Tirnahels Scherben
»Warum?« Der Ziegenhirte zeigte auf die Sauerei.
Die ungläubige Frage Dotts interessierte Fehris ebenso brennend, also stakste sie wie ein Storch um den Matsch aus Blut, Gehirnmasse und Urin herum, um ja nicht zu verpassen, was der Obermagier darauf antwortete.
»Weil Ihr Nicht-Magier seid. Leute wie Ihr können nicht mehr als einen einzigen magischen Gegenstand besitzen. Eure Körper sind unfähig, eine solche Macht zu ertragen. Hütet Euch davor, die drei Artefakte aneinander zu legen.«
Präge dir das gut ein, Fehris Büdner! Niemals den Umhang vom Ziegenhirten klauen oder dem Alten seinen Stock wegnehmen!
Auf dem Weg vom Bergfried zu Belams Gemach ließ sie ihre Hand in ihrem Beutel stecken. Unsicher spielten ihre Finger an dem Artefakt herum, das sie sich in der Schatzkammer ausgesucht hatte, besser gesagt an den Artefakten, denn es waren drei, die gemeinsam in einem Kästchen gelegen hatten. Aber ganz offensichtlich stellten sie eine Einheit dar, denn anders als Sigismund – möge er im tiefsten Schlund der Unterwelt brennen – war sie nach dem Übertreten der Schwelle nicht zerquetscht worden. Die sechszackigen Sterne würden hervorragende Wurfgeschosse abgeben, obgleich sie nicht sicher war, zu welchem Zweck sie wirklich gedacht waren, denn die Klingen wiesen keine Schärfe auf. Falls es sich bei dem Artefakt stattdessen um Windspiele handelte, die zur Dekoration königlicher Fenster dienten, konnte man sie immer noch zweckentfremden, indem man sie jemandem in die Hand, ins Auge oder notfalls ins Gemächt rammte. Irgendeine Art von Waffe sollten sie definitiv darstellen, denn allein auf den Brustpanzer und das knappe Röckchen wollte sie sich da draußen auf ihrer Mission nicht verlassen. Man konnte nie wissen, was die nächsten Tage und Wochen bringen würden und wozu Belam sie in dieser Zeit zwang. Aber eigentlich hatte Fehris nur noch ein Ziel vor Augen: abhauen – so schnell wie möglich.
Von weiter hinten schloss Marl zu ihr auf, wie sie unverkennbar riechen konnte. Aufdringlich klopfte sein neuer Spazierstock den Rhythmus seiner Schritte mit. »Na komm schon, Mädchen, zeig her, was du mitgenommen hast!«, raunte er verschwörerisch.
»Das geht dich gar nichts an, du Mufflon.«
So leicht ließ der alte Knacker sich jedoch nicht abwimmeln. »Sieh mal, mein neuer bester Freund!« Er reckte ihr seinen knorrigen Stab entgegen. »Willst du wissen, was es damit auf sich hat?« Eine seiner struppigen Augenbrauen tanzte nach oben.
In der Tat hatte Fehris sich sehr über die Wahl ihrer beiden schrägen Prüfungsgefährten gewundert. Sigismund hatte wenigstens wie ein Krieger gedacht und sich gut gerüstet. Aber was wollte der Ziegendödel mit dem schäbigen Umhang und der alte Furzer mit einem Spazierstock?
»Na schön«, sagte sie betont lässig. »Du zuerst.«
Grinsend ließ Marl sein Artefakt ein paarmal von einer Hand in die andere wandern und hielt es ihr schließlich vors Gesicht. »Schnüffel mal!«
Es würde schwierig werden, irgendetwas anderes als seinen Gestank wahrzunehmen, doch aus reiner Neugier hielt Fehris ihr markantes Näschen an das Holz. Ein leichter, aber unverkennbarer Brandgeruch ging davon aus. »Irgendwer scheint mal versucht zu haben, das Ding abzufackeln.«
»Oder das Ding hat ihn abgefackelt«, vermutete Marl augenzwinkernd.
