Der Stab der Hoffnung
Marl erwachte im Stockdunklen mit stechenden Kopfschmerzen und dem Geschmack von Kupfer in seinem Mund. Stöhnend setzte er sich auf und spie aus. Der miese Geschmack verschwand nicht, wurde aber weniger intensiv, nachdem er einen schönen Flatschen geronnenen Blutes von sich gegeben hatte. Instinktiv fuhr er mit der Zunge über seine Zähne, um herauszufinden, ob ihm die Dreckskerle einen davon ausgeschlagen hatten. Zu seiner Freude fand er nur die altbekannten leeren Stellen in seinem Gebiss. Als seine Hände zum Hinterkopf wanderten, entdeckten sie weniger Erbauliches: blutverkrustetes Haar und pochende Pein, wenn man die Stelle, an der er getroffen worden war, berührte. Derjenige, der im Grünen Jäger
hinter ihn geschlichen war, hatte sich nicht mit halben Sachen zufriedengegeben und gewusst, was er tat. Es gehörte ein gewisses Geschick dazu, einen Mann mit nur einem gezielten Schlag umzuhauen und ihn dabei nicht
umzubringen.
Marl spuckte nochmal aus und versuchte sich zu orientieren, was sich als unmöglich erwies. So dunkel wie im Arsch eines Maulwurfs
, geisterte ihm ein alter Spruch seines Vaters im Kopf herum. Marl stöhnte genervt. Diese Blödmänner hatten ihn doch nicht etwa in den Keller des Grünen Jägers
eingesperrt? Grimmige Freude stieg in ihm auf, als er daran dachte, was mit den graugrünen Gesellen passieren würde, falls der Truchsess oder gar einer der Magier das herausfand. Immerhin hatte er einen gewichtigen Auftrag zu erledigen, der derlei Aufschub nicht verzieh. »Lasst mich schon raus! Ich bin wieder nüchtern und die anderen vermutlich auch. Dumm gelaufen, belassen wir es dabei!«, rief er laut in die Dunkelheit hinein. Kühle Luft umspielte ihn. Es zog erbärmlich in diesem elenden Keller und der Boden war feucht. Er wandte sich nach rechts und links und versuchte, die Wände seines Gefängnisses zu ertasten. Dann hörte er den Ruf eines Uhus.
Das ist kein Keller! Die Schweine haben mich in den Wald geschleppt.
Vermutlich saßen sie hinter irgendeinem Baum versteckt und feixten sich einen auf Marls Kosten.
»Jetzt kommt schon! Was sollen die dummen Spielchen?« Zu gern hätte er von seiner geheimen Aufgabe erzählt, aber der Nachteil an geheimen Missionen war eben, dass sie geheim waren. Der alte Zauberer hatte unmissverständlich klargemacht, dass es auch so zu bleiben hatte. Überall wimmelt es nämlich vor Spionen
, äffte Marl im Kopf die Stimme Belams nach. So ein Schwachsinn
, dachte er genervt, traute sich trotzdem nicht, jene Karte auszuspielen. »Haaaallo?«, rief er erneut, diesmal schlich sich Unsicherheit in seine Stimme. Was sollte das Ganze?
Ich bin hier allein
, beantwortete er sich die Frage selbst.
Es war nicht so, dass Marl diese Erkenntnis vor Angst erstarren ließ. Sicherlich, in den Wäldern gab es Wölfe, Narbenkrähen, Grolldrummeln, Fieberspinnen und allerlei ähnlich unangenehmes Getier, aber das schreckte Marl wenig. Er war nicht zum ersten Mal allein in einem Wald. Das Fieber der vermaledeiten Spinnen hatte er schon einmal durchgestanden und wie durch ein Wunder überlebt, ihre Bisse würden ihn nicht schlimmer piesacken als Mückenstiche. Gegen alles andere, was größer als die hässlichen Arachniden war, würde sein Dreschflegel Wunder wirken. Und Wunden. Vor etlichen Jahren hatte er damit einen halben Narbenkrähenschwarm vom Himmel geprügelt, der sich von seinem Auftauchen gestört gefühlt und partout etwas gegen die Plünderung seiner Nester gehabt hatte.
Das Pferd!
Marl schnalzte nach seinem grauen Wallach. Das brave Tier trug seine gesamte Habe und somit auch den feinen Kriegsflegel, den ihm der brave Waffenmeister Horbert extra angefertigt hatte. Außerdem musste er das Pferd schnellstmöglich mit Schlamm oder wildem Bärlauch einreiben, um die tückischen Spinnen von ihm fernzuhalten.
Ihm antwortete nur irgendein Knacken im Unterholz.
