Asche und Staub
Hingabe, pah! Diese drei Lichtmagier hatten ja wohl nicht alle Kerzen im Leuchter! Die ganze Nacht hindurch wälzte Fehris sich auf ihrer Pritsche hin und her, fand aber keine Ruhe. Die erste Prüfung
hatte sie noch verstanden: zwei Krieger, klare Regeln, viel Blut, ein Überlebender – das vielleicht älteste Spiel der Menschheit. Doch anstatt weiterhin die offensichtlichen Fähigkeiten ihrer Probanden zu prüfen, drang diese spröde Novizin Helikon anschließend in ihre Träume ein, um in ihrer Vergangenheit herumzuschnüffeln und dumme Rätsel daraus zu basteln! Nun gut – ganz nebenbei hatte sie ihr auch geholfen, die Lösung dafür zu finden. Doch selbst dieser Gedanke tröstete Fehris’ aufgewühlte Seele nicht. Da war nur noch eine alte, aufgerissene Wunde, die sich einfach nicht mehr schließen wollte.
Mit müden Augen und schmerzenden Gliedern stand sie früh am Morgen auf und verbrachte den Tag damit, in ihrer Zelle auf und ab zu gehen wie ein gefangenes Tier.
Hätte ich mehr Hingabe, so wäre ich jetzt nicht hier!
, schoss ihr dabei ständig durch den Kopf, was ihre Wut auf die Magier nur noch mehr steigerte. Irgendwann am Nachmittag ließ sie sich versuchsweise auf ein Gedankenspiel ein: Was wäre gewesen, wenn sie damals Philipps Drängen nachgegeben hätte und bei ihm und seinen Nebelhain-Räubern geblieben wäre? Wenn sie diese angeblich so heilsame Hingabe
aufgebracht und sich einem Mann ausgeliefert hätte – ja, was dann? Fehris konnte diese Frage ganz klar für sich beantworten: Es hätte so geendet wie bei allen Frauen, die jenen unsäglichen Fehler begangen hatten. Erst hätte sie ein paar leidenschaftliche Monate an der Seite eines verliebten und zuvorkommenden Kerls verbracht, der sie auf Händen trug und im Zweifelsfall mit seinem Leben verteidigte. Dann hätte sie dabei zusehen dürfen, wie die Leidenschaft langsam verpuffte und der Met am Lagerfeuer oder das Gold in den Taschen der Reisenden wieder wichtiger wurde. Einige anstrengende Schwangerschaften, gestopfte Strümpfe und grinsende Nebenbuhlerinnen später hätte sie dann erkannt, dass ihr Leben nun ebenso erbärmlich geworden war, wie das all der anderen Weiber, die je den Fehler begangen hatten, ihr Herz zu verschenken. Was also brachte Hingabe einer Frau? Gefangenschaft, Missachtung und einen schlaffen Hintern. Bestenfalls, sich mit Blagen herumplagen. So viel zum Thema dann wärst du nicht hier
! Genau – dann wäre sie nämlich längst im Kindbett gestorben oder dem Wahnsinn verfallen.
In dieser Art tobten ihre Gedanken weiter, bis Curt Hänfling zum allerersten Mal an diesem Tag die Tür öffnete. Nicht einmal Essen hatte er ihr heute gebracht, sondern sich ihre dritte Galgenmahlzeit vermutlich selbst einverleibt. Fehris hatte auch nicht danach gefragt, denn wer einen solch gewaltigen Wutklumpen im Bauch hatte wie sie, der fühlte weder Hunger noch Durst. Was sie nun allerdings spürte, war eine neue Stufe des Zorns, denn schon wieder traten die verfluchten Magier über die Schwelle – Helikon milde lächelnd, Lantbert bösartig grinsend und Belam so fischblütig wie eh und je. Wie sie diese drei Nasen hasste!
»Macht Euch bereit für Eure dritte Prüfung
«, teilte der Meister ihr mit.
