Flammen der Erinnerung
»Aufstehen, Stinker!« Eine barsch-unfreundliche Stimme riss Marl aus dem Schlaf. Dazu rüttelte jemand heftig an seiner Schulter. Marl versuchte der Aufforderung nachzukommen, er fühlte sich wie ein Ertrinkender, der die Wasseroberfläche durchstoßen wollte, aber immer kurz vor dem Ziel wieder nach unten sank. Der Schlaf wollte ihn noch nicht aus seinen Klauen entlassen.
»Was sollen wir tun, Meister?«, fragte die Stimme.
Etwas, das er nicht verstand, wurde gemurmelt.
»Nein!«, entgegnete daraufhin jemand, »wir werden ihn nicht mit Exkrementen übergießen, um ihn zu wecken, Lantbert. Geht mir aus den Augen! Ich kann bei der Prüfung niemanden gebrauchen, der nicht von der Größe und Wichtigkeit unserer Aufgabe beseelt ist, sondern einen lächerlichen Kleinkrieg mit denjenigen führt, die ihr Leben für unsere Sache opfern.«
Die Erwiderung verstand Marl nicht. Er war wieder in einen Zustand des Dösens abgeglitten.
»Ich wünschte wirklich, Lantbert hätte ein bisschen mehr von Helikon«, murmelte derjenige einen Moment später.
Marls schlaftrunkenes Gehirn ordnete der Stimme endlich ein Gesicht zu: Belam. Der tückische Spitzbart von einem Zauberer war bei ihm. Diese Erkenntnis wirkte auf Marl wie ein Eimer Eiswasser. Die Müdigkeit verflog, er riss die Augen auf. Trotzdem musste er mehrmals blinzeln, bis er das emotionslose Antlitz des Magiers klar erkennen konnte.
»Wie geht es Euch?«, fragte der zu Marls Verblüffung.
Marl fühlte sich, als hätte er die ganze Nacht durchgezecht. Der Begriff Kater beschrieb seinen Zustand aber nur unzureichend: Jeder Knochen in seinem Körper brannte, so wie er es nur bei Fieber kannte. Dazu kam ein Pochen im Schädel, das ihm Tränen in die Augen trieb. Stöhnend setzte er sich auf und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Seine Bartstoppeln erzeugten dabei ein schabendes Geräusch. Wie so oft in letzter Zeit, erschrak er über die vielen tiefen Falten, die er dabei spürte. Der Alte ist sicher nicht hergekommen, um mich nach meiner Verfassung zu fragen, sondern heckt bestimmt schon die nächste Bosheit aus.
Daher beschränkte Marl seine Antwort auf ein undefinierbares Grunzen.
Überraschenderweise gab sich Belam mit Marls Nicht-Antwort zufrieden. »Das heißt wohl nicht so gut, was?«, sagte er. »Der Schattenstaub hat eine erstaunliche Wirkung auf Euch. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit, uns damit zu beschäftigen, aber leider fehlt uns gerade die im Moment.«
Unwillkürlich bewegte Marl die Zehen an seinem linken Fuß. Er spürte sie noch. Die nebeligen Finger des grauen Todes hatten ihn erneut verfehlt. Diesmal war es verdammt knapp gewesen. »Was meint ihr damit?«  
Belam ignorierte die Frage: »Es wird Zeit, Marl. Die dritte Prüfung wartet auf Euch.«
Schlimmer als der Schattenstaub kann es auf gar keinen Fall werden. Mit diesem ungemein tröstlichen Gedanken ergab sich Marl in sein Schicksal.
»Sind das etwa Eure Privatgemächer?«, fragte er positiv überrascht, als Belam ihn in einen edel eingerichteten Raum führte, der gleichermaßen nach Wohlstand und Gelehrigkeit stank.
