Räuberherzen
Der Pfad musste sehr schmal sein, denn weiterhin trug Rupert Fehris selbst, anstatt sie einfach gefesselt quer über ihr Pferd zu werfen. Dazu hatte er einen Sack über ihren Kopf gezogen, was sie gleichzeitig wahnsinnig machte und beruhigte. Denn obgleich das verfluchte Ding ihre Frisur durcheinanderbrachte und ihr das Atmen erschwerte, bedeutete es doch auch, dass man nicht zwangsläufig vorhatte, sie umzubringen. Sie kannte das noch von früher: Wer den Weg zum Räuberlager einmal gesehen hatte, wurde entweder ein Mitglied der Bande oder einen Kopf kürzer gemacht. Ganz offensichtlich hatten die Grauen Wölfe , oder vielmehr die Schwarzen Federn , wie sie sich jetzt nannten, seit damals ein neues Lager aufgeschlagen und wollten vermeiden, dass sie dieses an den Stadtbüttel von Kandoria verriet. Um sie zusätzlich zu verwirren, ging Rupert spürbar im Kreis. Irgendwann verlor Fehris gänzlich die Orientierung. Sie schienen sich jetzt sehr tief im Dickicht des Nebelhains zu befinden, denn in seinem Unterholz sang kein Vogel mehr und kein Eichhörnchen raschelte im Geäst der Tannen. Nur noch das Knacken der Zweige unter Zickes Hufen sowie das gelegentliche Räuspern eines Räubers waren zu hören. Kaum ein Mensch verirrte sich je hierher, und wenn doch, verlief er sich meist in den plötzlich auftauchenden Nebelbänken und hauchte sein Leben in einem Sumpfloch aus.
Als schließlich ein krächzender Schrei laut wurde, der eindeutig nicht aus dem Schnabel einer Krähe kam, wusste Fehris, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Hastige Schritte näherten sich. Durch den groben Webstoff des Sacks hindurch sah sie die Schemen zweier dunkler Silhouetten auf sich zukommen. Die Räuber tauschten ein paar Willkommensworte aus und jemand hieb ihr mit der flachen Hand auf den Hintern, was für Gelächter bei den anderen sorgte.
»Pass auf, dass Philipp dich nicht dabei erwischt, sonst hackt er dir die Hände ab und verfüttert sie an eine Grolldrummel«, sagte Rupert warnend.
»Wieso? Wer steckt denn unter dem Kartoffelsack? Warte, doch nicht etwa …?«
»Genau die!«
Der andere pfiff durch die Zähne. Ringsum wurde geraunt und getuschelt, aber keiner traute sich mehr, Fehris anzufassen.
Ein weiteres gutes Zeichen, zumindest scheint allseits bekannt zu sein, dass Philipp noch etwas an mir liegt – oder er will sich persönlich an mir rächen.
Rupert trug sie durch dichtes Geäst, dessen Dornen ihr schmerzhafte Risse zufügten. Dann drang Kinderlachen an ihre Ohren und der Duft von Eintopf an ihre Nase. Zahlreiche Schritte näherten sich, manche trippelnd, andere stampfend. Durch den Sack fühlte Fehris die Blicke zahlreicher Augen auf sich. Irgendwann blieb der Muskelberg unter ihr stehen und hangelte nach etwas. Dann stieß er einen leisen Pfiff aus, woraufhin der Boden unter ihren Füßen zu wackeln begann. Fehris zuckte zusammen, als sie gewahr wurde, dass sie in der Luft schwebten. Die anderen Räuber schienen zurückgeblieben zu sein.
»Hör auf zu zappeln, dummes Weib, sonst fallen wir beide runter!«, herrschte Rupert sie an.
Sie zwang sich stillzuhalten, obgleich das nicht einfach war, wenn man kaum etwas sehen konnte und jemandem über der Schulter hing wie ein Sack Mehl. Glücklicherweise hielt der Zustand nicht lange an. Wenige Herzschläge später ging ein Ruck durch ihren Körper und Rupert vollführte einen pendelnden Schritt nach vorn.
