Die Aussicht
Am Abend lag Dott auf seiner Strohmatratze und starrte im Schein seiner Nachtkerze an die Decke. Nicht dass es dort etwas Besonderes zu sehen gegeben hätte, graue Balken, dazwischen weißer Putz, ein paar Flecken, aber der heutige Zweikampf geisterte immer noch durch sein Gemüt. Er hatte einen übermächtigen Gegner besiegt, sogar ohne einen Tropfen Blut zu vergießen. Wie er es genau geschafft hatte, wusste er nicht. Woher war in seiner höchsten Not das Flüstern gekommen? Lass dich nicht einholen. Lauf fort von ihm. Halte Abstand! Wer hatte diese Worte gesprochen? So wie nachts alle Katzen grau waren, verhielt es sich auch mit geflüsterten Stimmen: schwer zu unterscheiden, schwer zu erkennen.
Auf das abendliche Festmahl, zu dem die Zauberer geladen hatten, als wäre im Laufe des Tages nichts geschehen, verzichtete Dott nur zu gern. Aus freien Stücken wollte er keinen Moment zu lange mit Menschen wie Sigismund und Belam verbringen.
Morgen ging es also weiter, mit neuen Herausforderungen, neuen Gemeinheiten und neuen Toten – davon konnte er ausgehen. Wieviel Helden wurden denn überhaupt für die eigentliche Aufgabe gesucht? Dott fiel auf, dass er im Grunde nichts wusste. Immerhin wusste er dies. Und dass Belam und seine beiden Nachwuchszauberer auch für den kommenden Tag mit neuen Fiesheiten aufwarten würden. Es blieb abzuwarten, wie viele Tote es in der zweiten Runde geben musste, bis die Blutgier dieses unheiligen Trios befriedigt war.
Seit zwei Nächten hatte Dott kaum geschlafen, nun kroch die Erschöpfung in Geist und Körper und verhalf ihm zu einem traumlosen Schlaf.
Beim ersten Morgengrauen erwachte er von schabenden Geräuschen. Wie gestern lugte er aus dem schmalen Fenster in den Burghof. Drei Bedienstete verteilten mit Schaufeln frischen Sand auf dem Boden und stampften ihn fest – ein Versuch, die Erinnerungen an das gestrige Gemetzel zu verschütten. Als wenn dies so einfach wäre.
Der Ziegenhirte holte tief Luft.
Trübsalblasen bringt mich keinen Dott weiter.
Folglich beschloss er, einen Erkundungsgang durch die Burg zu wagen. Wenn er es schon mal hierhergeschafft hatte, sollte er die Gelegenheit nutzen, sich alles anzusehen. Schließlich tat ein wenig Ablenkung gut. Vielleicht ließen ihn die Wachen sogar auf den Bergfried steigen und bei der Gelegenheit über die ganze Stadt blicken. Schon als Kinder hatten Micha und er sich gewünscht, einmal von dort herunterzuspucken. Micha hatte vermutet, dass sie von der Spitze des Turms sogar die Lichtgöttin auf ihrem Thron zwischen den Wolken sehen konnten, was der Ziegenhirte bezweifelte. Zumindest im Augenblick schien die Schöpferin sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Die wollte weder von Schattenstaub noch von Prüfungen etwas wissen.
Doch die Kammertür ließ sich nicht öffnen – die Riegel waren von außen vorgeschoben. Empört hämmerte Dott mit beiden Fäusten gegen die Pforte.
Ein bärtiger Wachmann schob einen Sehschlitz auf, der Dott bis dahin gar nicht aufgefallen war. »Was willst du?«
Im Hintergrund stand ein weiterer Soldat mit einer Pike in der Hand.
»Bin ich ein Proband für die Prüfung oder ein Gefangener?«, fragte Dott.