»Setzt Euch! Um mich geht es jetzt nicht.«
Marl betrachtete einen kurzen Moment den gemütlich gepolsterten Lehnstuhl und entschied sich dann, der Aufforderung ohne Widerstand nachzukommen. Vielleicht musste man bei der dritten Prüfung die Qualität von Sitzgelegenheiten überprüfen oder einfach nur das Geschwafel des Alten eine Weile ertragen? Kurz streifte sein Blick das offene, spitz zulaufende Fenster. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, hatte er fast einen ganzen Tag geschlafen. Es musste schon später Nachmittag sein. Eine kühle Brise wehte herein. Marl rief sich in Erinnerung, dass der heute so zugänglich wirkende Belam ihn während der letzten beiden Tage zweimal fast dem Tod überantwortet hatte. Er schaute dem Mann grimmig in die Augen.
Der ihm gegenübersitzende Zauberer erwiderte den Blick gleichgültig.
Marl war fast belustigt, dass eine so kultivierte Person sich auf derartige Spielchen einließ. Wie er wollte. Marl hatte bereits mehr als einen Mann niedergestarrt.
Der Schwarze Marl, meinst du wohl.
Lass mich in Ruhe , ranzte er die Stimme in seinem Kopf an, die sich offenbar vorgenommen hatte, immer zu den unpassendsten Situationen zu erklingen.
Der Mann, der dem jungen Seleron das linke Auge ausgestochen hat, weil der den Kopf nicht senken wollte.
Ich habe gesagt, dass du mich in Frieden lassen sollst. Deine elenden Vorwürfe, kann ich jetzt nicht gebrauchen.
Wie du meinst, Schwarzer Marl.
Zufrieden mit diesem Erfolg über seinen eigenen Geist, konzentrierte Marl sich wieder auf Belam. Vielleicht konnte er dem auch ein Auge ausstechen. Leider hatte der keine brauchbaren Waffen auf seinem Tisch – Brieföffner oder ähnliches. Schade! Der Alte erwies sich als unheimlich zäh. Es schien, als müsste er niemals blinzeln.
Marl kroch eine Witterung in die Nase. Ein Duft, der ihm Gänsehaut bereitete. Irgendwo in der Burg musste es brennen. Ziemlich stark sogar. Einen derartigen Wohlgeruch verbreitete nur ein großes Feuer. Das wusste Marl ganz genau. Ja, er kannte sich aus mit Feuer in all seinen Formen. Sein ganzes Leben begleitete es ihn nun schon wie ein großer, starker Bruder.
Marl dachte an seine ersten Begegnungen mit dem Feuer. Zu Beginn waren es aufregende, heimliche Treffen hinter dem Haus seiner Eltern gewesen. Trotz der Verbote seines Vaters und der Bitten seiner Mutter hatte er dort immer wieder gebannt dem Flug der Funken zugesehen, wenn er eine Eisenstange gegen den Pyrit geschlagen hatte. Bald schon reichte ihm das aber nicht mehr und er ließ die Funken in trockenes Reisig fliegen, das er von der Anrichte über dem Ofen gestohlen hatte. Bei jener Prozedur konnte er den Geruch des Feuers intensiv studieren: sanft, wenn es gerade begann, über das trockene Anzündholz zu lecken. Herber, wenn man dickere Äste hinzugab. Stechend, wenn diese noch grün waren.
Bitter und süßlich, wenn es außer Kontrolle geriet.
Marl musste schwer schlucken. Er fühlte, wie sein Kehlkopf dabei auf und ab hüpfte. Diesmal konnte er der Stimme nicht widersprechen. Er dachte wieder an die aufregenden Experimente im Hinterhof seines Elternhauses. Irgendwann hatte er sich darauf verlegt, sie nur noch nach Einbruch der Dunkelheit durchzuführen, um der elterlichen Aufsicht zu entkommen. Monatelang hatte er sich Nacht für Nacht nach draußen geschlichen und verborgen hinter einigen hohen Strohballen seiner neuen Leidenschaft gefrönt.
Jedes Mal waren die Funken willfährig aufgetaucht, wenn er sie gerufen hatte, immer weiter wuchs das Feuer, je mehr er es fütterte. Doch in jener verhängnisvollen Nacht war es zu gierig. Entglitt Marls Kontrolle. Es waren nur einige glimmende Reisigzweige gewesen, die auf das Stroh fielen.
Marls Atem beschleunigte sich, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte.