»Da wären wir.« Eine Tür schwang auf und Dunkelheit schlug über sie herein. »Willkommen im Krähennest, Fehris Fersengeld
Unsanft wurde sie abgesetzt. Mit gezielten Messerschnitten entfernte Rupert sowohl ihre Handfesseln als auch den Beutel von ihrem Gürtel. Erst dann zog er ihr den Sack vom Kopf.
Fehris’ Augen brauchten eine Weile, um sich an das Zwielicht in dem Raum zu gewöhnen, denn es gab keine Fenster, nur jeweils eine Schießscharte auf jeder Seite. Obwohl sie genau wusste, wer da an der hinteren Wand auf einem Holzstuhl saß wie ein König auf seinem Thron, kostete es sie einige Überwindung, ihren Blick dorthin zu richten.
»Sieh mal einer an!«, sagte Philipp ohne erkennbare Regung in seiner Stimme. Auch den Ausdruck in seinem Gesicht konnte sie nicht deuten, denn der Schatten, der durch die winzigen Öffnungen in der Wand entstand, fiel direkt über seine Augen. Zumindest verzichtete er darauf, zur Begrüßung sein Messer an ihrer Kehle zu wetzen. Um ihn herum waren jede Menge Kisten und Truhen verteilt, bei denen es sich vermutlich um das Raubgut der letzten Monate handelte. Nur im hinteren Bereich gab es eine kleine abgetrennte Nische, in der sich wohl sein Schlaflager befand.
»Spitze Zähne, scharfe Krallen«, begrüßte sie ihn – so, wie es bei den Grauen Wölfen üblich gewesen war.
»Falsch«, sagte Philipp. »Wir haben ein neues Losungswort, das nur unsereins kennt – nur diejenigen, die ein Teil der Bande sind. Feinde und Deserteure rechnen wir nicht dazu.«
Er stand auf und kam zwei Schritte näher, wobei der Schatten von seinem Gesicht verschwand und Fehris seine Augen sehen konnte. Es waren dieselben tiefdunklen Augen, in die sie früher versunken war, dieselben Lippen, die sanfte Worte in ihr Ohr geflüstert hatten.
»Hübsche Frisur. Tragen alle Verräterinnen das jetzt so?« Abschätzig streifte sie sein Blick, ehe er sich an Rupert wandte. »Wo hast du sie gefunden?«
»In einem Dickicht auf der anderen Wegseite. Wollte wohl um uns herumreiten, aber dabei hat ihr Gaul zu viel Lärm gemacht.«
Unauffällig versuchte Fehris, ihr verstrubbeltes Haar mit den Fingern in Form zu kämmen, doch einzelne Strähnen stellten sich immer wieder auf. Die schwarze Feder hing ihr ins Gesicht. Dieser vermaledeite Kartoffelsack!
»Das hier hatte sie dabei«, sagte Rupert und hielt seinem Hauptmann ihr Schwert und den abgeschnittenen Beutel entgegen.
Ohne großes Interesse befahl dieser, die Beute auf eine der Truhen zu legen, dann schickte er den Räuber weg. Die Tür war kaum hinter Rupert ins Schloss gefallen, da änderte sich der Ausdruck in Philipps Miene von Grund auf. Hatte er bislang vorgegeben, über den Dingen zu stehen, so entglitt ihm nun jegliche Fassung. »Hast du gedacht, du könntest einfach zwischen unseren Linien durchschleichen? Glaubst du, du wärest sicher vor uns?« Er polterte auf sie zu und baute sich in seiner ganzen – durchaus beeindruckenden – Größe vor ihr auf.
Fehris roch den vertrauten Duft von Leder und Tannennadeln, der von ihm ausging, sah das winzige Muttermal unter seinem linken Ohr, den stets gepflegten Bart, von dem sie wusste, dass er weich war und niemals kratzte. Unerwartet heftig schlugen die hell glühenden Blitze aus seinen Augen direkt in ihr Herz. »Nein, ich …«, stammelte sie.
»Wo ist es?«, zischte Philipp.
