Unterwegs
Selten runzelte Dott die Stirn, doch nun tat er es, während er der blonden Söldnerin hinterherblickte. Ihre Worte hallten in seinem Kopf wider. Ich wünsche mir, dass ich euch beide nie wiedersehen muss. Und weg war Frau Fehris.
Darüber sollte ich mich freuen. Was für eine sperrige Person! Wobei sie vor allem sich selbst im Weg zu stehen schien.
Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, verabschiedete sich sein anderer Begleiter ebenfalls. »Pass auf dich auf, Kleiner«, sagte Marl und trabte auf das Gasthaus zu, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Schon stand Dott einsam auf der Kreuzung und musste ab sofort allein zurechtkommen – so schnell ging das. Wieso steckten seine Gefühle auf einmal zwischen Baum und Borke? Einerseits war er froh, die beiden Streithähne los zu sein, andererseits wusste er nicht, was besser war – diese Gefährten oder gar keine Gefährten. Fehris, Marl und er waren die Auserwählten, hatten als Einzige den gnadenlosen Auswahlprozess überlebt. Sie hatten sich an den Händen gehalten, als sie von der Viper Errasil gebissen worden waren. Gemeinsam hatte Belam sie instruiert und losgeschickt. Die gleiche Aufgabe, nur mit unterschiedlichen Zielorten. Jeder für sich musste nun sein Kind finden.
Erst sechs Tage waren vergangen, seit er die Lichtbogenfeste betreten hatte. Seitdem hatte er mehr erlebt als in den sechs Jahren zuvor. Doch leider nicht viel Gutes. Liebevoll kraulte er Haserls Hals. Immerhin besaß er nun ein tolles Pferd, einen mysteriösen Mantel mit einem gefüllten Geldbeutel darin, eine Schlafrolle quer hinter dem Sattel, Feuerstein und Zunder sowie einen Dolch mit scharfer Klinge. Letzterer stammte aus der königlichen Waffenkammer. Horbert war über seine unspektakuläre Auswahl erstaunt gewesen und hatte ihm stattdessen einen Bogen und ein Schwert ans Herz gelegt. Doch was sollte Dott mit diesen Waffen anfangen? Bis auf eine selbstgefertigte Schleuder hatte er noch keine benutzen müssen. Womöglich verletzte er sich noch daran. Also begnügte er sich mit dem Dolch, damit konnte er sich wenigstens eine Flöte schnitzen.
Bis zur Dämmerung könnte er es noch ein Stück des Weges schaffen. Sanft drückte er die Unterschenkel an Haserls Flanke, mehr ein Anschmiegen als ein Reitbefehl. Das Pferd verstand und trottete los. Auf ging es! Immer die Straße entlang nach Nordwesten.
Auf dem Boden von Belams Gemach hatte der Ziegenhirte gesehen, wohin er reisen musste. Die Karte hatte sich in seinem Kopf eingenistet wie die Tauben im Bergfried. Er sah die Landschaft bildhaft vor sich: die Küste, die Flüsse, die Wälder, die Bergzüge, die Wege. Sicherlich eine Folge des Zaubers. Dott hatte immer noch nur eine vage Ahnung, wie mächtig dieser Obermagier Belam war. Warum schickte der König nicht einfach ihn und seine Armee los, um die drei Kinder zu holen und sicher nach Kandoria zu geleiten? Diese berechtigte Frage hatte Marl bereits gestellt und auch eine Antwort erhalten. Eine wenig zufriedenstellende Antwort. Der Antrieb, die Mission erfolgreich zu Ende zu bringen, muss größer sein als Eure Angst vor dem Tod. Darüber dachte Dott nach, während er sanft im Sattel hin und her wiegte. Es tat gut, die kräftigen Muskeln und Sehnen von Haserl unter sich zu spüren. Der Ziegenhirte empfand es als erstaunlich gemütlich auf dem Rücken seines Pferdes. Er rutschte nicht und wurde auch kaum durchgeschüttelt, sodass er sich nur selten festhalten musste. Viel verstand Dott nicht vom Reiten, doch immerhin kannte er die drei Gangarten Galopp, Trab und Schritt. Bei Haserl hießen diese: Galopp, Trab und Schlurf und Letztere beherrschte sie in Perfektion. Das Pferd hob kaum die Hufe, jedenfalls nicht ein Haarbreit höher als unbedingt nötig. Dott war es recht, Hauptsache, sie kamen voran.