»Ich sehe da keinen Unterschied«, stellte die Wache fest. »Ich habe meine Befehle.«
»Und ich habe Lust, die Aussicht vom Bergfried zu genießen.«
Ein wenig perplex sah ihn der Wachmann an. »Was … glaubst du, warum du hier bist?«
»Erkläre du es mir.«
»Pft. Was willst du denn wissen?«
»Alles über die Prüfung
Die Wache verdrehte die Augen. »Du bleibst in der Kammer. Essen und Trinken werden dir gebracht. Du hast nichts anderes zu tun, als dich für den zweiten Teil bereitzuhalten.«
»Was kommt da auf mich zu?« Dott bemühte sich, möglichst sorglos zu klingen.
Der Mann zuckte mit den Achseln. »Genaues weiß ich nicht. Nur eins ist sicher, du wirst heute noch deinen Auftritt bekommen. Und es ist höchst unwahrscheinlich, dass du erneut so viel Glück hast wie gestern.«
»Ah, demnach hast du meinem Kampf beigewohnt.«
Der Wachmann nickte. »Wenn du das Kampf nennen möchtest, bitte. Ich habe lediglich einen hoffnungslos naiven Ziegenhirten gesehen habe, der um einen Brunnen rannte.«
Dott betrachtete die kräftigen Arme und die breiten Schultern des Soldaten. »Fürwahr. Du bist doch so viel erwachsener, stärker und schlauer als ich. Warum machst du dann nicht bei der Prüfung mit?«
»Äh …«
»Verstehe! Du kannst den Sehschlitz wieder zuschieben.«
Es machte Ratsch und Klack, und Dott hatte seine Ruhe. Er setzte sich wieder auf die Strohmatratze.
Kurze Zeit später brachte ihm ein Diener ein Tablett mit Brot, Käse und Schinken, sowie einen Krug frisches Wasser. Wenigstens veranstalteten die hier keine Hunger-Prüfung .
Nachdem er sich gestärkt hatte, legte er sich flach auf das Bett, verschränkte seine Arme hinter dem Kopf und wackelte mit den Zehen. Zwischen Bangen, Hoffen und Warten dachte er an Clarissa, stellte sich ihr Gesicht, ihren Duft, ihre Stimme vor. Das vertrieb ihm die Zeit auf angenehmste Weise.
Es musste früher Nachmittag sein, als der Wachmann die Tür aufstieß. Auf der Schwelle standen Meister Belam und seinen beiden Adjutanten Novicia Helikon und Novicius Lantbert.
»Eure zweite Prüfung erwartet Euch, Dott«, sagte der Magier kühl. »Folgt uns!«
»Verratet mir, was Ihr vorhabt! Hetzt Ihr auch heute wieder zwei Menschen bis zum bitteren Ende aufeinander?« Seine Tonlage machte keinen Hehl daraus, was er von der bisherigen Veranstaltung hielt. So trotzig wie vorwurfsvoll sah er Belam an. Der Magier starrte gleichgültig zurück, doch Dott dachte gar nicht daran, den Blick abzuwenden.
Zwar bin ich nur ein kleiner Ziegenhirte, doch glaube nicht, dass du etwas Besseres bist.
Dott traute sich nicht, es laut zu sagen, deshalb legte er all sein Aufbegehren in sein Mienenspiel. Die Schwere der Last, die seit Beginn der unseligen Prüfung auf seine Schultern drückte, verhalf ihm zu Mut, aber auch zu jeder Menge Missmut.
Immer noch trafen sich die Blicke der ungleichen Rivalen wie zwei Schwerter; Dott schluckte, hielt jedoch stand. Der bedeutendste Magier des Reiches stand ihm gegenüber, die Stirn von tiefen Furchen durchzogen.