Fehris blies Luft aus. »Meinst du?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber es zog mich an wie der Zunder den Funken. Ich mag Feuer, musst du wissen. Und jetzt … raus mit deinem Frauengeheimnis!«
Vermutlich hatte er das letzte Wort rein zufällig gewählt, doch Fehris fühlte sich ertappt. Mürrisch presste sie die Lippen aufeinander und schwieg, während sie den Burghof überquerten und, flankiert von den grünen Wachen, den Palas betraten. In der Hoffnung, es möge eine Ablenkung für Marl darstellen, sah sie sich nach Dott um, doch der vermeintliche Naivling schlurfte nur schweigend hinter ihnen her, das halbe Gesicht von seiner ausladenden Kapuze bedeckt. Ob er ihnen zuhörte oder nicht, konnte sie nicht sagen. Zuweilen hatte sie gedacht, die Angst vor dem ganz klar bevorstehenden Tod hätte den Jungen gelähmt und handlungsunfähig gemacht. Aber mittlerweile glaubte sie eher, dass er sie alle an der Nase herumführte.
Marls Schlag traf sie wenig einfühlsam auf den Oberarm. »Jetzt raus damit! Oder bist du eine von der Sorte, die Entgegenkommen mit Wortbruch belohnt?«
»Fass mich noch einmal an und du hast keine Hand mehr!«, zischte sie.
Er schwieg, wartete auf ihre Erklärung. Fehris seufzte. Selbst die Räuber im Nebelhain machten Ehrenschulden wett. »Also gut.« Sie kramte die Sterne aus ihrem Beutel und hielt sie dem Alten hin. »Schnöde Wurfsterne. Einer golden, einer silbern, einer bronzefarben legiert. Mehr gibt es darüber nicht zu sagen.«
Marl betrachtete die Artefakte von allen Seiten, drehte sie hin und her, fand aber ebenfalls nichts Außergewöhnliches daran. »Hm«, brummte er schließlich, »ein wenig langweilig, dein Geheimnis! Und schlecht verarbeitet. Die Klingen sind stumpf.«
Er wollte sie ihr gerade zurückgeben, da schloss der Ziegenhirte unerwartet doch zu ihnen auf. Offensichtlich begann er sich von den schrecklichen Ereignissen vor der Schatzkammer zu erholen. »Vielleicht sind es die Scherben von Tirnahel!«, murmelte er.
»Quatsch!«, bellte Fehris und ließ die Sterne des Anstoßes schnell in ihrem Beutel verschwinden.
Aber Marl hatte bereits Blut geleckt. »Was für Dinger?«
»Ihr kennt die Legende von Tirnahel nicht?«, hakte Dott ungläubig nach.
»Nein. Interessiert uns auch nicht!«, behauptete Fehris.
»Doch, erzähl!«, forderte der verfluchte Marl.
Und so mauserte sich der Ziegenhirte vom Probanden zum Spielmann, während sie die Stufen in den zweiten Stock erklommen, denn er trug die alte Erzählung beinahe so ergreifend vor, wie Fehris sie damals vor vielen Jahren gehört hatte.
»Tirnahel war ein König der Altvorderen und in tiefer Liebe zu der Magierin Bergetta entbrannt. Sie ließ ihn wissen, dass sie sein Weib werden würde, wenn er sie im Kampf besiegte. Einen ganzen Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gab sie ihm Zeit, um sie niederzuwerfen. Doch obgleich Tirnahel der beste Krieger unter dem Himmelszelt von Meribor war, schaffte er es nicht, der Zauberin Herr zu werden. Als das Licht am Horizont verschwand und er erkannte, dass seine einzige Chance, Bergetta für sich zu gewinnen, verloren war, brach sein Herz vor Kummer in drei Teile und er fiel tot auf die Erde. Da erst erkannte die Magierin, dass seine Liebe echt gewesen war und trauerte um ihn. Ihm zu Ehren warf sie die drei Scherben seines Herzens an den Himmel, wo sie als Sterne erstrahlten.«
Dott lächelte selig und Marl verdrehte die Augen. »Was für ein sentimentales Geschwätz. Und aus welchem Grund sollten diese drei Sterne die Bruchstücke aus der Legende sein?«
»Ich war ja noch nicht fertig!«, stellte der Ziegenhirte klar. »Als Bergettas Ende nahte, rief sie die Scherben vom Himmel zurück, um sie mit sich ins Grab zu nehmen. Doch erneut sollte sie nicht mit Tirnahel verbunden werden, denn die Sterne wurden vom Wind verweht und sie fand sie niemals wieder. Es heißt, wer sie an sich nimmt und zu beherrschen vermag, dem wird ewige Liebe zuteil. Eine Liebe, wie sie Tirnahel und Bergetta zeitlebens verwehrt blieb. Alle drei Artefakte von Frau Fehris haben eine Gravur in Form eines Herzens.«
»Na, weil irgendein Schmied es dort hineingestanzt hat!«
»Meine Oma sagte immer: ›In jeder Legende pulsiert ein Stück Wahrheit‹«, sagte Dott seufzend.
