuerteufel von Moorbach.
Jetzt begann er am ganzen Körper zu zittern und zu schwitzen. Moorbach. Auch das kleine, pittoreske Dörfchen hatte ihm die letzte Nacht gezeigt. Höhepunkt und Ende des Schaffens des Schwarzen Marls. Das Feuer war überall gewesen. Die Menschen hatten so erbärmlich geschrien in ihren Häusern, die Marl und seine Kumpane vorher sorgfältig verriegelt hatten.
Angezündet hast du die armen Schweine. Haus für Haus. Du liebst das Feuer und das Feuer liebt dich.
Marl schüttelte den Kopf und presste zwischen zusammengebissenen Zähnen so laut heraus, dass ihm der Geifer aus dem Mund schoss: »Das bin ich nicht mehr!«
Erzählt der brennende Tempel, der deinen Kopf direkt auf des Henkers Klotz geführt hat, nicht eine andere Geschichte?
»Das war ein Versehen. Ich …« Marl spürte, wie ihm heiße Tränen das Gesicht hinabliefen. Was passierte hier? Warum überrollten ihn derartige Gefühlswallungen? »Diese verfluchten Zauberer«, murmelte er in sich hinein. Er zog geräuschvoll hoch und wischte sich mit dem Hemdsärmel das Gesicht trocken. »Die sind daran schuld.«
Nein, nur du allein bist daran schuld, Schwarzer Marl , gab ihm die mahnende Stimme in seinem Kopf eine letzte, bittere Wahrheit mit auf den Weg.
Auf dem Gang erklangen Schritte.
Marl erhob sich. Sein Blick war immer noch auf den vollen Eimer gerichtet. Der Erste, der hier hereinkommt, kriegt die Kacke über den Kopf. Er nahm das Gefäß und baute sich lauernd hinter der Tür auf. Den Eimer so haltend, dass man ihn nicht sehen konnte, wenn man den Sehschlitz öffnete.
Genau das passierte im nächsten Augenblick. Die verschlagenen Augen des Novizen Lantbert erschienen für einen kurzen Moment. »Er ist wach und wartet schon«, erklang daraufhin dumpf dessen Stimme von hinter der Tür. Mit einem scheppernden Rasseln wurde diese aufgeschlossen.
Marl machte sich bereit. Eine Hand unter den Boden des Eimers geschoben, die andere am Henkel platziert, sodass er eine möglichst weite Streuung erreichen konnte. Ein Blick in den Kübel ließ ihn würgen.
Die Tür öffnete sich.
Marl hob den Eimer ein kleines Stück an.
Der alte Spitzbart trat ein.
Mit Schwung kippte Marl seine Hinterlassenschaften nach vorn – und bekam im nächsten Moment einen so heftigen Schlag in die Magengrube, dass er glaubte, von einem Pferd getreten worden zu sein. Keuchend klappte er zusammen, dabei traute er seinen Augen kaum: Seine Exkremente blieben einfach in der Luft stehen, wechselten dann die Richtung, um klatschend auf ihren Urheber niederzuregnen.
Scheiße!
»Ist alles in Ordnung, Meister?«, erklang eine weibliche Stimme.
»Ja, dank Euch. Das waren zwei wirklich hervorragende Zauber, meine Liebe. Angriff und Verteidigung in einem Atemzug. Ich bin beeindruckt. Ihr werdet immer besser, Helikon.«
»Was machen wir mit dem stinkenden Etwas?«, unterbrach Lantbert die Lobhudelei seines Meisters. »Verschieben wir seine Prüfung , bis eine der Wachen ihm mit einem Eisenschwamm die Haut von den Knochen geschrubbt hat?«
»Ähm …«, war das Einzige, was Marl von sich geben konnte. Der magische Schlag und die mit ihm verbundenen Schmerzen machten das Reden augenblicklich ziemlich schwer.
»Nein«, beschied Belam scharf. »Ihr wisst, dass das unmöglich ist. Helft ihm auf, Lantbert!«
Behaarte Hände tauchten vor Marls Augen auf. Er hatte beschlossen, dass es für Lantbert nicht erforderlich war zu wissen, dass er eigentlich auch selbstständig hätte aufstehen können. Dankbar ergriff er daher dessen Unterarm und besudelte ihn wie zufällig mit Kot.
»Ihh!« Der Novicius zuckte zurück.