»Wo ist was?«
»Das Kind
Fehris schluckte. Sie war machtlos gegen die Schwäche, die bei diesen Worten in ihre Muskeln kroch. Er wusste es also! Genau deshalb hatte sie das Räuberlager unbedingt umgehen wollen. Ihre Knie fingen sichtbar zu zittern an.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, gab sie zurück und glaubte sich selbst nicht.
»Lüg mich nicht an!« Philipps dichte Augenbrauen verzogen sich zu einem durchgehenden Strich. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und für einen kurzen Moment glaubte Fehris, er würde sie schlagen.
Stattdessen fuhr er herum und hastete bis zur gegenüberliegenden Schießscharte, wo er schwer atmend stehen blieb, den Blick hinaus auf den Nebelhain gewandt. Es dauerte lange, bis er sich wieder im Griff hatte, um weiterzusprechen. »Als du zu uns gekommen bist, heftete dir der Name Stinkfuß an. Ich aber nenne dich einen Hasenfuß , denn du bist der größte Feigling, der mir je in meinem Leben untergekommen ist. An dem Tag, als du davongerannt bist, habe ich nicht nur dich verloren, sondern auch unser ungeborenes Kind. Du warst schwanger – das weiß ich genau!«
Seine Worte schmerzten mehr, als jede Ohrfeige es getan hätte. Sie wollte Nein sagen, ihn fragen, wie er das gemerkt hatte, alles abstreiten. Doch dann sah sie die Bitte in seinem Blick und beschloss, ehrlich zu ihm zu sein, nur ein einziges Mal. Egal wie sehr ihr Geständnis ihn quälen würde.
»Es liegt in einem kalten Grab in Kandoria.«
Sein bärtiges Kinn bebte. »Hast du es …«
»Nein!«, unterbrach sie ihn schnell. »Es geschah von selbst. Die Prügel der Stadtwache, der Hunger, die kalten Ecken, in denen ich schlief. Zu viel Schlechtes, zu wenig Gutes. Es starb in meinem Bauch.«
»All das hätte nicht passieren müssen, wärst du weniger feige gewesen.«
Sie nickte. Salzige Trauer brannte in ihren Augen, denn die längst verdrängten Bilder jener Tage wehten nun wieder durch ihren Kopf. Eine Brücke über einem fast zugefrorenen Bach. Rumpelnde Karren, die darüber hinwegfuhren. Weißer Schnee, getränkt von ihrem Blut. Dazu die pulsierenden Schmerzen im Unterleib. Keine Hilfe, kein Entkommen, nur dieser eine Wunsch, der aus jeder Pore ihres eiskalten, krampfenden Körpers schrie: Halte mich! Nie zuvor hätte sie Philipp mehr gebraucht als in diesen Stunden, doch er war weit weg im Nebelhain gewesen, unwissend, welche Qualen sie durchlitt – weil sie es selbst so gewollt hatte. Es waren Stunden der Reue gewesen, aber sie waren vorbeigegangen. Die Zeit war ein talentierter Schmied, der es vermochte, stählerne Panzer um ein zerfetztes Herz zu legen.
»Habe ich einen Sohn oder eine Tochter verloren?«, fragte Philipp, den Blick zur Schießscharte hinaus gewandt.
»Einen Sohn.«
Er schwieg. Durch das Dunkel seiner Behausung konnte Fehris sehen, wie er eine Hand an sein Gesicht legte und sich über die Augen fuhr. Doch als er sich zu ihr umdrehte, standen keine Tränen auf seinen Wangen und seine Miene war ebenso ausdruckslos wie ihre eigene. »Rupert!«, rief er, befehlsgewohnt wie immer.
Augenblicklich flog die Tür auf und der Räuber stürmte herein.
»Schaff mir dieses Weib aus den Augen. Am besten kettest du sie im Schweinepferch an! Da kommt sie her und dahin gehört sie zurück!«
»Aber wir … wir haben keine Schweine, Hauptmann!«
Philipp seufzte. »Ja, leider. Dann wird sie wohl mit dem Loch vorliebnehmen müssen. Auch dort sollte sie sich ganz wie daheim fühlen.« Er drehte sich um und ging langsam zurück zu dem Stuhl, auf dem er anfangs gesessen hatte. Er ließ sich nieder, seine Bewegungen sprachen es aus: Ein einsamer Thron für einen einsamen Räuberhauptmann.