»Nein, ich denke, heute verzichte ich großzügig zugunsten einer anderen Auserwählten«, entgegnete Fehris, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Ihr haltet Euch wohl für sehr lustig, lüsternes Weib!«, fuhr Novicius Lantbert sie an, ohne sein schräges Wortspiel zu bemerken. »Glücklicherweise sind wir nach dem heutigen Tag von Eurer Lasterhaftigkeit befreit.«
»Ich freue mich darauf«, sagte sie patzig, obgleich ihre Gefühle schon wieder Karussell fuhren, denn in all ihrer Wut hatte sie ganz vergessen, darüber nachzudenken, was geschehen würde, falls sie heute nicht den Tod fand, sondern auch die letzte Prüfung
bestand. Mittlerweile glaubte sie nicht mehr daran, in diesem Fall einen Beutel mit fünfzig Goldstücken ausgehändigt zu bekommen und die Lichtbogenfeste unter Jubelrufen und Fanfarenstößen aufrecht gehend zu verlassen. Da lag der Gedanke schon näher, dass man sich vielleicht lieber dem Gegner der letzten Prüfung
ergab, als abzuwarten, was die drei Lichtschleudern mit dem Gewinner vorhatten.
Diesmal führte ihr Weg zumindest nicht hinunter in schattenstaubige Kellergewölbe, sondern hinauf in das wesentlich freundlichere zweite Stockwerk des Palas. Fehris fühlte sich schon beinahe wohl hier, als eine mit Blattgold verzierte Tür aufgestoßen wurde und der gebeugte Rücken eines lindgrünen Soldaten im Rahmen erschien. Er trug die Beine eines Mannes, während ein zweiter den massiven Oberkörper zu schleppen hatte. Erst als beide Wachen mit ihrer Last in den Gang getreten waren, erkannte Fehris, um wen es sich bei dem reglosen Opfer handelte: Es war der stämmige Proband mit der Klingenpeitsche, der bei seinem Kampf am ersten Tag seinem Gegner den Kopf von den Schultern gerissen hatte. Auf ähnlich grausam-skurrile Weise schien er nun selbst zu Tode gekommen zu sein, denn in seinem linken Augapfel steckte bis zum Anschlag ein verschnörkelter Brieföffner.
»Warum ist das immer noch nicht erledigt? Die nächste Prüfung
beginnt gleich!«, fuhr Belam die Soldaten an.
»Verzeiht uns, Meister!«, stammelte der vordere der beiden und schaffte es tatsächlich, seinen Rücken noch weiter zu krümmen. »Ein Auftrag des Truchsesses kam uns dazwischen. Wir hatten versucht, rechtzeitig hier zu sein, doch zu unserer Schande wir haben wir leider versagt.«
Was für ein Speichellecker! Offensichtlich hatte er gewaltige Angst vor dem Obermagier. Sein Kumpan brachte kein Wort hervor, sondern zitterte nur stumm vor sich hin. In seinem Gürtel steckte ein blutgetränkter Lappen, der mit rhythmischem Tropfen den Boden rot färbte.
Belam vollführte eine Handbewegung, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen. »Hinfort mit euch!«
»Danke Herr, danke!«, stammelten die Soldaten unisono und schoben sich mitsamt dem verblichenen Klingenpeitscher an Fehris vorbei. Befremdet starrte die Söldnerin auf die seltsame Wunde, durch die der Proband gestorben war. Welcher Feind tötete seine Opfer mit einem Brieföffner?
Sie kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn Belam ging nun durch die Tür und bat sie herein wie ein harmloser Page. Misstrauisch betrat Fehris den lichtdurchfluteten Raum, der auf den ersten Blick so gar nichts mit den ersten beiden Prüfungsstätten gemein hatte. Hier gab es weder einen Haufen blutbesudelter Waffen noch verhängnisvolle Ritzen in den Wänden. Selbst die heutige Sitzgelegenheit erwies sich als ziemlich bequem.
Der Magier zeigte auf einen von zwei gepolsterten Stühlen, die gegenüber voneinander an einem Tisch in der Mitte des Raumes standen. Die Holzplatte war nur grob gewischt worden, weshalb noch Reste von Blutschlieren zu erkennen waren. »Setzt Euch!« Noch während er sprach, schloss er die Tür hinter sich und sperrte sowohl seine Novizen als auch die Wachen aus.
Möglichst gelangweilt ließ Fehris sich auf den Stuhl plumpsen und inspizierte ihre Fingernägel. »Glaubt nicht, Ihr könntet mich damit beeindrucken.«
»Womit?«, hakte der Magier nach, während er sich hoheitsvoll ihr gegenübersetzte.