Er konnte es nicht verhindern, immer wieder an seine ehemaligen Begleiter zu denken. Warum hatten die beiden überhaupt bei der Prüfung mitgemacht? Keiner von ihnen ließ sich in die Karten blicken und in die Seele schon gar nicht. Doch eins war sicher: Die zwei hatten schon schreckliche Dinge erlebt. Vermutlich auch getan.
Sein Pferd schnaubte ausdrücklich, so als forderte es ihn auf, nicht zu tief in Gedanken zu versinken.
»Du hast recht, Haserl. Je mehr ich über die Welt nachgrübele, desto verwirrter werde ich. Mein Maßstab von Gut und Böse, schön und hässlich, richtig und falsch reicht offenbar nicht aus. Vergessen wir die beiden.«
Der Tag neigte sich dem Ende zu. Die Dämmerung senkte sich wie ein schwarzes Tuch über die Landschaft, und mittendrin reiste ein grauer Reiter auf einem grauen Pferd. Eigentlich passte das nicht zu Dott. Er liebte es bunt, so wie im Regenbogen. Sieben Farben an der Zahl. Er war ein lichtfroher Mensch, und daran sollte sich trotz der dunklen Erlebnisse und des vorrückenden Schattenstaubs nichts ändern.
Der Ziegenhirte lächelte vor sich hin, nur für sich selbst und Haserl.
Konzentriere dich auf deine Aufgabe, alles andere wird sich richten. Dott drückte den Rücken durch. Ich brauche fünfzig Goldstücke als Mitgift.
So einfach wie banal. Er seufzte über die tiefe Kluft zwischen Theorie und Wirklichkeit.
Der graue Reiter folgte der Hauptstraße, die parallel zur Westküste von Süden nach Norden verlief. Besonders wachsam verhielt sich der Ziegenhirte nicht, vielleicht weil Marl gegrummelt hatte, dass Dott den gefahrlosesten Weg erwischt hätte, zumindest bis zum Roten Forst, in dem sein Ziel verborgen lag. Hoffentlich behielt der alte Stinker recht, weder Wegelagerer noch wilde Biester konnte Dott gebrauchen. Er hatte jetzt schon genug zu erzählen, und es gelüstete ihn nicht nach weiteren Abenteuern. Er vermisste die Geruhsamkeit seiner eigentlichen Profession. Das Aufregendste beim Ziegenhüten war, wenn sich ein Zicklein verlaufen hatte oder wenn es zwei Böcke mit ihren Kämpfen übertrieben. Wie es wohl seiner Herde erging? Ach was, Micha würde schon gut auf die ihm anvertrauten Ziegen achtgeben.
Da das letzte Stück Sonnenball bereits hinterm Horizont versank, beschloss Dott, einen Platz zum Schlafen zu suchen. Nicht weit abseits der Straße fand er eine Wiese, deren weiches Gras einladend wirkte. Als Erstes kümmerte er sich um Haserl, nahm ihr Sattel und Zaumzeug ab und striegelte sie mit einer alten Pferdebürste, die ihm der Stallmeister eingepackt hatte. Auch der Stute schien es hier zu gefallen, ihr Maul verschwand tief im Klee. Dott ließ sich nieder – es bereitete ihm Freude, ihr einfach nur beim Grasen zuzuschauen. »Das schmeckt besser als immer nur Heu, Stroh und Hafer, was?«, fragte er. Haserl blubberte zustimmend. Ob das Pferd jemals auf so eine große Reise gegangen war? Auf einmal hob die Stute den Kopf und spitzte die Ohren. Ein eisiger Hauch wehte Dott um die Nase, plötzlich roch es nach verrotteter Ratte. Eine Gänsehaut kroch ihm an Rücken und Armen hoch, ein unmissverständliches Warnsignal. Oma sagte immer: Es gibt keine ehrlichere Haut als Gänsehaut – sie lügt nie.