Ohne jegliche Gegenwehr ließ Fehris sich von Rupert fortziehen. Draußen gab es eine Art Balkon mit einem Geländer, das nur an einer Stelle unterbrochen war. Wie Fehris bereits vermutet hatte, befand sich das »Krähennest« in der Krone einer mächtigen Eiche. Ein Aufzug, bestehend aus einem dicken Tau mit einer Holzplattform an einem Ende und einem Sandsack am anderen, brachte Philipp und seine Besucher hinauf und hinunter. Auch die Bäume daneben wiesen ähnliche Behausungen auf, die durch Hängebrücken miteinander verbunden waren. Eines musste Fehris ihrem früheren Geliebten lassen: Er war während ihrer Abwesenheit nicht untätig gewesen!
»Wieso dieser ganze Aufwand?«, fragte sie Rupert. »Es muss viel Arbeit gewesen sein, all das Bauholz auf die Bäume zu schaffen.«
»Das kannst du laut sagen. Aber es war nötig, denn die Schergen König Joradins dringen immer tiefer in den Wald vor«, erzählte Rupert so redselig, als hätte er vorübergehend vergessen, dass die alten Zeiten vorbei waren. »Sollten sie auch dieses Lager stürmen, so wie unser letztes, dann müssen sie erst mal die Bäume hoch, um an uns ranzukommen. In der Zwischenzeit haben wir sie längst mit Pech übergossen oder abgeschossen.«
»Und wenn sie mit Brandpfeilen angreifen?«
Rupert hob einen Zeigefinger in die Höhe. »Für diesen Fall gibt es Wasserfässer in jedem Baumhaus. Außerdem ist es schwer, durch all die Äste hindurch zu treffen.«
»Ist Orwar so gestorben? Bei einem Angriff auf euer letztes Lager?«
Der Räuber zog Rotz hoch und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. »Nicht ganz. Die verfluchten Königsjäger haben ihn gefangen genommen und in eine Grube voller hungriger Wölfe geworfen. Sie haben sich daran ergötzt, wie die Viecher ihn zerrissen haben!« Er spuckte neben sich zu Boden.
Fehris verstand. »Deshalb der neue Name für die Bande.«
»Ganz recht«, brummte Rupert. »Mit Wölfen wollen wir nichts mehr zu tun haben.«
Erst jetzt schien er sich daran zu erinnern, dass sie keineswegs zu einem Würfelspiel unterwegs waren, sondern zu einer Einkerkerung. Entsprechend hart packte er Fehris am Arm, fischte nach dem Aufzug und gebot ihr, auf die Holzplattform zu steigen. Sie hatte kaum einen Fuß daraufgesetzt, da stieg er ebenfalls auf und das Konstrukt sank zügig aber kontrolliert zu Boden. Fehris fühlte sich wie ein Schmetterling, der sanft zur Erde hinabglitt. Ein kleines Bruchstück ihres gepanzerten Herzens wünschte sich, es wäre nicht Rupert, sondern Philipp, der sie dabei umschlungen hielt.
Unten angekommen hievte der Räuber einen Stein auf die Plattform, der durch ein weiteres Seil mit dem Krähennest verbunden war, damit Philipp ihn von dort oben zur Seite ziehen konnte.
»Seltsames System«, ließ Fehris verlauten.
»Durchaus verbesserungswürdig, ja«, gab Rupert zu. »Aber falls etwas schief geht, haben wir immer noch Strickleitern.«
Auch unterhalb der Baumkronen herrschte reges Treiben im Lager. Männer übten sich im Schwertkampf, Frauen rührten im Inhalt ihrer Suppenkessel, Kinder spielten hinter dichtem Gestrüpp Versteck. Bei deren Anblick wurde Fehris’ Kehle eng. Doch sie musste nur einmal zu den kochenden, wäschewaschenden, ständig schwangeren Müttern hinübersehen, um diesen Anflug von Sentimentalität in die Schranken zu weisen.
