Wegscheide
Marl hätte nach den schwülstigen Worten des Zauberers am liebsten dessen Hals in den Händen gehabt und fest zugedrückt. Tut mir leid, Meister Belam, aber mit dieser Hinterlist habt Ihr Euch einen Platz ganz weit oben auf meiner Arschlochliste verdient.
Natürlich sprach er dergleichen nicht aus. Der Spitzbart hatte mehr als einmal bewiesen, wozu er fähig war, und auch die dämlichen Novizen waren nicht zu unterschätzen.
Trotzdem graute Marl bei der Vorstellung, mit der blonden Hexe und dem kleinen Trottel noch mehr Zeit vergeuden zu müssen. Wieso nur hatte die Lichtgöttin diese Idioten ausgewählt, die Prüfung
zu bestehen? Eine Reise quer durch Meribor, um irgendwelche magischen Kinder zu retten, würde Wochen dauern.
»Drei Kinder, drei erfolgreiche Probanden«, faselte Belam weiter, »so war es immer angedacht. Jeder von Euch kann nur eines retten, quasi sein
Kind.« Er setzte das Wort doch tatsächlich in imaginäre Anführungszeichen.
Marl schnaubte belustigt. So ein affektiertes Gehabe konnte auch nur von jemandem kommen, der zu oft über Büchern brütete und vergessen hatte, dass ein Großteil der stolzen Untertanen seiner Majestät nicht mal ihren Namen schreiben konnte, geschweige denn wusste, was Anführungszeichen waren. Dotts verwirrter Blick und sein leichtes Zusammenzucken bei der harmlosen Geste, deuteten darauf hin, dass er vermutlich zu jener Gruppe zählte. Marl versuchte, sich wieder auf das Gerede des Alten zu konzentrieren.
»Die Kinder sind zu ihrer Sicherheit an drei unterschiedlichen Orten, die über ganz Meribor verteilt liegen, untergebracht. Eine lange und anstrengende Reise liegt vor Euch, bei der Ihr …«
»Heißt das«, unterbrach Marl und musste sich räuspern, weil seine Stimme einen Moment lang so quakig wie die eines Froschs klang. »Heißt das etwa, dass wir allein reisen werden? Jeder in eine andere Richtung?« Er versuchte, es weniger erfreut klingen zu lassen, als er bei dieser Aussicht war – aber der wissende Blick, den Fehris ihm schenkte, bewies, dass ihm das wohl nicht ganz gelungen war.
Belam nickte mit ernstem Gesicht, in das sich gar eine Spur Bedauern schlich. »So wurde der Zauber zum Schutz der Kinder gewoben. Nur derjenige«, er versuchte sich an einem jovialen Lächeln in Richtung Fehris, »oder diejenige, deren Antrieb, das Kind zu finden, größer ist, als die eigene Angst zu sterben, kann das ihm oder ihr zugeordnete Kind retten. So ist außerdem sichergestellt, dass das Geheimnis ihres Aufenthaltsorts gewahrt bleibt.«
»Aha«, knurrte Marl, als würde ihm das gegen den Strich gehen, dabei war die Tatsache, dass er nicht mit diesen Idioten zusammenarbeiten musste, der erste Silberstreif seit langer Zeit am Horizont. Die Vorstellung, noch einmal das Land zu bereisen, war Marl nicht unangenehm. Schon immer war er ein Freigeist gewesen, der selten länger an einem Ort blieb. Er sah sich schon in gemütlichen Gasthäusern absteigen und nächtigen. Gutes Essen, guter Wein und abends würde er am Kamin jungen Damen aus seinem aufregenden Leben berichten und vielleicht die eine oder andere in seine Kammer mitnehmen. Sollte das nicht klappen, würde er unterwegs sicher so manches Etablissement finden, in dem die Damen bei entsprechender Bezahlung auch einem alten Furz wie ihm freundlich gesonnen waren. Und das Beste daran: alles auf Kosten des Königs. »Ich gehe davon aus«, sagte Marl und scharrte scheinbar verlegen mit den Füßen, »dass Ihr uns dafür doch hoffentlich entsprechend ausrüsten werdet. Solch eine Reise ist lang und gefährlich …« Er ließ den Rest seines Satzes in der Luft stehen, damit Meister Belam oder der Truchsess selbst das Ende ergänzen konnten.
»Eine tolle Sache haben wir bereits bekommen.« Dott strich über seinen schäbigen Umhang und machte damit Marls rhetorischen Plan zunichte.
»Er meint Geld, richtige Waffen, Pferde und …«, kam Fehris Marl zur Hilfe.
Die Frau war, trotz ihrer Schönheit, gar nicht so dumm. Zufrieden grinsend ergänzte Marl mit Blick auf den Truchsess: »… königliche Siegelringe, die einem Sondergesandten der Krone überall Einlass und Obdach gewähren.«
»Übertreibt es nicht, sonst befehle ich Meister Belam, dass er die Viper Errasil ein weiteres Mal auf Euch hetzt. Niemand überlebt zwei Bisse«, zischte der Truchsess.