»Lantbert, genau diese Einstellung hindert Euch daran, dass Ihr endlich einmal mit Euren Studien weiterkommt. Macht so weiter und Ihr werdet niemals eine weitere Säule der Magie erlernen«, rügte ihn Belam.
Marl konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Es war schön, dass zur Abwechslung auch mal jemand anderer Prügel bezog.
»Das dreckige Grinsen wird dir schon noch vergehen, wenn es dir die Seele aus dem Leib saugt.« Ruppig half ihm Lantbert auf und ignorierte weisungsgemäß, dass Marl ihm dabei zufällig seine schöne, blaue Robbe ruinierte.
Seele aussaugen? Wovon spricht er?
Die Zauberer ließen Marl keine Zeit, um darüber nachzudenken. »Marl van Tellenkamp, glaube nicht, dass ich ein solches Verhalten gutheiße, aber jetzt gibt es Wichtigeres zu tun: Deine zweite Prüfung erwartet dich.« Belam wandte sich um und nickte zwei im Türrahmen wartenden Wachen zu, die Marl mit verkniffenen Gesichtern hinausgeleiteten.
»Gehen wir heute nicht auf den Hof?«, fragte er und versuchte so unverfänglich wie möglich, seinen Begleitern den Ort der Prüfung zu entlocken, doch sowohl die drei Zauberer als auch die Wachen schwiegen eisern. Sie führten ihn schlussendlich in den Keller der großen Burg hinunter. Muffig-feuchte Luft empfing sie und Marl fröstelte ein wenig.
Belam öffnete mit großer Geste ein vergittertes Tor, das hinter ihnen krachend wieder geschlossen wurde.
»Moment mal, wegen dieses kleinen Scherzes, werdet ihr mich doch nicht hier unten einsperren wollen. Meine alten Knochen vertragen die Feuchtigkeit von Kerkern nicht mehr so gut und …«
»Halt den Mund, du stinkendes Scheusal!«, unterbrach ihn Lantbert. »Wir bringen dich zu deiner zweiten Prüfung , obwohl dir – wenn es nach mir gegangen wäre – diese Ehre nicht mehr zuteil geworden wäre.«
Erneut wurde ein Eisentor geöffnet und verschlossen.
Es geht noch weiter hinunter. Nie hätte ich gedacht, dass die Lichtbogenfeste über so tiefe Keller verfügt. Marl fror immer stärker. Seinen Begleitern schien die Kälte nicht so viel auszumachen wie ihm, oder sie konnten es besser verbergen. »Ach, jetzt habe ich es! Ihr bringt mich auf ein verstecktes Scheißhaus, weil Ihr euch vor meinen Hinterlassenschaften fürchtet.«
Erneut fiel krachend ein Gitter ins Schloss.
»Redet doch nicht solch einen Unsinn«, tadelte Belam ihn, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Marl fragte sich, ob der Mann überhaupt zu Gefühlsregungen fähig war.
»Ihr werdet gleich den geheimen Lichttempel der letzten Überlebenden erblicken. Eine Ehre, die Außenstehenden nur sehr selten zuteilwird.«
Unwillkürlich begann Marl mit den Zähnen zu klappern. Warum war ihm nur so kalt?
Wieder verriegelte man hinter ihm eines der massiven Tore.
»Ah!« Ein stechender Schmerz durchzuckte auf einmal seinen linken Fuß. Marl kam ins Stolpern und da wusste er, was los war.
»Schluss mit deinen Mätzchen, oder ich lasse dich von den Wachen zur Prüfung hinpeitschen«, giftete Lantbert.
Marl hörte es gar nicht. Er begriff endlich, was sich hier unten befand. »Seid Ihr von allen guten Geistern verlassen? Wie konntet Ihr es wagen, ihn hierher zu bringen – nach Kandoria? Tausende Menschen vor den Burgmauern vertrauen auf Euren Schutz, und Ihr habt ihn in die Stadt gelassen.«
Belam blieb abrupt stehen und mit einer knappen Handbewegung brachte er alle anderen dazu, es ihm gleichzutun. Er fixierte Marl mit einem durchdringenden Blick, der sich anfühlte, als würde er ihm damit auf den Grund seiner Seele sehen. »Ihr könnt ihn spüren?« Seine Worte transportierten eine größere Verblüffung, als der Zauberer mit seiner Mimik verraten wollte.