Dott kauerte sich zusammen, nur den Kopf drehte er in alle Himmelrichtungen. Haserl blähte die Nüstern auf. Was geschah hier? Sehen konnte er nichts. Eine Bewegung am Himmel ließ ihn nach oben blicken. Der aufgehende Mond verschwand einen Augenblick und etwas Großes, Düsteres kreiste über seinem Kopf. Es näherte sich unbarmherzig – das schwarze Etwas. Kein Schattenstaub, dazu besaß es zu klare Konturen und flog auch viel zu schnell. Dott zitterte. Einem Instinkt folgend zog er seinen grauen Mantel enger und warf sich die Kapuze über den Kopf. Aus dem Augenwinkel erblickte er einen riesigen fliegenden Schatten. Ein durchdringendes Krächzen ertönte, kehlig, rau, voller Wut, gefolgt von einem weiteren Schrei direkt über ihm. Es klang nach zorniger Verwunderung.
Danach Stille, nur ein verpesteter Windhauch blieb über der Wiese hängen, die düstere Erscheinung war verschwunden. Die Stute zitterte am ganzen Körper, doch sie war nicht durchgegangen, sondern tapfer bei ihm geblieben. Er umschlang ihren Hals mit beiden Armen. »Ich bin stolz auf dich. Ein Angsthaserl bist du keineswegs«, redete er ihr gut zu, wobei sein eigenes Herz immer noch viel zu schnell klopfte. Langsam beruhigten sie sich beide. »Ich habe keine Ahnung, was das für ein Ungetüm war, doch jetzt ist es weg«, erklärte Dott.
Kaum ließ das Pochen in seiner Brust nach, spürte er es schon in seinem Unterarm. Im Licht des Mondes betrachtete er die beiden Punkte des Vipernbisses. Davon weg zogen sich zwei dunkle Streifen in Richtung Armbeuge, das sah bedrohlich aus. Dotts Onkel war gestorben, nachdem eine ähnliche Bahn sein Herz erreicht hatte. Kaum etwas war so groß wie die Hinterlist der Zauberer, dabei hätte er vor lauter Liebe zu Clarissa dieser Gemeinheit nicht bedurft. Ändern konnte er es trotzdem nicht, die Zeit lief. Sichtbar.
Mit einem Seufzen ließ Dott sich ins weiche Gras nieder und kaute auf einem Stück Hartkäse aus seinem Proviantbeutel herum. Mit dem, was die Magier ihm mitgegeben hatten, wäre Micha einen Abend ausgekommen. Nun hieß es, Kräfte sammeln für die kommenden Aufgaben. Die Schlafrolle benutzte er als Kopfkissen. Die Grillen zirpten ihn in den Schlaf.
Mitten in der Nacht wachte er auf. Angestrengt horchte er in die Stille. Sein Herz hämmerte, so als wolle es aus seiner Brust hüpfen, und er wusste nicht warum. Der Mond, der für einen kurzen Augenblick durch die dichte Bewölkung lugte, tauchte die Wiese in sein fahles Licht. Weit und breit war keine Gefahr auszumachen. Haserl stand ruhig neben ihm, ein Bein angewinkelt, und ließ Kopf und Unterlippe hängen. Sie schlief offenbar, was Dott beruhigte. Tiere waren ohnehin die aufmerksameren Wächter, und wenn die Sinne seines Pferdes nicht Alarm schlugen, sollte er sich nicht verrückt machen. Der Geruch des Grases, der frische Wind und das Nachtlager unter freiem Himmel erinnerten ihn an seine Ziegenaue. So fand er wieder in den Schlaf.
Am frühen Morgen saß der Ziegenhirte auf. Im Schlurf ging es weiter die Straße entlang. Laut der Karte in seinem Kopf bewegten sie sich auf die Küste zu. Es hieß, dort wäre das Meer zu finden – ein riesiger See aus salzigem Wasser, so weit das Auge blickte. Dott konnte sich das nicht so recht vorstellen, wusste jedoch, dass keine Zeit für einen Abstecher dorthin verblieb, um sich diese ungeheure Wasservielfalt näher anzusehen.
Am späten Vormittag erreichte Dott eine Gabelung. Ein Wegweiser mit drei Schildern zeigte stumm in die möglichen Richtungen. Die Buchstaben auf dem verwitterten Holz konnte er kaum erkennen. Wobei ihn das nicht weiter störte, denn lesen konnte er sie ohnehin nicht. Er musste weiter nach Norden reiten, das sagte ihm die magische Karte in seinem Kopf unmissverständlich, also nahm er die rechte Abzweigung, denn links führte die Straße vermutlich zur Küste.