Rupert brachte sie ein Stück vom Lager weg, wo abseits des geschäftigen Trubels ein Loch in den lehmigen Boden gegraben war. Es war so tief, dass zwei Männer darin aufeinander stehen könnten, ohne an das Holzgitter heranzukommen, welches lediglich zum Schutz vor dem zufälligen Hineinfallen darüber lag. Denn von unten hinaufklettern konnte man ohnehin nicht. Die Regengüsse der vergangenen Wochen hatten die Grube teilweise mit Wasser gefüllt. Knöcheltief, wie Fehris feststellte, nachdem Rupert sie an den Armen hinabgelassen hatte.
»Ist nicht gerade unser feinstes Gemach. Aber du kannst ja im Stehen schlafen wie ein Gaul«, rief er ihr zu, bevor er lachend davonging.
Verflucht! Ihre Waffen, vor allem die wertvollen Sterne, und ihr Geld waren weg, sie saß in einem schlammigen Loch fest und das Schlimmste war: Ihre Zeit lief ab, wie sie eindeutig beim Blick auf ihren Unterarm sehen konnte. Denn mit jeder Stunde, die verging, arbeiteten sich die beiden schwarzen Linien weiter vor. Fehris untersuchte die Erdwände nach festen Steinen oder Wurzelwerk, an dem man sich hätte emporziehen können, fand aber lediglich die Rutschspuren ihrer Vorgänger, die an demselben Unterfangen offensichtlich gescheitert waren. Derart nutzlos vergingen die Stunden.
Selbst der Ziegenhirte und der alte Stinker werden weiter gekommen sein als ich! Bestimmt sind sie schon kurz vor ihrem Ziel.
Was würde wohl geschehen, wenn die beiden ihre Kinder fanden, Fehris aber in einem Räuberloch im Nebelhain verrottete? Würde die Welt dann untergehen? Würde der Schattenstaub sich ganz Meribor einverleiben? Und das alles nur, weil das Schicksal einfach kein Kind an der Seite von Fehris Büdner duldete. Sie blickte an sich herab und starrte auf ihre schmutzigen Hände. Nicht dafür geschaffen, ein kleines Menschlein zu wiegen, nur zum Kämpfen taugten sie, genau wie der Rest von ihr: Hüften – nur um damit zu wackeln. Brüste – nur um gegnerische Blicke abzulenken. Die Aufgabe, die Belam ihr gestellt hatte, war jetzt schon zum Scheitern verurteilt und schlug außerdem mit aller Gewalt auf den Panzer ein, den das Leben für sie geschmiedet hatte.
Schlaf fand sie keinen, denn entgegen Ruperts Behauptung war sie eben doch kein Pferd, das im Stehen schlafen konnte – noch dazu mit beiden Füßen im Wasser. Mittlerweile fühlte es sich an, als würden ihr bereits Schwimmhäute wachsen. Außerdem bibberte sie vor Kälte und Entkräftung. Niemand hatte ihr etwas zu essen oder zu trinken gebracht und so wurde ihr Durst schließlich derart drängend, dass sie wahrhaftig darüber nachdachte, das schlammige Regenwasser zu trinken.
Die Hälfte der Nacht musste längst vergangen sein, als sie leise Schritte hörte. Sie kamen näher, verharrten vor dem Loch, und schließlich flog etwas Kleines, Dunkles durch das Gitter. Fehris wich aus, woraufhin das Ding klatschend im Wasser landete. Nichts geschah.
»Es ist ein Beutel mit Wasser«, hörte sie Philipps Stimme über sich.
Erleichterung senkte sich über sie. Mit beiden Händen wühlte sie im Schlamm und zog den Lederbeutel hervor. Ihre Finger zitterten, während sie ihn entkorkte und vorsichtshalber am Inhalt roch. Kein verdächtiger Geruch, warum sollte er sie auch mitten in der Nacht in diesem Loch vergiften? Gierig trank sie ihn fast komplett aus. Einen letzten Rest hob sie auf, falls dieses unverhoffte Geschenk das Einzige seiner Art gewesen war.