Marl versuchte es anders: »Grauer, wo bist du?«, flüsterte er mit vom Saufen heiserer Stimme.
Eine weitere Erkenntnis überkam ihn – es schien eine gute Nacht dafür zu sein: Die lustigen Jagdgesellen hatten ihn nicht nur allein in den Wald geworfen, nein, um der Sache die Krone aufzusetzen, hatten sie ihn allein und
ohne seine Ausrüstung zurückgelassen.
Damit du hier stirbst.
»Halt endlich mal dein Maul«, zischte er die Stimme in seinem Kopf an. Leider hatte sie nicht unrecht. Ohne seinen Lederharnisch, die Dolche und vor allem den Dreschflegel, konnte er sich gegen nichts zu Wehr setzen, das größer war als seine Hand. Davon abgesehen, dass er ohne Pferd noch nicht mal sein Heil in der Flucht suchen konnte. Laufen oder gar rennen war keine Option – seine Hüfte zwickte schon, wenn er nur die Stufen zu den Zimmern eines Bordells hinaufstieg. »Ich hoffe, ich habe wenigstens einen dieser verfluchten Jäger totgeschlagen.«
Ja, so ist es richtig, Schwarzer Marl.
Er blickte zum wolkenverhangenen, mondlosen Himmel hinauf. Von dort war keine Hilfe zu erwarten. Offensichtlich hielt die Lichtgöttin gerade ein Nickerchen oder hatte einfach keine Lust, einem alten Furz wie Marl zu helfen. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, um sich irgendwie zu orientieren. Dabei stolperte er über etwas, das neben ihm lag. Wütend tastete er danach und erspürte den verbrannten Holzstab aus der Schatzkammer der Lichtbogenfeste. Den haben sie mir also gelassen.
Ein freudloses Lachen entschlüpfte seiner Kehle, bevor er es hinunterschlucken konnte.
Marl mochte den Stab – er übte, schon wegen seines Geruchs, eine starke Anziehung auf ihn aus – aber jetzt wäre ihm doch sein Streitflegel lieber gewesen.
Sich an dem gedrechselten Holz aufstützend, kam er wieder auf die Füße. Nur es zu berühren, beruhigte ihn auf eine angenehme Art. Fast so, als wäre er nicht mehr allein.
Ich könnte ihn wie ein Blinder benutzen, um mich zurechtzufinden
, schoss ihm ein irriger Gedanke durch den Kopf. »Das hättet ihr wohl gern, dass ich hier mitten in der Nacht irgendwas aufscheuche«, redete er in die Dunkelheit hinein. »So senil ist der alte Marl …«
Der Schwarze Marl.
»… noch nicht. Ich werde mich einfach auf meinen Hintern setzen und warten, bis es hell wird. Morgen früh finde ich eure verfluchte Kneipe und brenne sie bis auf die Grundmauern nieder. Ihr Jäger glaubt wohl …«
Ein durchdringendes, sich rhythmisch wiederholendes Brummen unterbrach Marls Zwiegespräch mit dem Wald.
Jetzt bekam er doch ein wenig Angst. Es gab in diesen Wäldern nur ein Wesen, das derartig missgelaunte Töne von sich gab: Grolldrummeln. Die felligen, an aufrecht gehende Bärenjunge erinnernden Geschöpfe lebten in großen Familienverbänden zusammen, in denen sie gemeinsam jagten. Sie nutzten dazu primitive Waffen aus Stöcken und Steinen, aber auch ihre spitzen Zähne und Klauen. Die meisten von ihnen waren nicht größer als achtjährige Kinder, dennoch waren sie gefährlich. Auf den ersten Blick hätte man sie als niedlich beschreiben können, aber nur, wenn sie ihren rattenartigen, felllosen Schwanz versteckten, an dessen Ende sich gefährliche Dornen befanden, mit denen sie sich zu verteidigen wussten. Marl war noch niemals einem von ihnen in freier Natur begegnet. Gelegentlich sah man einzelne Exemplare auf Jahrmärkten, wo sie gegen wilde Hunde, Echsenmänner, Bären oder anderes Viehzeug kämpfen mussten. Ausgemergelte, vernarbte Kreaturen, die einen traurig und böse zugleich aus ihren schwarzen Knopfaugen anblickten. Fortwährend gaben sie dabei das tiefe, charakteristische Grollen von sich, dem sie ihren Namen zu verdanken hatten.
Marl wollte sich gar nicht vorstellen, wie stark und gefährlich diese Lebewesen als Horde sein mussten.
Das Brummen wurde beständig lauter.
Sie kommen näher. Zu dir!