»Natürlich. Kann das nicht jeder?«
»Wie genau fühlt er sich denn für Euch an?« Belams Ton wurde lauernd, wissbegierig. Jetzt war plötzlich Marl derjenige, von dem Belam etwas wollte. »Nicht besonders. Seitdem er mich berührt hat, bringt mich mein Fuß vor Schmerzen fast um, wenn ich mich in seiner unmittelbaren Nähe aufhalte und seine Kälte kriecht mir in die Knochen. Schon als wir die erste Stufe der Treppe hinabgestiegen sind, habe ich ihn gefühlt. Ich konnte mir nur nicht vorstellen, dass jemand wirklich so dumm und leichtfertig ist, Schattenstaub in die Hauptstadt des Reiches zu bringen.«
»Äußerst interessant. Ich kann mich an keinen derartigen Fall erinnern«, begann der Meister der Zauberer, ohne auf Marls Kritik einzugehen. Aufgeregt zupfte er sich an seinem Spitzbart. »Wo habt Ihr ihn schon einmal gespürt?«
In Marls Kopf tauchte eine Abfolge schneller, verwaschener Bilder auf: Eines zeigte den dreckigen Bengel, der etwas von den Reichtümern eines verwaisten Lichttempels berichtete. Ein anderes präsentierte eine bunt zusammengewürfelte Truppe von Männern, die dem Jungen geglaubt hatten, als er erzählte, dass der graue Tod jenen Ort noch nicht überrollt hatte. Weitere Bilder offenbarten das panische Schreien und Rennen von Marls Kameraden, als sie der verfluchte Schattenstaub doch überraschte. Silberne Kerzenlüster, Geschmeide, wertvolle Stoffe und Bücher wurden weggeworfen. Es nützte ihnen alles nichts. Als Nächstes sah Marl seinen eigenen ungelenken Sprung über das kleine Rinnsal, das hinter dem Tempel entlangfloss und ihm als Einzigen der ganzen Truppe das Leben rettete. Und er spürte noch einmal den Moment, als die gierigen Leichenfinger des Schattenstaubs noch im Sprung nach seinem Fuß gegriffen hatten. Fast wäre es auch um ihn geschehen gewesen. Marl wurde übel, als er daran dachte, wie seine Kumpane als Schattengestalten an das andere Ufer des Bachs traten und stöhnend seinen Namen riefen.
»Ach«, erklärte er, »ich habe in irgendeiner Spelunke mal einen Besoffenen darüber reden hören und eins und eins zusammengezählt.« Was ging die Magier seine Lebensgeschichte an? Vermutlich hatten sie sie ohnehin schon aus seinem Kopf gesaugt.
Belam nickte erhaben. »Nun gut. Ihr werdet gleich feststellen, ob das Gerede der Wahrheit entspricht oder nicht.«
Marls Darm gab ein lautes Grummeln von sich. Er wünschte, er könnte jetzt einfach gemütlich auf seinem Eimer sitzen.
Eine der Wachen schob einen Riegel auf und öffnete eine Tür, die fast so dick war wie Marls Unterarm lang. Der Raum dahinter war gleißend hell und offenbarte einen Schemel, der von einem fußbreiten Wasserrinnsal umflossen wurde.
Marl spürte eine Hand im Rücken, die ihn in den Raum hineinschob. »Komm schon, der graue Tod wartet auf dich.« Lantberts Stimme troff vor Bösartigkeit.
Paralysiert ließ es Marl mit sich geschehen. Er wurde auf den Stuhl bugsiert. Die Lichtkugeln an der Decke brannten in seinen Augen, aber er blickte stoisch auf die senkrechten Schlitze in der Wand, hinter der der Schattenstaub lauerte – das konnte Marl in seinen Eingeweiden spüren.
Belam erklärte monoton – vermutlich, weil er es an diesem Tag schon mehrere Male getan hatte: »Sobald das Licht erlischt, wird der Schattenstaub versuchen, Eurer habhaft zu werden. Es geht heute nicht um die Schärfe Eurer Waffe, sondern um die Eures Verstandes, denn Ihr müsst eine Denkaufgabe lösen. Das Wasser hält den Schattenstaub auf, doch je länger Ihr Euch Zeit lasst, eine Antwort zu präsentieren, desto mehr davon läuft ab. Ist die Rinne leer, seid Ihr verloren. Wie Ihr Euch vielleicht erinnert.«
Der letzte Teil des Satzes brachte Marl zur Besinnung. Elende Schnüffler. Belam hatte also doch gewusst, dass er bereits Erfahrung mit dem grauen Tod hatte. »Wie viele Antworten kann ich geben?«
»Nur eine. Ist es die richtige, rettet Euch das Licht.« Er brauchte nicht zu erläutern, was bei einer falschen passieren würde.