Marl warf resigniert die Arme in die Luft. »So läuft das also. Nichts als warme Worte über Ehre und Mut fürs Königreich. Wir sollen mittellos und ohne nennenswerte Ausrüstung durch das Land reisen?« Diese Aussicht behagte Marl schon allein deshalb nicht, weil sich in letzter Zeit häufiger sein Rücken beschwerte, wenn er auf dem Boden schlafen musste, und die Feuchtigkeit des Waldes gefiel seinen Knochen ebenso wenig.
»Mit meinen Ziegen bin ich noch nie mehr als zwei Wiesen über Kandoria hinausgekommen. Nun soll ich in die Ferne reisen, um das Königreich zu retten. Ein schöner Umhang als Ausstattung kann nur ein Anfang sein.« Dott hatte die Worte ruhig, ohne jeden Nachdruck oder gar Zorn ausgesprochen, doch seltsamerweise erzielten sie mehr Wirkung als jedes Gebrüll.
Marl bekam eine Gänsehaut. Der Junge hatte etwas an sich, das einem Angst machen konnte. So setzt er durch, was er will. Er muss nicht schreien oder die Muskeln spielen lassen. Wenn er denn welche hätte.
»Schluss mit diesem Unsinn«, fuhr Meister Belam dazwischen. »Wir zäumen hier gerade das Pferd von hinten auf. Natürlich werdet Ihr nicht als Bettler reisen müssen, wir geben Euch Waffen, ein gutes Pferd und einen angemessenen Beutel voll Silberlinge, aber …«, er erhob mahnend seinen Zeigefinger, sodass Marl in seiner Überlegung, wie viel Wein man wohl für einen angemessenen Beutel Silber trinken und wie viele Damen man dafür anwerben konnte, unterbrochen wurde, »… Euch wird nichts gegeben, das darauf verweist, dass Ihr im Namen der Krone und der Lichtgöttin unterwegs seid. Eure Mission ist die wichtigste, die es jemals auf Meribor gab. Die Aufenthaltsorte der Kinder sind das größte Geheimnis, über das wir Lichtmagier Kenntnis haben. Nur Euch Auserwählten wird es ebenfalls offenbart werden. Razuhl giert nach dieser Information. All sein Streben ist danach ausgerichtet, der Kinder habhaft zu werden, weil sie seinen dämonischen Plänen als letzte Bastion im Weg stehen.«
»Was passiert, wenn wir es jemandem erzählen? Zum Beispiel einer Person, die wir sehr gern haben?«
Marl rollte mit den Augen. Dott wusste noch nicht mal, wo die Blagen waren, hatte aber schon vor, das Geheimnis auszuplappern.
Belams Gesicht verdüsterte sich. »Mein Zorn würde Euch treffen, egal in welches Loch Ihr Euch auch verkriechen würdet.«
»Genug der Plänkeleien, das ist ja ein Geschacher wie auf dem Viehmarkt.« Ferok zu Berlichhausen schlug wütend mit der Faust auf die Stuhllehne. »Sagt den dreien, wo sie hinmüssen und scheucht sie vom Hof, Meister Belam. So langsam wird dieses Schauspiel unwürdig.« Der Truchsess erhob sich aus seinem verzierten Stuhl und machte sich – zu Marls vollkommener Überraschung – daran, den Raum zu verlassen.
Belam nickte Lantbert und Helikon zu. »Es wird auch Zeit für Euch.«
»Meister, können wir nicht doch …«, begann Lantbert zu quengeln.
»Raus!«, zischte der Zaubermeister seinem Novizen so bösartig zu, dass selbst Fehris, die ihm am nächsten stand, einen Schritt zurückwich.
Helikon zog den unbotmäßigen Lehrling am Oberarm aus dem Raum.
Das scheint ja wirklich ein gewaltiges Geheimnis zu sein, wenn der Spitzbart es nicht mal mit seinen Novizen teilen will.
»Würde es nicht so wenige magische Begabte geben, ich hätte ihn längst fortgejagt«, murmelte Belam vor sich hin, als wäre er allein im Raum. Anschließend legte sich eine unnatürliche Stille über die vier Verbliebenen. Dass sie tatsächlich künstlichen Ursprungs war, bewies ein Blick auf Belam, der mit geschlossenen Augen irgendetwas murmelte und dabei komplizierte Verrenkungen mit seinen Händen vollführte.
»So«, sagte er einen Augenblick später, »jetzt sind wir ungestört. Die Glocke der Ruhe kann niemand durchdringen. Selbst am Hof gibt es Spione Razuhls, deswegen muss ich zu solch außergewöhnlichen Maßnahmen greifen.«
Unwillkürlich erschien Lantberts Gesicht vor Marls Augen.
»Vertraut niemandem auf eurer Reise, außer Euch selbst und den beiden anderen Probanden.«
»Das haben wir verstanden, könnt Ihr uns jetzt endlich sagen, wohin wir reisen sollen, damit dieser elende Firlefanz ein Ende hat? Ich kann Stinkers Geruch nicht länger ertragen«, warf Fehris ein.