Er hatte noch versucht, die faszinierende gelbe Bestie zu bändigen, aber das Raubtier hatte Blut geleckt. Wild und unkontrolliert schlug es zu. Marl hatte nicht den Hauch einer Chance gehabt. Schnell stand der kleine Unterstand in Flammen, in dem sie das Stroh für die Pferde lagerten. Doch der Hunger des Ungeheuers war immer noch nicht gestillt. Es griff mit seinen rotgelben Klauen nach dem Haus, in dem seine Eltern und Geschwister schliefen. Marl hatte es mit einer Mischung aus Erregung und Angst betrachtet.
Du hast sie sterben lassen. Deine gesamte Familie.
Sie haben mich doch sowieso nie geliebt. Marls ältere Brüder hatten ihn ständig nur geärgert und seine Eltern ihn den ganzen Tag mit Arbeitsaufträgen überhäuft. Marl hatte sich immer gefühlt, als wäre er ein geduldetes Anhängsel, auf das aber niemand besonderen Wert legte.
Deine Mutter hat dich geliebt, das weißt du!
Marl verdrängte diesen Aufschrei seines Gewissens. Er sah jetzt sein brennendes Elternhaus so plastisch vor sich, als wäre er wieder acht Jahre alt. Spürte den heißen Atem der Flammen und roch den beißenden Duft, den die Bestie beim Fressen absonderte. Er hatte damals lange gebraucht, um sich aus seiner Starre ob der Faszination für das Feuer zu befreien. Zu lange! Als er endlich daraus erwacht und um das Haus herumgelaufen war, stand bereits die Eingangstür in Flammen. Dennoch hatte er sich mit der Schulter dagegen geworfen. Als sie nachgab, brüllte ihn das Feuer an und versengte ihm Wimpern und Augenbrauen. Trotzdem war Marl bereit, sich in den Schlund des rotgelben Raubtiers zu stürzen. Auch für den Preis, gemeinsam mit seiner Familie von ihm verschlungen zu werden.
Doch es kam anders. Eine Hand legte sich auf seine Schulter und zog ihn zurück. Marl hätte schwören können, dass die Flammen in jenem Moment ein grinsendes Gesicht gebildet hatten, das dem seinen glich wie ein Spiegelbild.
Panische Rufe der Nachbarn drangen an sein Ohr.
»Es brennt.«
»Bei den van Tellenkamps.«
»Oh nein, sie sind alle noch im Haus.«
»Eine Tragödie.«
»Wasser, wir brauchen Wasser, damit die Flammen nicht das ganze Dorf verzehren.«
Und schließlich war die Stimme der freundlichen Marianne von nebenan erklungen, sie war die beste Freundin seiner Mutter gewesen. »Seht nur, Leute, es ist ein Wunder. Ich habe Marl gefunden. Wenigstens er hat es aus dem Haus geschafft.«
Ihre heißen, tränenfeuchten Küsse spürte er noch heute auf seinen Wangen.
»Sieh nicht hin, Marl. Sie sind jetzt an einem besseren Ort, aber dich hat die Lichtgöttin gerettet, weil du so eine gute Seele bist.«
Im selben Moment war das Haus zusammengebrochen und Myriaden von Funken hatten sich in den Nachthimmel erhoben. Es war das Grausamste und gleichzeitig Schönste gewesen, was Marl jemals gesehen hatte.
Du hast deine eigene Familie getötet. An jenem Tag ist der Schwarze Marl geboren und er hat bis heute nichts als Leid über diese Welt gebracht.
Marl konnte der Stimme nicht mehr widersprechen. Sie hatte recht. Er zog Zeit seines Lebens eine Spur aus Verderben hinter sich her.
Es wäre für alle besser, wenn dieses Leben endlich enden würde. Du tust Meribor damit einen Gefallen und rettest etliche Seelen, die dem Schwarzen Marl sonst noch zum Opfer fallen würden.
Er fragte sich, warum ihm diese Erkenntnis nicht schon früher gekommen war.
Belam sah ihn an und nickte zustimmend.