Nun wurde es Fehris zu viel – der Bengel hatte ein Talent, Dinge anzusprechen, über die man lieber nicht reden wollte. »He da, lauft mal etwas schneller voran!«, rief sie den vorderen Soldaten zu.
Glücklicherweise erreichten sie Belams Gemächer, ehe Dott noch eine weitere kitschige Legende hervorkramen und ihren Ruf vollends ruinieren konnte. Der Magier sperrte auf und alle außer den Wachen traten ein.
Es war der gleiche Raum wie bei ihrer dritten Prüfung , doch heute standen weder Tisch noch Sitzgelegenheiten in der Mitte des Zimmers, sondern ein goldverschnörkeltes Wasserbecken. Auf einem ebenso prunkvollen Stuhl am Fenster thronte ein Mann im fortgeschrittenen Alter, den Fehris noch nie gesehen hatte. Seine feine Kleidung und das dezent erhobene Kinn deuteten allerdings darauf hin, dass es sich um einen adeligen Schnösel handelte. Gemäß der Verhaltensweise dieser besonderen Spezies sagte er kein Wort, sondern fuhr sich nur erhaben durch seinen grau melierten Bart. Er wirkte wie jemand, der seine seelischen Schwächen hinter möglichst viel Gold und Brokat zu verstecken versuchte.
»Ferok zu Berlichhausen, Truchsess seiner Majestät«, stellte Belam den Kerl vor. Dann deutete er auf Fehris, Marl und Dott: »Die drei Gewinner der Prüfung .« Ihre Namen waren wohl nicht bedeutend genug, um sie zu nennen.
Ah, du bist der Idiot, der den Schattenstaub jahrelang hat näherkommen lassen, nur um im letzten Moment drei armselige Verlierer gegen ihn ins Feld zu schicken , dachte Fehris bitter. Dieser verfluchte Truchsess hatte sich während der Prüfungen kein einziges Mal blicken lassen, sondern es gänzlich den Magiern überlassen, zwanzig Menschen seines Volkes zu quälen und siebzehn dahinzumetzeln. Nun, da die grausame Prozedur vorbei war, empfing er sie nicht einmal öffentlich in seinem Thronsaal, sondern heimlich in Belams Gemächern, vermutlich, damit ja niemand von seiner aussichtlosen Mission – beziehungsweise den aussichtslosen Kandidaten – Wind bekam. Mit hoheitsvoller Arroganz nickte Ferok zu Berlichhausen ihnen zu.
»Ach, Ihr seid also derjenige, der uns gleich unsere Belohnung auszahlen wird?«, fragte Marl.
»Jeder Nicht-Magier, der sein Wort an den Truchsess richten will, muss zuerst seine Hände im Wasser der Unschuld waschen«, erklärte Lantbert pflichtversessen und ein wenig hämisch, wohl, weil er selbst von dieser niederen Pflicht befreit war.
»Das ist kein Problem. Ich habe viele Fragen, und frisches Wasser weckt die Lebensgeister!«, gab Dott optimistisch zum Besten. Offensichtlich hatte er noch keinen Blick ins Innere des Waschbeckens geworfen, denn dann hätte er gesehen, dass die Flüssigkeit darin schwärzer als Schweinegülle war.
»Ich verzichte«, ließ Fehris verlauten.
»Ihr wagt es!«, zischte Lantbert, doch Belam gab ihm mit einer beschwichtigenden Geste zu verstehen, dass dies nicht der Moment für weitere Gehässigkeiten war.