Gerade als Dott aufgeben und den Blick abwenden wollte, schob sich Helikon dazwischen. »Niemand hat Euch gezwungen hierherzukommen. Also erspart uns jedwede Pampigkeit. Wir werden es Euch gleich erklären.«
Sie machten sich auf den Weg, wohin auch immer. Zunächst einmal ging es nach unten, immer tiefer in feuchte Gewölbe mit rostigen Gittertüren. Eine Treppe folgte der nächsten. Es wurde beständig kühler. Viele Gerüchte rankten sich um die dunklen Kerker in den Katakomben der Lichtbogenfeste, die meisten davon hatte Dott als gruselige Hirngespinste abgetan. Nun war er nicht mehr so sicher, ob diese Hallen nicht doch zum Foltern oder für andere dunkle Machenschaften dienten. Wieder führte ein langer Gang bergab. Es hieß, tief unten in der Erde würde der Schattenfürst residieren, der Erzfeind der Lichtgöttin.
Sieben Gittertüren später – ein gutes Zeichen – blieben sie vor einer besonders gruseligen eisenbeschlagenen Pforte stehen. Das dunkle Eichenholz verschluckte einen Großteil des Fackellichtes, drei Eisenriegel waren vorgeschoben. Mit einigem Kraftaufwand öffnete einer der Wachmänner die Tür. Gleißendes Licht fraß sich in den Gang, einige Herzschläge lang konnte Dott nichts erkennen, zu sehr wurde er geblendet. Magisches Licht, denn keine Kerze oder Fackel vermochte so hell zu leuchten. Der Wachmann führte Dott zu einem einsam in der Mitte der Kammer stehenden Holzschemel.
»Wozu dient dieser Kerker?«, fragte er mit trockenem Mund.
»Nennt es Laboratorium. Wie jeder gute Stratege und Kriegsherr lernen wir hier unseren Feind besser kennen. Folglich erforschen wir ihn und suchen nach Wegen, ihn effizient zu bekämpfen«, erklärte Novicia Helikon.
»Es wird dir übrigens nichts nützen, im Kreis zu rennen«, ergänzte Novicius Lantbert mit einer ordentlichen Portion Gehässigkeit und deutete auf eine umlaufende, mit Wasser gefüllte Rinne.
Dott begriff, obwohl er nicht begreifen wollte: Die magischen Lampen, der Raum tief im Keller, das Wasser und der Hinweis auf den Feind – all dies ließ nur einen Schluss zu. »Ihr wollt, dass ich gegen den Schattenstaub kämpfe«, flüsterte er ungläubig. Eine solche Ungeheuerlichkeit traute er nicht einmal den drei Zauberern zu.
Belam antwortete: »Heute trefft Ihr auf jenen erbitterten Gegner, den es zu vernichten gilt. Beweist, inwieweit Ihr angesichts der tödlichen Gefahr einen kühlen Kopf bewahren könnt. Sobald das Licht erlischt und das schützende Wasser aus dem Bannkreis abgelaufen ist, wird Euch der Schattenstaub verschlingen. Daher solltet Ihr das Rätsel tunlichst vorher lösen.«
»Ein Rätsel?«
»Gleich werde ich es Euch vortragen. Ihr habt nur einen Versuch, also überlegt Eure Antwort gut.«
Dott konnte es nicht fassen. Die Magier warfen die Probanden in diesem Kerker dem Schattenstaub zum Fraß vor. Und veranstalteten dabei eine Rätselstunde. Wie amüsant – nur nicht für den, der auf dem Hocker saß. Es verblieb weder Zeit, sich zu ärgern, noch die drei Zauberlinge ordentlich zu verfluchen. Zunächst galt es zu überleben, damit er das andere später nachholen konnte.
Konzentriere dich, Dott , beschwor er sich selbst. Rätsel hast du doch schon immer gemocht.
Er setzte sich. Wachen und Zauberer verließen das Verlies, die Tür schloss sich und knarzte dabei wie ein Sargdeckel; das magische Licht verlor sanft flackernd an Leuchtkraft.