Marl schämte sich: Selbst der mächtige Zauberer, der sie alle vor dem Schattenstaub beschützte, wusste von seinen Schandtaten und wünschte sich ebenfalls, dass es damit endlich ein Ende hatte.
Belam erhob sich und ging zum Fenster, ohne Marl aus den Augen zu lassen.
Wackelig stand auch Marl auf. Der Blick des Zauberers lastete schwer auf ihm. Langsam ging er auf das große Fenster zu. Der Himmel dahinter verdunkelte sich gemächlich. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Marl blieb davor stehen. Irgendwo über ihm krächzte eine Krähe.
Bring es zu Ende! Tu der Menschheit diesen einen Gefallen. Sei gütig. Einmal in deinem Leben.
Marl hob ein Bein und zog sich mit Schwung auf die Fensterbrüstung hinauf. Ein kühler Wind empfing ihn und zerrte an seiner Kleidung. Die Höhe nahm er gar nicht wahr, weil sein Blick immer noch von Belam gefangen war.
Es geht ganz schnell. Dir wird eine Gnade zuteil, die der Schwarze Marl den meisten seiner Opfer nicht gewährt hat.
Die brennenden Gesichter seiner Familie erschienen vor seinem inneren Auge. Aufplatzendes, schwarzes Fleisch, das unter panischem Geschrei schmolz, als wäre es Kerzenwachs.
Marl beugte sich leicht vor. Ein kurzer Schritt und all die Qualen seiner Vergangenheit würden für immer enden. Ein aufglimmendes Feuer auf dem gegenüberliegenden Wehrgang fing seine Aufmerksamkeit ein und er löste seinen Blick von Belam. Ein Feuer? Es ist noch nicht mal richtig dunkel.
Er starrte in die Flammen, versank im flackernden Antlitz seiner Göttin, seiner Leidenschaft, seines Verderbens. Der Lebenswille loderte wieder auf, verbrannte im Angesicht des Feuers jegliche Selbstzweifel. Schlagartig wurde Marls Kopf wieder klar. Panisch krallte er sich in dem steinernen Rahmen des Fensters fest. »Was mache ich hier?«, fragte er laut und seine Stimme zu hören, brachte ihn endgültig in die Wirklichkeit zurück. Trotzdem wäre er fast gefallen, wenn Belam ihn nicht sanft an seiner Kutte nach hinten gezogen hätte.
Gütig lächelte der Magier ihn an. »Herzlichen Glückwunsch, Marl. Ihr habt soeben die dritte Prüfung bestanden.«
Das Feuer hat dich gerettet. Erneut. Willkommen zurück, Schwarzer Marl.
Marl erwachte am nächsten Morgen erstaunlich ausgeruht. Zu seiner eigenen Freude hatte er sogar eine leidliche Erektion – etwas, das ihm in den letzten Jahren nicht mehr so häufig nach dem Aufwachen passierte. Zufrieden setzte er sich auf und blickte sich um. Seine Zelle sah aus wie immer. Nein, einen Unterschied gab es: Während er geschlafen hatte, musste ein dienstbarer Geist sauber gemacht haben. Sein Eimer funkelte fast. »Fehlen nur noch Blumen auf dem Tisch«, murmelte Marl, erhob sich und setzte sich mal wieder mit dem Eimer auseinander.
Als das erledigt war, streckte er sich, kratzte sich ausgiebig am Hintern und war zu seiner eigenen Überraschung ratlos. Warum war er immer noch hier? Die Zauberer hatten doch etwas von drei Prüfungen gefaselt, und wenn er auch kein großer Rechenkünstler war, so hatte er nach seinem Verständnis drei verdammte Aufgaben bewältigt.
»Ich habe jemanden für euch totgeschlagen.« Marl hob seinen rechten Daumen. »Mich dem verfluchten Schattenstaub und dem dämlichen Rätsel gestellt.« Sein Zeigefinger gesellte sich dazu. »Und bin gestern fast aus dem Fenster gesprungen, weil der blasierte Spitzbart mir das eingeflüstert hat.« Marls Mittelfinger komplettierte das Dreiergespann seiner Hand. »Jetzt hätte ich gern meine Belohnung oder will wenigstens aus dieser verfluchten Burg heraus.«
Er ging auf die Tür zu, um wütend dagegen zu hämmern. Beim ersten Schlag schwang sie überraschenderweise geräuschlos auf. Marls Herz begann zu klopfen. Was hatte das nun schon wieder zu bedeuten? Wie versuchte das Zaubererpack ihn heute reinzulegen und zu quälen?