Der Novize atmete einmal tief aus. »Ihr habt nichts zu befürchten«, säuselte er dann wesentlich gefasster. »Das Wasser der Unschuld ist von rein ritueller Natur. Reinigende Kräuter und pflegende Ingredienzen sind der Ursprung seiner Farbe. Wir würden es begrüßen, wenn Ihr Eure Hände freiwillig hineintauchtet.«
Marl ließ ein verbittertes Grunzen hören. »Aha. Das heißt dann wohl übersetzt, man zwingt uns, wenn wir es nicht tun. Na los, ihr Todgeweihten, schauen wir uns an, wer die nächste Prüfung überlebt. Scheint ja ein Glücksspiel zu sein!« Damit gab er sowohl Fehris als auch Dott einen Stoß nach vorn und sie landeten beide vor dem goldenen Becken. Unheilvoll still grinste ihnen das schwarze Wasser entgegen. Weder stieg ein Aroma von Salbei oder Lavendel daraus hervor, noch waren Überreste von Kräutern darin zu sehen. Es war einfach nur eine dunkle Brühe. Aber wer wusste schon, wie viel Glibber und Schmodder unter ihrer Oberfläche lauerte.
»Widerlich«, murmelte Fehris.
Selbst Dott schien nun sein Urvertrauen abhandengekommen zu sein, denn auf seinem jugendlichen Gesicht breitete sich ein Ausdruck von Argwohn aus. Er seufzte tief, dann sah er seine Mitstreiter an und verkündete in inbrünstigem Tonfall: »Lasst es uns gemeinsam tun!«
»Ich würde sagen: du zuerst!«, entgegnete Marl.
»Beruhigt Euch!«, ging Belam dazwischen.
Auch der Truchsess schüttelte entsetzt den Kopf. »Seid Ihr sicher, dass diese Leute die Richtigen für eine derart wichtige Mission sind?«
»Ganz sicher, hoher Herr! Sie sind eben … ungeschliffene Diamanten.«
Fehris beendete die sinnlose Diskussion, indem sie zugleich die Linke des Alten und die Rechte des Ziegenhirten packte und ihrer aller Hände ins Wasser tunkte.
Was für ein Glück – kein Glibber, kein Schmodder!
»Du dumme Schlampe!«, brüllte Marl und wollte sich losmachen, doch sie bekam seinen Daumen zu fassen und hielt ihn fest. Einige Sekunden verstrichen, ohne dass etwas geschah. Unsicher sahen sie sich alle drei an, während das Wasser der Unschuld ihre Haut umspielte.
»Haha«, gluckste Marl. »Das ist ja wirklich harmlos!«
Er hatte seine unsägliche Fehleinschätzung kaum ausgesprochen, da verzogen sich sämtliche Falten auf seinem Gesicht zu Kratern und auch Dott gab einen qualvollen Laut von sich. Fehris wollte ihre Hände zurückziehen, doch es war zu spät. Ein scharfer Schmerz durchzuckte sie auf Höhe ihres Handgelenks, wie der Biss einer Schlange. Reflexartig fuhren sie alle drei zurück.
»WAS WAR DAS?«, brüllte Marl, während er seinen Unterarm inspizierte.
Fehris tat es ihm nach und entdeckte zwei winzige, kreisrunde Löcher in ihrer Haut, die wie Feuer brannten. Gleichzeitig kam es ihr so vor, als winde sich etwas Langes, Dünnes im Wasser des Beckens und tauchte wieder auf den Grund hinab.
»Ihr seid nun markiert vom Gift der Viper Errasil«, sagte Belam mit einer Spur von Bedauern in der Stimme. »Es tut mir leid, doch wir mussten zu dieser Art von Fessel greifen, um Euch die Dringlichkeit der Mission vor Augen zu führen. Denn eines wissen wir nun mit Sicherheit über Euch drei: Ihr scheut den Tod nicht, solange es etwas gibt, das Euch wichtig genug ist, um dafür zu kämpfen. Aber ich räume ein, Ihr seid nicht die Helden, wie wir sie uns vorgestellt haben. Sobald sich die Gelegenheit ergibt, werdet Ihr fliehen.« Er sah jedem Einzelnen von ihnen in die Augen und die Tatsache, dass auch die beiden anderen seinem Blick nicht lange standhalten konnten, ließ Fehris vermuten, dass seine Behauptung der Wahrheit entsprach. »Diese Möglichkeit ist nun vereitelt, denn Errasils Gift wird sich Tag für Tag weiter durch Eure Körper fressen. Erfüllt Ihr Euren Auftrag, bevor es Eure Herzen erreicht, so wird der Fluch von Euch genommen. Jedes der drei Kinder des Lichts vermag dies zu vollbringen. Versagt Ihr, so werdet Ihr daran zugrunde gehen.«
»Gift statt Gold. Ihr elenden Betrüger!«, zischte Marl.