»Macht Euch bereit!«, vernahm er die Stimme Belams von irgendwo draußen. Immerhin war sie gut zu verstehen.
Das Licht verdunkelte sich weiter, die Mauern bewegten sich, aus senkrechten Ritzen waberte es unheilvoll, immer dicker werdende Schatten quollen hervor und krochen auf Dott zu. Fast schien es so, als schöben sich die Wände zusammen, um das Opfer in der Mitte genüsslich zu zerquetschen. Erste Schattenausläufer zuckten in seine Richtung. Kälte umgab den Ziegenhirten, drückte von allen Seiten auf ihn ein wie riesige Eisplatten. Er spürte, wie der Atem vor seiner Nase gefror.
»Worauf wartet Ihr? Her mit dem Rätsel, schnell!«, forderte der Ziegenhirte laut. Er musste sich von der Angst ablenken. Und wer wusste schon, wie lange er noch zu reden vermochte. Zeit, Wasser und Wärme liefen ihm davon, während Meister Belam draußen vor der Tür offenbar einzuschlafen drohte.
»Hört gut zu, Dott!«, sagte der Magier.
Ja, doch!
Dott konzentrierte sich. Er musste jedes Wort aufsaugen, dann in Ruhe darüber nachdenken, wenn er eine Chance haben wollte. Dabei vermied er es, den Kopf zu heben und nach dem Schattenstaub zu sehen.
Im Stil einer Grabrede trug der Zauberer das Rätsel vor. War es die Grabrede für einen jungen Ziegenhirten?
Es fängt nicht ohne etwas an.
An seinem Ende stirbt ein Tier,
Oder ein Mensch verendet dran.
Und hättest du’s, wärst du nicht hier.
Häh? Das war alles? Was für eine verfluchte, dümmliche Aufgabe! Des Rätsels Lösung kostete Dott nicht einmal ein müdes Schulterzucken. Sie schien ihm viel zu naheliegend, viel zu leicht, viel zu banal. Es musste sich um eine Falle handeln. Sie wollten ihn bestimmt täuschen, ihn zu einer falschen Antwort verleiten.
Er zögerte. Übersah er etwas? Gab es einen fiesen Hintergedanken? Es blieb ihm nur ein Versuch!
In der Kammer wurde es immer kälter. Seine geliebten Zehen froren ein. Nun hob er doch den Kopf, denn er glaubte, gequälte Stimmen aus den Schatten zu hören, die in seinen Schädel eindrangen. Die Schwaden um ihn herum rückten näher, bildeten einen Kreis, ballten sich zu Fäusten, so als wollten sie ihn schlagen. Nur das Wasser in der Rinne verhinderte, dass der Schattenstaub sich auf ihn stürzte. Doch diese letzte Bastion Hoffnung gluckerte irgendwo ins Nichts. Immer gieriger drängelte sich die Finsternis um ihn herum.
Dott überdachte seine Antwort erneut. Sein erster Gedanke war der richtige – jede Zeile in dem Reim passte. Zur Lösungsfindung hätte sogar nur die letzte gereicht.
Wenn ich fünfzig Goldstücke hätte, wäre ich nicht hier.
Wenn er gar nichts antwortete, stürbe er auch. Also rief er: »Mitgift!«
Langsam kehrte Licht in die magischen Lampen zurück, gleichzeitig gluckerte neues Wasser durch die Rinne. Mit einem wütenden Fauchen zog sich die Finsternis zurück.
Die dicke Pforte öffnete sich, und die drei Zauberlinge schauten mit ernsten Gesichtern in die Kammer.
»Soeben habt Ihr die zweite Prüfung bestanden, Dott«, stellte Belam fest. Etwaige Freude darüber hielt er streng geheim.
»Ich hoffe, die dritte ist wieder was Schwereres«, entgegnete der Ziegenhirte. Zwar lief ihm noch ein Schaudern über den Rücken und seine Zehen schmerzten, als sei er drei Tage durch tiefen Schnee marschiert, doch er ließ sich nichts anmerken. Diese Genugtuung gönnte er den magischen Quälgeistern nicht. Die waren kaum besser als der Schattenstaub.