Vorsichtig spähte er in den dunklen Flur. Gerade als er einen Fußbreit aus seiner Zelle hinaustreten wollte, ließ ihn der hallende Klang hastiger Stiefelschritte innehalten.
Die Stiefel gehörten einer jungen Wache, die hektisch und dennoch um Würde bemüht, auf ihn zu rannte. »Werter Herr van Tellenkamp«, rief der Mann von Weitem. Die Stimme war vor Aufregung etwas zu hoch. »Ihr seid ja schon wach? Entschuldigt, dass ich Euch nicht in Empfang nehmen konnte.«
Marl legte seine Stirn in Falten. Werter Herr van Tellenkamp? Entschuldigung? Wurde sein Geist etwa immer noch von dem alten Zauberer manipuliert?
»Ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr niemandem sagen würdet, dass ich nicht auf dem Posten war.« Der Jungspund lächelte ihn gewinnend an.
Marl überlegte, ob er ihm eine verpassen oder einfach wieder zurück in seine Zelle gehen sollte, bis jemand zu ihm geschickt wurde, dessen Hirn nicht vollkommen zerrüttet war.
Der Wächter deutete seine Nichtreaktion falsch. »Ich bitte Euch …«, stammelte er. »Meldet mich nicht! Ich würde dann vermutlich meine Anstellung verlieren. Ich habe drei Kinder. Ja … mhh … natürlich ist das nicht Euer Problem, aber …«
»Wie geht es jetzt weiter, Bursche?«, unterbrach Marl das unwürdige Schauspiel barsch.
Der lindgrün Gekleidete schluckte schwer. Das betonte die vergessenen Bartstoppeln auf seinem Hals. Er musste sich heute Morgen in großer Hast rasiert haben. »Nun, ich bringe Euch zur Schatzkammer.« Er zuckte mit den Schultern, als wäre das das Normalste der Welt.
Glücklicherweise schaffte es Marl, das hysterische Lachen zu unterdrücken, das in ihm aufstieg – und auch den Impuls, jetzt endlich zuzuschlagen.
Sie liefen zum Bergfried, stiegen einige Stufen hinunter in dessen Kellergewölbe und steuerten auf eine edle, golden funkelnde Tür zu, vor der neben zwei schwerbewaffneten Wächtern bereits jemand wartete, der Marl nur allzu bekannt war. Er konnte ein gereiztes Stöhnen nicht unterdrücken.
»Ach, schau an. Die Zauberer haben offensichtlich ein Herz für alte Männer«, begrüßte ihn Sigismund mit einem falschen Grinsen. »Ich habe immer an dich geglaubt, mein Lieber. Mit uns Männern ist es wohl wie mit gutem Wein – je älter, desto besser.« Er zwinkerte übertrieben. »Überlege nur, wie gut ich erst in deinem Alter sein werde.« Dem Adeligen entwich ein gackerndes Lachen über seinen eigenen dämlichen Scherz.
»Ich kann mich nur erinnern, dass du mich als einen Sterbenden bezeichnet hast.«
Sigismunds aufgesetzte Höflichkeit verschwand augenblicklich, nachdem Marl es gewagt hatte, ihm zu widersprechen und ihn zu duzen.
»Und was du mit dem armen Schuhmacher gemacht hast, das habe ich ebenfalls nicht vergessen.« Marl spuckte ihm vor die Füße.
»Was erlaubst du dir?«, fuhr ihn Sigismund an und begann sich vor ihm aufzubauen.
Er war einen Kopf größer und nur halb so alt, aber Marl würde sich von diesem aufgeblasenen Pfau nicht einschüchtern lassen. Zumal die vielen Wachen sicher verhindern würden, dass Sigismund ihm ernsthaft gefährlich werden konnte.