»Mit diesem Schauspiel hier.« Sie vollführte eine ausladende Geste durch den Saal, die alle goldenen Lüster, gedrechselten Schreibtischbeine und klobigen Bücherberge einschloss, aber auch das Blut auf dem Tisch. »Ich hatte in meinem Leben genug Feinde. Die Erbarmungslosesten spielten nie mit offenen Karten, sondern ergötzten sich daran, ihre Opfer in Sicherheit zu wiegen, ehe sie lautlos von hinten zuschlugen. Mit Eurer Masche könnt Ihr vielleicht einen dusseligen Ziegenhirten oder abgestumpften Söldner täuschen, aber mich nicht. Ich durchschaue Euch. Ich denke, Ihr habt Euch die größte Grausamkeit für die dritte Prüfung
aufgehoben. Das Mieseste zum Schluss.«
Nicht die kleinste Regung erschien in Belams Gesicht, doch dafür hob er die Hände und klatschte leise. »Anfangs hielt ich Euch für einfältig, Fehris. Doch immer dann, wenn Euer Kopf schon fast in einer Schlinge steckt, vollbringt er ungeahnte Leistungen. Die Göttin hat Euch mit den richtigen Gaben ausgestattet, um in dieser Welt zu überleben. Ein Überlebensweib – das seid Ihr.«
Das würde sie nicht vor dem Tod schützen, doch wenn es schon sein musste, starb sie lieber unter seinem Blick, als unter dem der geifernden Zuschauer vor einem Schweinepferch. Sie ahnte bereits, auf welche Weise man in dieser Prüfung
sein Leben verlor. Helikons Übergriff auf ihre Träume war nur der Anfang gewesen. Belam war tausendfach schlimmer – wie eine Made, die sich in ihren Kopf gebohrt hatte und sich nun in weitere Tiefen vorfressen würde.
»Fangt an!«
Er antwortete nichts darauf, sondern stieß sein flammendes Zauberschwert mitten in ihr Herz.
Sie sah ihre Eltern. Graue Gesichter, aus denen vor langer Zeit das Lachen gerissen worden war. Ohne sie noch einmal anzusehen, übergaben sie ihre Tochter für einen Gegenwert von dreißig Silberlingen an den Grafen. »Lasst mich nicht allein!«, schrie Fehris ihnen hinterher, doch sie gingen einfach nach Hause und drehten sich nicht mehr um.
»Allein?«, höhnte der schmerbäuchige Verwalter des Grafen. »Hier sind jede Menge Kochtöpfe, Wäscheberge und Schweine, mit denen du dich beschäftigen kannst.«
Fehris hatte von Einsiedlern gehört, die ihr Leben fernab vom Getöse der Menschen verbrachten, doch es war ein Unterschied, ob man die Einsamkeit suchte oder allein gelassen wurde. Auf einmal war niemand mehr da. Kein rettendes Boot, auf das man klettern konnte, sondern nur noch ein endloser Ozean aus kindlicher Verzweiflung, der ihre Seele überschwemmte und alles mit sich riss, was rein und unschuldig war.
Diese erste Szene war nur der Anfang. Belam schien unbeteiligt an ihr vorbeizusehen, dennoch sog er sie mitten hinein in seine starren Augen, eisgrau wie der Spiegel ihrer Vergangenheit. Sie fand jeden nur erdenklichen Moment ihrer Urangst darin. Diethards kleine Grausamkeiten, die Gefühlskälte des Grafen, selbst jene Stunde der tiefsten Verlassenheit, als sie sich, angekettet im Pferch, an ein Mutterschwein geschmiegt hatte, um in dieser kalten Nacht nicht vollends dem Wahnsinn zu verfallen.
»Einsamkeit ist besser als die Gesellschaft schlechter Menschen«, hatte Philipp einige Jahre später zu ihr gesagt, doch er hatte nicht gewusst, wovon er sprach, denn es gab keine einsamen Räuber. Immerzu saßen sie zusammen am Feuer, heckten gemeinsam Pläne aus und teilten sich die Beute. Bis zu dem Tag als Philipp selbst vom Räuber zum Seelenfänger wurde. Für ihn waren es Worte der Zuneigung, für Fehris ein verachtenswerter Handel: »Schenk mir deine Liebe, dann schenke ich dir eine Familie.«
Da hatte sie ihn verlassen. Mit Wut und Angst in ihrem Herzen rannte sie durch den Nebelhain, immer geradeaus, nur weg von diesem Mann, der sie in trügerischer Sicherheit wiegte, um sie später im entscheidenden Moment für eine Handvoll Silber – oder wofür auch immer – zu verkaufen.