In den drei unergründlichen Augenpaaren erkannte Dott einen Funken Erstaunen. Man hatte wohl fest mit seinem Ableben gerechnet. Ein Mundwinkel von Novicia Helikon zuckte kurz. Übellaunigkeit oder Heiterkeit – Dott konnte es nicht einschätzen.
»Ihr könnt es augenscheinlich kaum erwarten, doch wie Ihr meint. Morgen in der Früh beginnt die dritte Prüfung . Mit Euch werden wir beginnen«, beschloss Meister Belam.
»Verratet Ihr mir, auf was ich mich einstellen darf?«
»Nein!«
»Ihr wisst es selbst noch nicht«, behauptete er listig.
»Schweigt!«
Was hatte er erwartet? Als Spaßvögel konnten sich alle drei nicht verdingen. Vermutlich bestand ihr einziges Vergnügen darin, Probanden zu quälen. Einen kurzen Moment bedauerte Dott, dass er nicht selbst ein wenig zaubern konnte, um sich dieser Willkür besser erwehren zu können.
Drei Wachen, drei Magier und ein Dott machten sich auf den Weg nach oben. Somit waren sie zu siebt. Schön!
»Gern würde ich auf den Bergfried steigen, solange es noch hell ist«, probierte es der Ziegenhirte zum zweiten Mal an diesem Tag, während Novicius Lantbert die letzte der schweren Gittertüren aufschloss. »Hierfür bitte ich um Eure Erlaubnis, Meister Belam.«
Zunächst stutzte der Zauberer, dann nickte er in der ihm eigenen Gleichgültigkeit. Er wies drei Wachen an: »Begleitet Dott auf den Turm. Zeigt ihm, was er zu sehen wünscht.« Kopfschüttelnd verließ Belam den Gang, seine zwei Adjutanten trotteten wie Gänseküken hinterher. Die Novicia warf einen kurzen Blick zurück.
Der Ziegenhirte hatte nicht damit gerechnet, dass Belam seinem Wunsch entsprechen würde. Er wandte sich den drei Wachmännern zu. »Hinauf in luftige Höhen! Doch vorher muss ich mal dringend. Beinahe hätte ich eben die Rinne vollgepinkelt, um Zeit zu gewinnen.«
Die Soldaten sahen ihn verständnislos an.
Nach einem Besuch des Aborts stiegen sie eine lange Wendeltreppe auf den Bergfried hinauf. Einhundertzweiundvierzig Stufen, die Wachmänner schnauften und fluchten abwechselnd, anstatt sich die Puste für die Treppe zu sparen. Dann stand Dott endlich auf dem höchsten Punkt Kandorias, wenn nicht sogar des ganzen Reiches und blickte durch ein Zinnenfenster nach Norden. Er lehnte sich vor und spuckte in einem hohen Bogen hinunter. Dann sammelte er noch einmal Speichel und wiederholte den Vorgang.
Das war für dich, Micha.
Jetzt erst genoss er die Aussicht. In diesem Moment lag ihm die Stadt sprichwörtlich zu Füßen, von hier oben sah alles sauber und farbenfroh aus. Die Häuser und Fuhrwerke erschienen wie Spielzeuge, die Wiesen, Wälder und Felder leuchteten im schönsten Grün und Braun, die Menschen wirkten friedlich. Wie gerne würde er Clarissa und Micha an diesem Anblick teilhaben lassen! Ein warmer Wind zupfte an Dotts Haaren, holte ihn wieder zurück in die Gegenwart. Er drehte eine halbe Runde auf dem Plateau, reckte dann seinen Kopf und sah über die Mauer nach Süden. Und riss die Augen auf.
Ziegenkacke!