Guten Mutes folgte er der frisch eingeschlagenen Route. Der neue Mantel kratzte ihn am Hals. Merkwürdig, dass er es erst jetzt bemerkte. Hufgetrappel ließ ihn zurückblicken – ein Trupp Reiter galoppierte geradewegs auf ihn zu. Zunächst wirkten sie wie königliche Soldaten, doch je näher sie kamen, desto irritierter blickte Dott drein. Haserl schnaubte nervös und schüttelte den Kopf. Offensichtlich mochte sie den hektischen Aufmarsch in ihrem Rücken auch nicht. Schon hatten die Männer sie erreicht und umringten Pferd und Dott. Zwölf zählte der Ziegenhirte, wobei es kaum eine Rolle spielte.
»Kommandant, laut Beschreibung könnte das einer von den drei Idioten sein, die für Belam die Drecksarbeit machen. Offenbar haben sie sich bereits getrennt«, sagte einer der Reiter. Ein speckiger Hartleder und ein buschiger Backenbart zierten seinen Kopf.
Der Angesprochene, ein Kerl mit Narben auf den Wangen und einer knubbeligen Nase, kniff die Augen zusammen. »Was? Du denkst, dieses heruntergekommene Jüngelchen gehört zu den Auserwählten? Und schaut euch an, worauf er sitzt! Was soll das sein?«
Gelächter um ihn herum. Was wollten die Männer von ihm? Sie wirkten wild und gehetzt, mit abgetragenen Waffenröcken und Lederhosen, auf denen das königliche Wappen längst verblasst war. Richtige Soldaten sahen anders aus.
Der Anführer lehnte sich im Sattel vor und taxierte Dott mit düsterem Blick. »Also, wer bist du?«
Dott durchdachte seine Optionen. Das war schnell erledigt, denn es gab keine. Umringt von zwölf bewaffneten Männern bot sich keine Möglichkeit zur Flucht.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?«, knurrte der Narbige.
»Kommandant, er ist es. Unser Kontakt hat ihn mir beschrieben. Er muss es bei sich tragen«, bekräftigte der Backenbart.
Egal was er meinte, jemand in der Burg hatte die Auswählten an diese Männer verraten.
»Ich bin Dott der Ziegenhirte«, sagte er mit dünner Stimme. »Wer seid ihr?«
Der Anführer knirschte mit den Zähnen. »Spielt das eine Rolle? Ich will wissen, ob du im Auftrag dieses verfluchten Mistkerls Truchsess Berlichhausen unterwegs bist?«
Allmählich erahnte der Ziegenhirte, wer ihm gegenüberstand: abtrünnige Soldaten, Fahnenflüchtige, die dem König den Gehorsam verweigerten. Männer ohne Ehre, ohne Heimat, ohne Skrupel. Sie hatten ihren Eid auf die Krone gebrochen und nichts mehr zu verlieren. Das machte sie gefährlich. Und den Verräter in Belams Reihen noch widerwärtiger.
Ein Kerl ohne Helm und Haare rief: »Worauf warten wir? Hauen wir ihm den Schädel ein und nehmen uns alles, was wir zu Geld machen können. Wir brauchen jeden Silberling für die Überfahrt auf die Inseln.«
Die Situation wurde immer brenzliger. Was konnte Dott sagen? Am besten die Wahrheit.
»Ja, ich bin einer der Auserwählten.«
»Es heißt, die drei Gewinner der Prüfung erhielten jeder dreißig Silberlinge. Aber was noch viel wichtiger ist, sie durften sich einen der mächtigen magischen Gegenstände aus der königlichen Schatzkammer aussuchen.« Er wandte sich an den Backenbart. »Hat dein Kontakt dir auch verraten, welche Artefakte die drei Gewinner gewählt haben?«
»Nein, wir hatten nicht viel Zeit zum Reden und mussten doppelt vorsichtig sein. Belam weiß bereits, dass regelmäßig streng geheime Informationen nach außen dringen und hat daher die Sicherungsvorkehrungen verstärkt.«
Der Hauptmann knibbelte an der Wulst einer seiner Narben. »Bevor wir ihn töten, sollten wir rauskriegen, was er weiß. Tremor, nimm ihn dir vor. Wenn jemand erkennt, ob er lügt, dann du.«
Alle blickten auf den offenkundig ältesten Mann im Rund. Gebeugt saß er auf seinem Pferd, sein weißer Bart war in zwei Zöpfe geflochten und seine Augen bereits vom Grauen Star gezeichnet.