»Danke!«, rief sie nach oben.
Philipp antwortete nichts, aber ihr war, als setze er sich vor die Grube ins Gras.
»Hast du ihm einen Namen gegeben, bevor du ihn ins Grab gelegt hast?«, fragte er schließlich.
»Nein«, flüsterte Fehris. Dann, als das Schweigen schmerzhaft wurde, fügte sie hinzu: »Wie hättest du ihn genannt?«
»Ich hätte einen Namen gewählt, der mit dem Anfangsbuchstaben meiner Mutter beginnt, so wie es bei uns Räubern üblich ist.«
»Deine Mutter hieß … Gretlin, nicht wahr?« Fehris hatte diese Frau nicht gekannt, denn sie war vor langer Zeit gestorben – im Kindbett natürlich.
»Gordyn«, sagte Philipp. »So hätte mein Sohn geheißen.«
Der Trinkbeutel fiel aus Fehris’ Hand und landete erneut klatschend im Wasser. Zitternd krallten ihre Hände sich in die Lehmwand, um aufrecht stehen zu bleiben.
»Was … was hast du gesagt?«, stammelte sie.
»Gordyn. Der Name gefällt mir.«
Welche unheimlichen Mächte waren hier am Werk? Es war gerade mal zwei Tage her, dass ein mächtiger Magier eine Karte in Fehris’ Kopf gezaubert hatte. Darauf hatte sie ihr Ziel genau erkannt. In einem Turm, hoch im Norden, umgeben von einer tödlichen Eiswüste, saß ein Kind und wartete auf sie. Sie wusste genau, wie es aussah, kannte die Farbe seiner Augen und den Klang seiner Stimme. Es war ein kleiner Junge. Und er hieß Gordyn !
»Ich muss … hier raus!«, krächzte sie.
Von oben ertönte ein missfälliges Lachen. »Du bleibst, wo du bist.«
»Willst du mich in diesem Loch sterben lassen? Umbringen? An Sklavenhändler verkaufen?«
Er erwiderte nichts darauf, was Fehris klarmachte, dass er das selbst noch nicht so genau wusste.
»Hör mir zu, Philipp! Ich habe einen wichtigen Auftrag und dazu muss ich unbedingt in den Norden. Wenn ich versage, werde nicht nur ich selbst sterben, sondern noch viele andere, auch du und deine Räuber! Ich muss verhindern, dass der Schattenstaub uns alle verschlingt.« Sie hoffte inständig, dass sie damit nicht schon zu viel von ihrer Mission verraten hatte.
Nun lachte er wirklich. »Du willst den Schattenstaub aufhalten? Wie ist Fehris Hasenfuß denn über Nacht so mutig geworden?«
»Ich darf es dir nicht sagen.«
»Was für eine erbärmliche Feigheit. Und was für eine Lüge!«
»Es ist keine Lüge!« Ein Jammern drang aus ihrer Kehle. »Bitte, Philipp, bitte lass mich gehen! Ich gebe dir all mein Hab und Gut dafür.«
Nie zuvor hatte sie ihn angefleht. Niemals. Das wusste der Räuberhauptmann und deshalb zögerte er. Aber nur kurz. »Dein Hab und Gut gehört mir längst. Auch wenn ich nicht verstehe, was es mit diesen Sternchen auf sich hat.«
Sie hörte etwas klimpern. Also hatte er die Artefakte dabei und war offenbar nur gekommen, um zu erfahren, wie man sie benutzte. Das versetzte ihrem Herzen einen Stich. Ein kleiner Teil von ihr hatte gehofft, er wäre hier, um ihr nahe zu sein. Fehris fand es äußerst seltsam, dass er das Geheimnis der Sterne nicht allein herausgefunden hatte, so wie sie selbst vor wenigen Stunden.