Bis zum Fluss Goriam glich die Gegend der auf der anderen Seite, doch jenseits des Ufers sah die Welt aus wie eine abgebrannte Wiese. Trostlose Finsternis hatte die Landschaft verzehrt. Schwarze Schwaden schwelten am Ufer des Flusses wie ein feindliches Heer, warteten darauf, die letzte Bastion einnehmen zu können. Spätestens im Winter, wenn der Goriam gefror, würde der Schattenstaub über die Eisschicht kriechen und alles Leben verschlingen. All dies war nichts Neues für Dott, doch im Angesicht der Gefahr verschlug es ihm den Atem. Der Feind fraß jegliche Farben und Fröhlichkeit. Was konnten die Menschen dem entgegensetzen? Wäre er doch nicht nur ein einfacher Ziegenhirte! So wusste er viel zu wenig, um die Situation besser zu begreifen. Ob Belam mehr Informationen hatte?
Der Wachmann neben ihm starrte ebenfalls auf die zerstörte Landschaft. »Es ist eine Schande, dass es so weit gekommen ist«, stöhnte er.
»Ich wusste nicht, dass der Schattenstaub sich schon derart ausgebreitet hat«, entgegnete Dott. »So weit ich blicken kann, belagert er bereits das Südufer des Goriam.«
»Im letzten Jahr haben wir einen entscheidenden Fehler begangen«, flüsterte der Wachmann.
Stumm sah Dott ihn an und wartete.
Flüsternd fuhr die Wache fort: »Wir sind mit einer Armee gegen den Feind vorgerückt. Der Schattenstaub hat unsere Soldaten einfach erstickt und verschluckt, seitdem kriecht er noch schneller voran. Die Leiber und Seelen unserer Toten haben ihn gefüttert und stärker gemacht. Und nun lauert er am Ufer des Goriam.«  
Dott fehlten die Worte. Konsterniert wandte er sich ab und begab sich auf den Rückweg, einhundertzweiundvierzig Stufen hinunter. Die Wachmänner geleiteten Dott in sein Quartier. Dort blieb er für den Rest des Tages mit sich allein. Und mit den Eindrücken vom tiefsten Keller bis zum höchsten Turm.
Nach einer weiteren traumlosen Nacht standen am nächsten Morgen die drei Zauberer erneut auf der Schwelle seiner Kammer. Oder sollte er besser sagen, vor seiner Zelle?
»Macht Euch bereit für die dritte Prüfung «, wünschte ihm Meister Belam einen guten Morgen.
»Wie viele Probanden hat der Schattenstaub gestern vom Hocker gerissen?«, fragte Dott.
»Zeigt ein bisschen mehr Respekt«, zischte ihn Novicius Lantbert an. »Sonst bringe ich ihn Euch bei!«
»Lasst ihn gewähren«, entgegnete Belam lahm, doch in seinen Pupillen blitzte es hellwach. Dott hütete sich, den Meistermagier zu unterschätzen.
Diesmal führte ihn die Prozession nach oben ins zweite Stockwerk des Hauptgebäudes. Mit einem großen Schlüssel an seinem Gürtel schloss der alte Zauberer eine goldverzierte Tür auf. »Geht hinein, Dott!«
Der Ziegenhirte betrat einen prunkvoll eingerichteten Saal. Belam folgte ihm und schloss die Tür, die beiden Adjutanten und die Wachleute blieben draußen.
»Setzt Euch!« Der Meistermagier deutete auf einen Stuhl an einem kleinen Tisch.
Dott nahm Platz. Misstrauisch verfolgte er jede Bewegung des alten Mannes. Was führte der im Schilde?
Belam setzte sich Dott gegenüber und blickte ihn mit diesen unergründlichen dunklen Augen an. »Ihr wart auf dem Bergfried?«
»Ja«, antwortete Dott knapp.