»Bisher spricht er die Wahrheit, Hauptmann, so viel kann ich sagen«, krächzte Tremor.
Nach den Erfahrungen der Prüfung in Belams Gemach wusste Dott, worauf er achten musste. Und tatsächlich spürte er, wie der Alte seine Gedanken abtastete, bei Weitem nicht so tiefgründig wie Belam es vermochte, dennoch schien er in der Geistmagie bewandert.
Der Alte knatterte: »Um sicher zu gehen, ob er die Wahrheit sagt, muss ich ihn berühren. Meine Magie ist beschränkt, denn ich war nur kurze Zeit Novicius.«
»Weil sie dich schnell wieder rausgeworfen hatten«, ergänzte der Hauptmann. »Also gut. Holt ihn vom Pferd!«
Umgehend sprangen vier Männer aus ihren Sätteln, zogen den Ziegenhirten unsanft vom Sattel und warfen ihn auf den Rücken. Dott schnappte nach Luft und Haserl nach den Männern, dazu trat sie nach hinten aus, doch wie sollte die tapfere Stute schon gegen ein Dutzend ehemaliger Soldaten ankommen?
Kräftige Hände drückten ihn fest auf den Boden. Ächzend rutschte der Alte aus dem Sattel, kniete mit knackenden Gelenken neben Dott nieder und legte ihm eine faltige Hand auf die Stirn, als wolle er Fieber messen.
Der Anführer bellte: »Rede, Schweinehirte! Warum schickt der Truchsess ausgerechnet so ein zerlumptes Jüngelchen wie dich auf solch eine Mission? Ist das deine Tarnung?«
Dott musste sich nicht verstellen. »Ehrlich, ich verstehe selbst nicht, wie es dazu kam. Ich bin nur ein Ziegenhirte. Und ich weiß nicht, was Ihr meint.«
»Fürwahr. Er ist verwirrt. Eine Lüge kann ich nicht entdecken«, erklärte Tremor mit zitternder Stimme und Hand.
»Was denkt sich der Truchsess? Wie soll so ein liederlicher Bengel das Königreich vor dem Untergang bewahren?«, fragte der Kerl, der Dotts rechten Arm umklammerte.
Ein anderer stand mit seinem Fuß auf seinem linken Unterarm.
»Durchsucht ihn!«, befahl der Hauptmann.
Grobe Hände griffen zu.
Weit bin ich nicht gekommen. Die Geldbeutel mit den Silberlingen und der Umhang sind verloren. Hoffentlich lassen sie mir wenigstens mein Pferd. Und mein Leben. Glück, sieh es mir nach, doch ich brauche dich schon wieder. Dringend!
Dott spürte, wie Finger ihn gierig abtasteten. »Nichts!«, erklang es enttäuscht.
»Was?! Schweinehirte, wo sind die Silberlinge?«, knurrte der Backenbart.
Warum konnten sich die Menschen nicht merken, dass er ein Ziegenhirte war? Die ihm anvertrauten Tiere waren weder rosa noch dick noch kurzbeinig. Darüber hinaus war der Umgang mit ihnen ein vollends anderer. Die sollten mal versuchen, ein Schwein zu melken. Doch Dott verstand, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um diesen Sachverhalt ausführlicher zu beleuchten.
Tremor presste seine Hand fester auf Dotts Stirn, wodurch das Zittern etwas nachließ. Er schüttelte den Kopf. »Die Gedanken des Jünglings sind konfus und wirr. Er denkt an … äh … Schweinemilch.«
Der Hauptmann verdrehte die Augen so weit, dass die Pupillen verschwanden. »Verflucht, Tremor. Konzentriere dich am besten nur darauf, ob er die Wahrheit sagt oder nicht.«
Die Hand des Mannes, der Dott durchsuchte, zog nun den Dolch aus dem Gürtel und präsentierte ihn den anderen. »Er hat nur den hier, mehr trägt er nicht bei sich. Also muss es sich dabei um das Artefakt handeln«, sagte er und schlug Dott aufmunternd ins Gesicht. »Rede! Wo sind die Silberlinge?«
»Das Geld war auf einmal weg«, antwortete der Ziegenhirte.