Hilflos sah Marl zu, wie die Zauberer den Raum verließen und die schwere Tür schlossen. Lantbert ließ es sich nicht nehmen, ihm noch ein triumphierendes Abschiedsgrinsen zu schenken.
Kaum war die Pforte ins Schloss gefallen, verglomm langsam das pulsierende Licht in den drei Kugeln, die den Raum bisher so grell illuminiert hatten und Belams getragene Stimme erklang:
Nicht unsre Leiber stehn voran.
Dahinter folgt, was unsre Gier,
was unser Hass zerstören kann.
Und hättest du’s, wärst du nicht hier.
Marl spürte, wie die Kälte noch beißender wurde. Sein Atem bildete kleine Wölkchen, die er in dem verlöschenden Licht kurz sah. Er traute sich nicht zu sprechen. Gern hätte er darum gebeten, dass der Magier das Rätsel wiederholte, aber vielleicht hätten sie ihm das schon als eine falsche Antwort ausgelegt. Langsam rekapitulierte er die Worte in seinem Kopf. Er war schon als Junge gut im Auswendiglernen gewesen, was ihm im Kloster einiges erleichtert hatte, bestand seine Hauptaufgabe doch darin, ständig irgendwelche neuen Lichtverse zu rezitieren.
Nicht unsre Leiber stehn voran. Marl schnaufte resigniert. Er hatte überhaupt keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Die kalte Luft schmerzte in seinen Lungen. Für einen Moment glaubte er, in der Schwärze um ihn herum Bewegungen auszumachen: der Schattenstaub, der aus den Wänden strömte und immer näher kam.
Dahinter folgt, was unsre Gier, was unser Hass zerstören kann. Er dachte an all die schönen Dinge, die er in seinem Leben aus Gier vernichtet hatte, was das aber mit seinem Körper zu tun haben sollte, begriff er nicht. Das stetige Gurgeln des ablaufenden Wassers lenkte ihn ab. Er legte die Arme um seinen Körper, um sich schmaler zu machen, als könnte er so dem Schattenstaub entkommen.
Und hättest du’s, wärst du nicht hier. Marls Fuß schmerzte und dazu sandte er seinem Gehirn noch eine andere Empfindung. Er wollte über die Rinne gehen. Zurück an den Ort, den er für einen kurzen Moment bereits betreten hatte. Marl biss sich in die Wange, bis es blutete, um diesen irrsinnigen Wunsch zu unterdrücken. Es gab so viele Dinge, von denen er glaubte, dass sie verhindert hätten, dass er an diesem verfluchten Ort landete. An erster Stelle stand Gold, aber eine innere Stimme warnte ihn, dass das niemals die Antwort sein konnte.
Das Gurgeln des Wassers wurde merklich leiser. Es ist fast abgelaufen! Marl spürte, wie ihn eine bleierne Müdigkeit überkam. Sein Körper hatte der Kälte fast nichts mehr entgegenzusetzen und sogar mit dem Zittern aufgehört. Wispernde Stimmen drangen aus der unnatürlichen Schwärze um ihn herum an sein Ohr.
»Wo ist er?«
»Ich kann sie nicht finden!«
»Mir ist so kalt.«
»Ich habe mich verlaufen.«
Die letzte machte Marl am meisten zu schaffen. Sie war hoch und unschuldig. Er wusste, was das für Stimmen waren. Sie gehörten zu den armen Seelen, die der Schattenstaub verschlungen hatte. Und die verfluchten Zauberer dachten gar nicht daran, sie zu erlösen, sondern brachten sie auch noch mitten hinein nach Kandoria, anstatt den armen Verstorbenen Frieden zu gönnen.
Das Gurgeln des Wassers verstummte.
Marl konnte nicht mehr atmen, so kalt war die Luft.
Die Zeit war abgelaufen.
Ich werde jetzt zu einem von ihnen. Eine Seele, die niemals Frieden findet. Ein greller Blitz flammte hinter Marls geschlossenen Lidern auf. Das musste es sein. Die Lösung des Rätsels. »Seelenfrieden«, flüsterte er.
Dann fiel er in Ohnmacht.