»Wie eine Medaille hat auch die Aussicht von dort oben zwei Seiten.«
Dott nickte. Zum ersten Mal fühlte er ein gewisses Einvernehmen mit diesem vermaledeiten Magier. Auf seine rücksichtslose Weise tat Belam offenbar alles, um der Vernichtung des Reiches durch den Schattenstaub entgegenzuwirken. Dafür schien ihm jede Skrupellosigkeit rechtens. Und auch jedes Opfer, allen voran das eines unbedeutenden Ziegenhirten.
»Ich verstehe, was Ihr meint«, sagte Dott. »Doch Ihr habt mir meine Frage von eben noch nicht beantwortet.«
»Drei!«
»Dann sind es nur noch sieben«, rechnete Dott vor. Unwillkürlich dachte er an den alten Stinker und die einzige Frau. Ob die beiden es geschafft hatten?
Bevor er fragen konnte, sagte Meister Belam: »Schreiten wir zur dritten und letzten Prüfung
Mit Spannung beobachtete Dott jeden Wimpernschlag des Magiers. Offensichtlich sammelte sich der Mann auf der anderen Seite des Tisches und starrte vor sich hin, als überlegte er, warum er eigentlich hier saß.
Verstohlen sah sich Dott im Saal um. An der Fensterfront stand ein Schreibtisch so groß wie ein Burgtor. Darauf lagen kreuz und quer einige Folianten, Pergamente und Becher, aus denen Federkiele ragten. Durch die geöffnete Tür erspähte der Ziegenhirte im Nebenraum ein Himmelbett. Alles um ihn herum wirkte hell und freundlich, das genaue Gegenteil der finsteren Kälte in den Tiefen der Katakomben am gestrigen Tag. Meister Belam hatte ihn für den letzten Teil der Prüfung offenbar in seine Privatgemächer geführt.
Eine ungewohnte Unruhe erfasste Dott. Er saß hier untätig herum, während die Zeit dahinraste. Wie trockener Sand zwischen seinen Fingern zerrann das Schöne und Gute. Der Winter nahte in großen Schritten und allem Anschein nach war Kandoria dann verloren. Clarissa! Er musste unbedingt mit ihr fliehen, um nicht vom Schattenstaub verschlungen zu werden. Doch selbst wenn er sie vor der ersten Gefahr retten konnte, würde ebenso schnell der Frühling nahen und Clarissa zwangsläufig diesen adeligen Adeligen heiraten.
»Worauf warten wir?«, fauchte Dott barscher, als er wollte.
»Auf Euren Gegner«, entgegnete Belam tonlos.
Aha! Wieder so ein erbitterter Kampf auf Leben und Tod. Dott wackelte mit den Knien und rutschte auf seinem Hintern hin und her.
Der giftige Gedanke an Clarissa und diesen Grafen wollte nicht verschwinden. Das Bild seines geliebten Mädchens in den Armen eines anderen Mannes schmerzte Dott, als hätte ihm jemand beide Augen ausgestochen. Beinahe erhoffte er es, denn er sah es vor sich, wie Clarissa den Grafen Meinhardt umschlang und zärtlich küsste.
Dott biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte die Tränen, keineswegs wollte er sich vor Belam eine solche Schwäche leisten. Zudem musste er bereit sein für den Gegner, den es zu bekämpfen galt. Unbeteiligt saß der Magier da, wartete darauf, mit der Prüfung loszulegen.
»Ich liebe dich«, flüsterte Clarissa dem Grafen ins Ohr. »Du bist viel schlauer und reicher und erfahrener als …«, sie verzog das Gesicht, sodass eine Falte erschien, die Dott noch nie gesehen hatte, »… der einfältige Ziegendödel.«
Jedes Wort stach wie eine glühende Nadel mitten in Dotts Herz. Er schnappte nach Luft und spürte nun auch den Schmerz in den Lungen. Das durfte nicht sein. Es konnte nicht sein. Seine Finger ballten sich zu Fäusten, er trotzte der dunklen Traurigkeit und Mutlosigkeit, die ihn auffressen wollte wie der Schattenstaub.