Die Männer stöhnten ob dieses unfassbaren Ausmaßes an Einfältigkeit.
»Ich bin mir sicher, er spricht die Wahrheit«, verkündete Tremor sichtlich stolz.
»Wie, auf einmal weg?«, zischte der Glatzkopf.
»Ich … weiß nicht, wo es ist.«
Feierlich verkündete der Hauptmann: »Männer, seid tapfer, doch es ist wahr. Auf diesem Burschen ruhen die Hoffnungen der Obrigkeit unseres Landes. Da bleibt doch nur das Desertieren.« Fassungslos schüttelte er den Kopf. Dann fragte er: »Was ist das Geheimnis des Dolches?«
»Ich … habe keine Ahnung«, antwortete Dott wahrheitsgemäß.
»Stell Ja-Nein-Fragen. Das überfordert ihn nicht, und ich kann besser erkennen, ob er lügt«, riet Tremor.
»Stammt die Waffe aus der Lichtbogenfeste?«
»Ja. Der Meister hat ihn sorgfältig in der Kammer aufbewahrt und bewacht«, sagte Dott.
Der Backenbart jubelte. »Ich sage es ja. Es handelt sich um das Artefakt aus der dortigen Schatzkammer. Gut bewacht vom Zaubermeister Belam«, freute sich Narbenwange.
Tremor nickte zufrieden.
»Du hast das Artefakt selbst ausgewählt. Verrate uns seine Magie.«
Verständnislos sah Dott ihn an.
»Kann der Dolch etwas Besonderes?«, fragte der Glatzkopf gierig.
»Bisher hat er sich wie ein normaler Dolch verhalten.«
»Er sagt die Wahrheit«, bestätigte der Alte.
»In der Satteltasche ist auch nichts«, rief einer der Männer von hinten.
»Was ist mit dem Mantel und den Stiefeln? Können wir die zu Geld machen?«
Dott stockte der Atem.
Der Anführer stöhnte: »Schau dir doch den alten Lumpen an. Niemand gibt auch nur einen Kupferling für den verlausten Lappen. Die Stiefel haben Löcher, und die Sohlen sind durchgetreten.«
Dott machte ein betretenes Gesicht. Dazu musste er sich kaum verstellen.
»Immerhin haben wir das Artefakt.« Der Glatzkopf zog seinen Säbel aus dem Gürtel, seine Lippen zuckten blutgierig. »Genug geredet. Ich bringe ihn jetzt zum Schweigen.« Er holte mit der Rückhand zu einem tödlichen Schlag aus, die krumme Klinge blitzte.
In scharfem Ton entgegnete der Kommandant: »Warte! Einen trantütigen Bettlerburschen abzustechen, macht selbst mir keinen Spaß. Lass dieses Elend leben. Das ist Strafe genug.«
Mit einem Knurren steckte der Glatzkopf den Säbel zurück.
»Dann nehmen wir wenigstens das Pferd mit«, schlug einer der Männer vor.
»Ich sehe kein Pferd. Diese Kreuzung aus Esel, Kaninchen und Wildschein hält uns nur auf. Zudem machen wir uns mit dem Vieh lächerlich. Im Grunde haben wir, was wir wollten – für die magischen Artefakte werden auf dem Blutmarkt viele Goldstücke geboten. Helft Tremor in den Sattel. Dann ziehen wir weiter.«
Die Männer ließen Dott los, nur der Glatzkopf konnte nicht anders und trat den Ziegenhirten zum Abschied noch einmal ordentlich in die Seite. Dann saßen sie auf und ritten die Straße entlang in Richtung Norden.
Dott richtete sich auf und rieb sich die Rippen. Verwundert sah er den Fahnenflüchtigen hinterher. Haserl und er lebten noch! Er griff in seinen grauen Mantel und zog den prallen Beutel mit dem Geld aus der Innentasche. Er besah sich seine Stiefel aus bestem Ziegenleder, die waren erst zwei Winter alt, so sehr er auch suchte, ein Loch konnte er nicht entdecken. Mit der Handfläche strich er über den grauen Umhang, der Stoff war unversehrt, kein Riss, kein loser Faden, nicht einmal ein Fleck.
Bei der Gnade der Lichtgöttin. Was habe ich mir nur für ein schlaues Kleidungsstück ausgesucht.