»Was ich mir erlaube?« Marl lachte freudlos auf. »Ich erlaube mir, dir zu sagen, dass du ein riesiges Arschloch bist, egal ob adelig oder nicht …« Er nahm sich einen Moment, seine Worte wirken zu lassen, und schob dann hinterher: »… allerdings eines mit schönen blonden Haaren. Das blonde Arschloch , wäre doch ein passender Kampfname. Würde dir auf jeden Fall gerecht werden. Ich sehe schon direkt das Wappen vor mir.« Er zeichnete mit dem Finger einen Kreis in die Luft.
Sigismund wurde rot vor Zorn. Er ballte die Fäuste.
Marl nickte zufrieden ob dieser Reaktion.
»Meine Herren, ich muss doch sehr bitten«, insistierte der junge Wächter, der Marl hergebracht hatte, und legte warnend die Hand auf sein Schwert.
Von einem der beiden Kerle, die die opulente Tür der Schatzkammer bewachten, kam im selben Moment ein genervtes Räuspern. Vermutlich hatte man sie dazu verdonnert, nicht zu sprechen oder nur zu reagieren, wenn jemand sich an der Tür zu schaffen machte.
Der kleine Wink brachte die merkwürdig heterogene Dreiergruppe dazu, zur Treppe zu blicken, auf der gerade ein weiterer Grünling erschien, der ebenfalls einen Probanden im Schlepptau hatte. Besser gesagt: eine Probandin.
Marl staunte nicht schlecht, dass es die einzige Frau geschafft hatte, alle Prüfungen zu überleben. An ihren Namen erinnerte er sich, wie vermutlich die meisten Männer, die ihr begegneten: Fehris. Auch wenn sie heute nicht ihren aufreizenden Brustpanzer trug, konnte die einfache Tunika ihren sinnlichen Körper nicht verbergen.
Dies war offensichtlich Sigismund auch aufgefallen. Der Adelige hatte bei diesem Anblick wohl beschlossen, Marls Beleidigung auf sich beruhen zu lassen. Er schob sich unsanft an ihm vorbei und ging auf Fehris zu. »Edles Fräulein, es ist mir eine Ehre, eine derartige Augenweide hier begrüßen zu dürfen.« Er deutete eine kleine Verbeugung an. »Es freut mich ungemein, dass auch Ihr so erfolgreich wart. Ich habe nie an Euch gezweifelt und erlaube mir daher die Dreistigkeit zu fragen, ob wir uns nach dem Besuch der Schatzkammer nicht ein wenig näher kennenlernen wollen. Mein Zimmer in der Burg ist nicht so schäbig wie Eures, das kann ich Euch versichern. Das Bett ist himmlisch weich und die Decken aus kerilanischer Seide.« Er versuchte ihre Hand zu nehmen, vermutlich, um einen Kuss darauf zu hauchen. Genaueres würde Marl wohl nie erfahren, denn Fehris schlug sie so heftig weg, dass sich rote Striemen darauf abzeichneten. »Hat diese Masche jemals bei einem weiblichen Wesen funktioniert, das keine Hure war?« Sie ließ Sigismund keine Zeit zu antworten. »Und wenn doch, dann hat die einfältige Kuh sicher nicht gesehen, wie du vorher einen wehrlosen alten Mann zerstückelt hast.«
Sigismunds aufgesetzte Miene entglitt ihm zum zweiten Mal an diesem Tag.
Marl lächelte erfreut darüber. Das war eine Frau ganz nach seinem Geschmack.
Er aber wohl nicht nach ihrem. »Du zahnlose Mumie musst gar nicht so blöd grinsen. Falls du es noch nicht gemerkt hast: Du brauchst dringend mal wieder ein Bad! Es ist eine Schande, dass ein starker, junger Mann durch deine Hand gefallen ist, obwohl deine Zeit eigentlich längst abgelaufen ist.«
Bevor Marl erwidern konnte, dass er fast noch alle Zähne hatte, unterbrach sie ein freundlich geträllertes »Guten Morgen«.