Sie wollte keine Familie, keinen Liebsten, keine Kinder, keine Menschen, die ihr etwas bedeuteten. Niemanden, dessen Schwert ihre innere Rüstung durchdringen konnte. Und nun riss Belam diesen Panzer entzwei. Wie in einem Traum bekam Fehris mit, dass er sich von seinem Stuhl erhob und auf sie herabblickte. Ihre wahre Realität war nun eine andere, denn sie sah ihre Zukunft hinter den tödlichen Iriden des Magiers.
Ein altes Weib, in Säcke gekleidet, ausgezehrt von Hunger und Gram. Einsam lag es in einer dunklen Gasse hinter einer Taverne, wo nur die Ratten auf den Müllhaufen in ihre Richtung schnupperten und auf ihr Festmahl warteten. Sie hörte das Grölen und Feiern der Betrunkenen nebenan und wusste, dass ihre letzte Stunde geschlagen hatte. Niemand würde ihre Hand halten, wenn sie ging. Niemand würde um sie weinen. Und morgen, wenn der Stadtbüttel ihren kalten Körper in einem Massengrab verscharrt hatte, war endgültig klar, dass das Leben von Fehris Büdner keinerlei Sinn ergeben hatte, kein Vermächtnis, welches sie auf dieser Welt hinterließ. Sie war nichts als Asche und Staub. Zeit ihres Lebens eine verfehlte Existenz.
Tränen traten in ihre Augen. Warum sich noch vierzig oder fünfzig weitere Jahre quälen? Jeder neue Tag war nur ein Schritt mehr durch den ewig hungrigen Sumpf.
Der Brieföffner. Klingenpeitsche hatte ihn im Auge behalten! Aber hinter Belams Rücken funkelte ein prunkvoll besetzter Dolch tröstend in einer Halterung an der Wand. Sein Griff wollte in ihre Hand, seine Spitze in ihr Herz.
Asche und Staub
.
Mach ein Ende. Hol dir den Dolch! Befreie dich von dem Leiden.
Wollte sie das wirklich? War ihr Leben tatsächlich bedeutungslos?
Ja
, wisperte eine ihr unbekannte Stimme in ihrem Kopf.
Verdammt! Sie musste den Blick des Magiers loswerden! Er fraß sich durch ihre Brust wie glühender Stahl.
Ihre Brust?
Belam war ein Meister der Selbstbeherrschung. Niemals hatte er woanders hingesehen als in ihre Augen. Aber noch hatte sie ihm mehr entgegenzusetzen als dieses ausgemergelte Weib hinter der Taverne. Schwankend hievte sie sich hoch und stützte beide Hände auf die Tischplatte. Dabei quetschte sie ihre beiden wichtigsten Waffen so eng zusammen, dass sie wie spitze Pfeile durch ihre Tunika drangen. Ganz von selbst ging ihr Atem schneller. Eine Schweißperle rann über ihr Schlüsselbein.
Komm schon! Hat dir die Magie das Mannsein geraubt?
Offenbar nicht – er merkte es. Spürte, dass sie nicht mehr an den Dolch gelangen wollte, denn so feige war sie nicht! Belam blinzelte. Fehris japste nach Luft. Ihre Waffen blähten sich zum Todesstoß.
Da huschte sein Blick nach unten und nahm all ihre Verzweiflung mit. Innerhalb dieses einen Wimpernschlags, den er sie aus den Augen ließ, kehrte die altbekannte Härte der Söldnerin zurück. Wohlig schloss sich der Riss, den Belam in ihre Rüstung geschlagen hatte.
Fehris lächelte. Sie zog den Ausschnitt ihrer Tunika wieder nach oben und machte einen Schritt zurück. »Unterschätzt nie die Kraft einer Seele, die aus Einsamkeit geboren wurde«, sagte sie zu dem Magier.
»Gratulation, Fehris«, antwortete Belam, auf dessen Lippen zum allerersten Mal ein feuchter Glanz schimmerte. »Ihr habt auch die dritte Prüfung
bestanden.«