»Nein!«, hörte Dott sich schluchzen.
Belam reagierte nicht. Dieser gefühlslose Magier saß nur dort und starrte vor sich hin. Nicht einmal einen einzigen Blick war Dott ihm wert. Das Herz des Ziegenhirten zerbrach, so als hätte er eine Porzellanvase vom Bergfried auf das Kopfsteinpflaster geworfen. Clarissa hatte ihn aufgegeben, ihn verraten, ihn weggeworfen. Dott kämpfte um den kümmerlichen Rest seiner Fassung. Knack! Sein Lebenswille brach. Sein einziger Wunsch bestand darin, schreiend durch den Palas zu laufen und seine Stirn gegen die Mauern zu schlagen, nur um diese Bilder aus seinem Kopf hinauszubekommen.
Die Burgglocke ertönte. Sieben Schläge. Sieben Uhr. Seine Glückszahl. Was tut ein Glückner? Kopf hoch, Augen auf und dem Glück entgegen.
Immerhin half ihm diese Überlegung, den Kopf ein wenig frei zu bekommen. Was ging hier vor? Dott schmeckte das Blut seiner Unterlippe. Zu fest hatte er darauf herumgekaut. Wie eine Schnecke kroch der Gedanke in sein Hirn. Oh nein, so unendlich langsam, auf einer schleimigen Spur, die ihn silbrig angrinste.
Du – Narr – bist – bereits – mitten – in – der – dritten – Prüfung. Und dein Gegner ist kein Hüne, kein Schattenstaub, sondern du selbst.
Er sammelte Kraft und Konzentration, um Belam ins Visier zu nehmen. Ganz langsam drehte der unheimliche Magier mit geschlossenen Augen den Kopf in seine Richtung, dann öffnete er die Lider, um ihm den Gnadenstoß zu geben. So zumindest empfand es Dott. Er musste schleunigst aus dem Sichtfeld des Zauberers heraus, bevor der sein Innerstes nach außen kehrte, er vermochte jedoch nicht, Arme oder Beine zu bewegen. Wie angeleimt saß er auf seinem Hocker und wurde Opfer übler Zauberkunst. Dott kippelte mit dem Stuhl und schaffte es so, das Gewicht zu verlagern. Die Lider des Magiers öffneten sich langsam. Just in diesem Augenblick ließ sich Dott mit dem Stuhl nach hinten umfallen – der Blickkontakt riss ab. Prompt öffnete sich sein Herz für neue Empfindungen. Wärme, Freude und Vertrauen hielten wieder Einzug. Vertrauen darauf, dass Clarissa nur ihn liebte. Inniglich und ewiglich.
Oh nein, der ungleiche Kampf war offenbar noch nicht zu Ende. Meister Belam erhob sich, kam näher und beugte sich über ihn. Er betrachtete Dott wie einen gefüllten Nachttopf. Der Ziegenhirte hatte die Macht dieses Mannes gerade am eigenen Leib erfahren. Allein mit einem Augenzwinkern oder einer Bewegung des kleinen Fingers konnte der Zauberer ihn vernichten.
Wenn du mich unbedingt töten willst, dann bring es zu Ende.
In Erwartung des Schlimmsten presste sich der Ziegenhirte auf den Boden.
Belam sagte tonlos: »Gratulation, Dott. Ihr habt soeben die dritte Prüfung bestanden.« Regungslos betrachtete der Zauberer den jungen Mann, der immer noch mit dem Stuhl zwischen den Beinen auf dem Boden lag. Keine der vielen Falten in seinem Gesicht bewegte sich. Doch in Belams Pupillen glomm etwas Neues. Wenn Dott es nicht besser gewusst hätte, würde er es Respekt nennen.