Ins Blaue hinein begann Marl, in die Dunkelheit zu laufen.
Er kam nicht weit. Ein nasser Ast schlug ihm ins Gesicht und im nächsten Moment hatte er sich heftig die Nase an der Rinde irgendeines Baumriesen gestoßen. Der Wald war hier so dicht, dass man bei diesen Sichtverhältnissen einfach nicht hindurchfinden konnte. Eine koordinierte und vor allem schnelle Flucht sah anders aus.
Das Grollen wuchs zu einem regelrechten Sturm heran. Es kam inzwischen von allen Seiten. Aufgrund der Dunkelheit musste sich Marl nach wie vor mehr aufs Hören als aufs Sehen verlassen, dadurch bemerkte er die feinen Unterschiede: Die Tonfolge und Tiefe des Grollens änderte sich regelmäßig. Sprechen die Viecher etwa miteinander? Sie teilen bereits die Beute auf – dich.
Marl versuchte weiter von der Lichtung wegzukommen. In der Tat schwang er jetzt den Stab vor sich hin und her, um weitere schmerzhafte Begegnungen mit Bäumen zu vermeiden.
Hätte ich nur Feuerzeugs dabei, dann könnte ich wenigstens etwas sehen und den Biestern vielleicht Angst damit machen.
Ein Zündler ohne Feuer.
Die Stimme in Marls Kopf troff vor boshaftem Spott.
Das Brummen verstummte schlagartig.
Marl erschrak darüber so sehr, dass er sich fast in die Hose gemacht hätte. Er blieb bewegungslos stehen und horchte so angestrengt in die Nacht, dass er Kopfschmerzen davon bekam – noch stärkere als vom Saufen und Raufen.
Irgendwo rechts neben ihm zerbrach mit einem Geräusch so laut wie ein Peitschenknall ein dicker Ast.
Marl zuckte unwillkürlich zusammen. Er nahm den Stab in beide Hände und hielt ihn aufs Geratewohl in die Dunkelheit. »Ich weiß, dass ihr da seid!«, rief er laut aus. Bei einem herumreisenden Händler hatte er einmal gesehen, dass der mit einer Grolldrummel geredet und ihr Anweisungen, ähnlich wie einem Hund, gegeben hatte. Das Vieh war unter der Stimme zusammengezuckt und hatte dienstbereit erledigt, was ihm aufgetragen worden war. »Verschwindet!«
Wieder knackte Holz. Diese Grolldrummeln waren wohl weniger gut dressiert.
Sie schleichen sich an dich heran, um dir den Schädel endgültig einzuschlagen und dich dann auf einen Bratspieß zu stecken.
»Ich warne euch! Jeder, der mir zu nah kommt, kriegt mein Schwert zwischen die felligen Rippen.«
Das Grollen schwoll wieder an. Erst ganz leise, dann wurde es immer heftiger.
Sie setzen zum Todesstoß an.
Marl spürte, wie ihm Schweiß den Rücken hinunterlief. Der Kiefer tat ihm weh, weil er vor Anspannung immerfort damit wie mit Mühlsteinen mahlte. Langsam drehte er sich im Kreis, den Stab schlagbereit vor sich.
Das Grollen steigerte sich zu einem einzigen, langanhaltenden Brummton.
Ist das mein Ende? Der Schwarze Marl im Kochtopf von irgendwelchen Primitivlingen? Ich wette, dass diese Strolche Feuer machen können.
In seiner Erregung strich er über den Stab. Dessen Duft nach verbranntem Holz wirkte irgendwie tröstlich. Tut mir leid, ich hatte wirklich gedacht, dass wir beide länger zusammen reisen werden.
Das Rascheln vieler kleine Füße war zu vernehmen, als die Grolldrummelhorde auf Marl zu rannte.
Der strich erneut über den Stab und hätte ihn fast losgelassen, als dabei Funken aufstoben. Marl begann schneller zu reiben und aus den Funken wurden kleine Flammen, deren wunderschönes, gelbes Licht sich auf seiner Netzhaut einbrannte. Er machte mit der merkwürdig befriedigenden Handbewegung weiter, bis aus der Spitze des Stocks eine kapitale Flamme schlug. Triumphierend schwenkte er ihn im Kreis herum und blickte in die verblüfften Fellgesichter dutzender Grolldrummeln. »Ist es das, was ihr wollt?«, rief er mit einem Lachen aus.
Die wilden Geschöpfe erstarrten in ihrer Bewegung und taten dann etwas, das fast dazu geführt hätte, dass Marl sich einnässte: Sie verbeugten sich vor ihm und dem brennenden Stab.