Marl winkte gelangweilt ab. Ihm war Fehris und ihre Meinung über ihn genauso egal wie die Fliege, die träge um Meister Belams Hinterkopf schwebte.
»Ihr habt recht, Fehris. Die Zeit läuft uns davon.« Der Zauberer drehte seine Hände um sich selbst, und eine jener hellen Lichtkugeln, die Marl bereits im Keller bei der zweiten Prüfung
gesehen hatte, entstand dazwischen. »Schaut hinein!«
Gemeinsam traten sie mit vorgereckten Hälsen näher heran, um in den rotierenden Ball zu blicken.
Marl kniff die Augen zusammen, so unangenehm grell war das Licht, aber er konnte beim besten Willen nichts darin erkennen. Die Kugel pulsierte nun immer schneller und wurde stetig heller. »Wenn das wieder eine Prüfung
ist, dann will
ich sie nicht mehr bestehen, denn …«
Ein ohrenbetäubendes Krachen verschluckte den Rest von Marls Worten, als die magische Kugel jäh explodierte.
Er wurde von den Füßen gehoben und landete einige Schritt weiter schmerzhaft auf dem Hintern. Um ihn herum war plötzlich alles tiefschwarz. Kurz glaubte er, dass ihn sein Ende ereilt hätte, da brachte ihn Dotts jungenhafte Stimme zurück in die Wirklichkeit.
»Aua! Das hat wehgetan! Hättet Ihr nicht Bescheid sagen können, dass so etwas passieren wird?«
Von Fehris kam ein gequältes Stöhnen.
»Bewegt Euch nicht!«, drang Belams mahnende Stimme aus der Dunkelheit. »Gleich könnt ihr wieder sehen.«
Tatsächlich wurde es langsam wieder heller, fast so, als würde etwas die Schwärze aus dem Raum herausziehen.
Marl rappelte sich auf und betastete schlechtgelaunt sein Steißbein, auf dem er gelandet war.
»Was ist das?«, fragte Dott.
Genervt blickte Marl zu ihm hin. Vermutlich hatte sich der Bengel eingenässt. Überraschenderweise zeigte der aber auf den Fußboden. Verwirrt blickte Marl nach unten und wäre vor Schreck in die Luft gesprungen, wenn sein Steiß nichts so geschmerzt hätte – und er jünger gewesen wäre. Und schlanker. Zu seinen Füßen erstreckte sich plötzlich eine Miniaturausgabe Meribors. Eine Karte
, staunte er. Er stand mit den Füßen auf irgendeiner Küste und blickte auf kleine gelbe Strände und winzige Inseln, an die ein tiefblaues Meer träge und unablässig anbrandete. Ist das etwa die östliche See mit den Inseln des Morgens?
Er drehte sich einmal um die eigene Achse und sah im Norden die weiße Eiszone, in der nur Bären, Eisbestien und muskelbepackte Nordlinge lebten. Der Blick nach Westen ging über ein grünes Meer aus Bäumen hinweg, das ab und an durch wenige kleine Einsprengsel unterbrochen wurde – Städte und Dörfer. Er ließ seine Augen weiter wandern und schaute nach Süden. Hatte er bisher überall farbenfrohes, blühendes Leben gesehen, gab es hier nur eine graue Schwärze, die das Land unter sich begrub. Der Schattenstaub.
Kandoria lag so nah an dessen Grenze, dass Marl am liebsten aus dem Zimmer gerannt wäre. Wie konnte nur irgendjemand so dumm sein und in dieser verlorenen Stadt auch nur einen Tag länger bleiben wollen als unbedingt nötig.
»Wisst Ihr es?«, erklang Belams gepresste Stimme. Das Gesicht des Zauberers war schweißüberströmt. Er sah grau und fahrig aus.
Bevor Marl fragen konnte, was er denn wissen sollte, antwortete Fehris, die auf der merkwürdigen Karte ziemlich weit im Norden stand. »Ja.«
Dott, den es nach Westen verschlagen hatte, sagte ebenfalls: »Ja.«
Marl verstand einen Augenblick lang nicht, wovon sie sprachen, er starrte auf seine Zehen. Dann sah er es auch. Nicht auf der magischen Karte zwischen seinen Füßen, sondern in seinem Kopf. Eine Höhle. Keine nasse, dreckige Höhle, wie sie von Tieren genutzt wurde, sondern eine wohnliche, behaglich eingerichtet und warm. Marl hatte das Gefühl, dass er diese Höhle schon ewig kennen würde. Genauso ging es ihm mit dem Weg dorthin. Er war ihm auf eine Art und Weise vertraut, wie das eigentlich nur die Wege der Kindheit waren – ausgetretene Pfade zur Wasserstelle, der Weg zur Großmutter oder die geheime Abkürzung zum besten Freund in der Nachbarschaft. Jetzt wusste Marl, wo sein Kind zu finden war. »Ja, ich sehe es«, sagte auch er.