»Was für eine Riesensauerei«, pflichtete Fehris ihm bei. »Ihr zieht immer neue Bösartigkeiten aus dem Hut.«
Zum ersten Mal, seit Fehris Belam kannte, ließ der Magier ein mitleidiges Seufzen hören. »Es fällt mir nicht leicht, Menschen als Werkzeuge zu missbrauchen«, sagte er leise.
»Ach, das merkt man aber nicht«, entgegnete Dott zynisch.
»Alles was ich während der letzten Tage getan habe, geschah zum Wohle Meribors. Die Suche der wahren Auserwählten, drei an der Zahl, konnte nur unter den gegebenen Umständen geschehen.« Er hob Stimme und Zeigefinger: »Ihr und nur Ihr könnt die Kinder des Lichts zurückbringen!« Das Kinn unter dem Spitzbart bebte sichtbar.
Selbst dem Truchsess schien dieser unerwartete Gefühlsausbruch des sonst so kalten Magiers unheimlich zu sein. Er erhob sich von seinem Prunkstuhl und kam ihnen entgegen. »Auch ich bitte um Verständnis für die Grausamkeiten des Auswahlprozesses, Bürger Kandorias. Mit jeder erlöschenden Seele meines Volkes stirbt auch ein Teil von mir.«
»Dann will ich nicht sehen, wie viel verfaultes Fleisch unter diesem Brokatmantel steckt«, murmelte Marl. »Was gibt Euch das Recht, uns hinterhältig zu vergiften?«
Auch Fehris wollte keine weiteren Ausflüchte von Menschen hören, die sie jederzeit in einen Käfig voller Raubtiere stoßen würden, wenn es ihrem Zweck diente. »Genug davon jetzt!«, rief sie. »Was hat es mit diesen Kindern des Lichts auf sich? Sagt uns endlich, was Ihr von uns wollt.«
Sie sah abwechselnd Belam und den Truchsess an, bis Letzterer schließlich das Wort ergriff. »Seit Anbeginn der Zeiten dienen die Magier Meribors der Lichtgöttin, die unseren Himmel erleuchtet und unserer Erde Fruchtbarkeit schenkt. Die drei Säulen ihrer Magie, bewahrt von den Priestern des Lichttempels, wachten jahrhundertelang über Meribor, bis zu jenem schrecklichen Tag, als einer ihrer Priester sich von der Göttin abkehrte und stattdessen ihren grausamsten Feind anbetete – den Schattenfürst. Durch die Verbindung ihrer Mächte entstand der Schattenstaub, der sich seither Jahr für Jahr wie eine gefräßige Bestie mehr von Meribor einverleibt.«
Fehris erinnerte sich noch gut an die Zeit, als die Nachricht vom Schattenstaub wie ein Lauffeuer durch das Land gefegt war. Damals wie heute hatte sie weder an die Lichtgöttin noch an ihren grausamen Widersacher geglaubt, sondern all das für eine Mär aus den heiligen Büchern der Magier gehalten. Auch jetzt wusste sie nicht recht, was sie von der Sache halten sollte. Denn die Existenz solcher Gottheiten widersprach gänzlich ihrer Vorstellung vom Leben und Sterben.
»Weshalb hat der Priester sich den dunklen Mächten zugewandt?«, fragte sie den Truchsess.
»Aus Hass. Er gierte nach mehr Macht und blickte in die Wurzeln der Lichtsäulen, was nur den obersten Priestern des Tempels gestattet war, die alle drei Säulen der Magie zu beherrschen vermochten. Zur Strafe blendete die Lichtgöttin ihn. Von da an musste er blind und ausgestoßen durch die Welt wandern. Der Schattenfürst fand ihn in seiner dunkelsten Stunde und gab ihm einen Schleier, durch den er wieder sehen konnte: den Schattenstaub.«
»Was für ein furchtbares Schicksal«, sagte Dott.
»Na, lieber blind als geköpft, in Stücke gehauen oder seiner Seele beraubt!«, brummte Marl, der offensichtlich ebenso wenig Mitleid für diesen Priester aufbringen konnte wie Fehris. Diesbezüglich schienen sie ausnahmsweise gleicher Meinung zu sein.
»Razuhl, so sein Name, griff den Lichttempel an und tötete alle Priester«, fuhr der Truchsess fort. »Sein Ziel war, die Wurzeln der Göttin zu zerstören, doch Unah, die oberste Lichtpriesterin, verschloss den Schrein, ehe sie selbst dem Hass ihres ehemaligen Novizen zum Opfer fiel.«
»Warum hat er ihr nicht einfach den Schlüssel vom Schrein abgenommen?«, fragte Marl.
»Der Schlüssel bestand aus einem magischen Zeichen. Unah übertrug es in drei Teilen auf ihre Kinder, die sie durch Portale an versteckte Orte brachte. Jedes von ihnen ist nun der Hüter einer magischen Säule. Solange sie am Leben sind, besteht die Hoffnung, Razuhl zu besiegen und den Schattenstaub zurückzudrängen. Die Priester, die zum Schutz der Kinder mitgeschickt wurden, hatten den Auftrag, sie zurückzubringen, wenn die Zeit reif dafür ist. Nun aber steht der Staub im Süden vor der letzten Barriere. Bald wird er den Fluss Goriam überschreiten, doch es gibt bislang keinerlei Zeichen von den Magiern. Belam kennt die geheimen Aufenthaltsorte der Kinder. Ihr seid auserwählt worden, um dorthin zu reisen und sie nach Kandoria zu bringen.«
Das hörte sich doch zunächst machbar an. Nach alldem, was Fehris mittlerweile in der Lichtbogenfeste erlebt hatte, glaubte sie jedoch nicht mehr an eine unkomplizierte Überführung dreier Bälger. Diese Sache hier hatte gewiss einen gewaltigen Haken!
»Wieso geht Ihr nicht selbst?«, fragte sie Belam. »Ihr und Eure … Novizen!«
»Oder schickt ein Heer, das die Sicherheit der Gören garantiert«, fügte Marl hinzu.
»Das würde nicht funktionieren.« Zum ersten Mal nach langer Zeit ergriff Helikon das Wort. »Ihr müsst verstehen: Es war niemals eingeplant, die Kinder abzuholen. Wir Magier haben viele Gaben. Aber keiner von uns ist mit jener Fähigkeit ausgestattet, die nötig ist, um die geheimen Orte zu betreten.«
Da ist er ja, der Haken!, erkannte Fehris. »Und die wäre?«
Helikons mausgrauer Blick streifte sie nur flüchtig, ehe er wieder einen Punkt auf dem Boden fixierte. »Meister Belam hat es bereits erwähnt: Der Antrieb, die Mission erfolgreich zu Ende zu bringen, muss größer sein als eure Angst vor dem Tod.«
Fehris fühlte Wut in sich hochsteigen. Sie starrte auf die beiden Punkte am Arm. »Ihr hättet jedem beliebigen Recken euer Schlangengift verabreichen können, um einen solchen Antrieb zu bewirken!«, blaffte sie die Novizin an.
Helikon schüttelte den Kopf. »Der Antrieb muss aus Eurem Innersten kommen. Todesangst ist dafür nicht stark genug. Eher ist es so etwas wie ... Lebenssehnsucht , die wir suchen. Eine Leidenschaft, die größer ist als jede Furcht.«
Verwirrt blickte Fehris von Dott zu Marl. Was auch immer diese beiden in ihren Herzen trugen – sie selbst hatte außer dem Gift in ihrer Blutbahn gewiss keinerlei Ambition, magische Blagen quer durch den Kontinent zu schleppen. Belam musste sich getäuscht haben!
»Die Prüfung irrt niemals«, sagte der Meister, als hätte er ihre Gedanken erraten. »Das Schicksal Meribors liegt ab sofort in Euren Händen.«