»Ich gebe dir einen davon, wenn du mich frei lässt!«
»Vergiss es!«
»Philipp!« Sie schluckte hart. »Ich muss gehen. Wegen Gordyn! Mehr als das darf ich dir nicht sagen. Aber es gibt … noch eine Chance für ihn.«
All ihr Flehen, all die Argumente, die sie zuvor gebracht hatte, waren einfach verpufft. Kein herrschaftlicher Auftrag, keine Bedrohung durch den Schattenstaub war stark genug gewesen, um Philipps Meinung zu ändern. Aber diese wenigen Worte bewegten etwas in ihm, das konnte Fehris spüren, ohne sein Gesicht zu sehen. Sie horchte vergeblich – kein Atmen, kein Rascheln der Kleidung, nur Stille.
Mit brüchiger Stimme wie der eines Schwerverletzten sagte Philipp: »Was bist du nur für eine Hexe.« Kurz darauf wurde das Gitter zur Seite gehievt und ein dünnes Seil schlängelte sich die Lehmwand hinab.
Weder Mondlicht noch Nebelschwaden stahlen sich durch die dunklen Tannenwipfel. Es herrschte absolute Stille, während sie schweigend nebeneinander durch den Wald zu den Pferden gingen. Den ganzen Weg über starrte Fehris auf ihre klatschnassen Schuhe, obgleich tausend ungesagte Worte auf ihren Lippen lagen. Philipp band Zicke von dem Balken los, an dem sie zusammen mit fünf anderen Stuten festgemacht worden war, und drückte Fehris wortlos die Zügel in die Hand. Wie gewohnt legte die Stute beim Anblick ihrer Besitzerin die Ohren an, doch keiner von ihnen reagierte darauf.
»Danke. Auch für das Pferd«, sagte Fehris.
»Deine wiedergewonnene Freiheit ist sinnlos, wenn du wenig später von anderen Räubern oder Nebelwaldkreaturen überfallen wirst.« Damit zog er ihr Schwert hervor und steckte es in die Scheide am Sattel. »Geld brauchst du allerdings nicht. Pflück dir Beeren oder raube ein paar Vogelnester aus. Die dreißig Silberlinge sind dein Zoll durch unseren Wald.«
»Ist gut«, beeilte Fehris sich zu sagen. Noch vor einer Stunde hatte sie geglaubt, langsam in einem dreckigen Loch verfaulen zu müssen. Was waren da dreißig Silberlinge?
Philipp kam einen Schritt näher und legte eine Hand auf den Mähnenkamm der Stute. Beiläufig begann er sie zu kraulen, woraufhin das verräterische Mistvieh selig die Augen verdrehte und die Unterlippe hängen ließ. »Und nun zu deinen Wurfsternen. Was hat es damit auf sich?«, wollte er wissen. »Ich habe alle drei ausprobiert, aber sie sind von jedem Hindernis abgeprallt und zu Boden gefallen.«
Fehris war nicht sonderlich überrascht. Diese Artefakte schienen einzig für die Person zu arbeiten, die sie erwählt hatte. Oder andersherum: Vielleicht erwählten die Artefakte sogar ihren Menschen. »Es sind mächtige Waffen, doch sie sind nur für meine Hand bestimmt«, sagte sie.
Philipp zog die Augenbrauen hoch, als könnte er nicht ganz glauben, dass gerade ihr eine solche Ehre zuteil geworden sein sollte. »Und dennoch wirst du mir eines deiner Sternchen aushändigen, so wie du es versprochen hast.«
»Aber sie haben keinen Wert für dich!«, begehrte Fehris auf.
»Ich bin ein Räuber. Es muss wehtun, mir über den Weg zu laufen.«
»Der Schattenstaub über dich!«, fluchte Fehris.
Philipp grinste, doch sie kannte ihn. Auf diese Weise bekämpfte er den erneuten Abschiedsschmerz – sie konnte ihm unmöglich böse sein. Im Gegenteil, Fehris widerstand dem Reflex, ihre Stirn an seine zu legen und mit beiden Händen seine Wangen zu umfassen. Stattdessen gab sie ihm die Zügel der zickigen Stute zurück. »Hier hast du eines meiner Sternchen, Räuberhauptmann. Und dieses wird in deinen Händen sogar besser funktionieren als in meinen.«
Gegen bare Münze
Der Weg führte Dott weiter nach Nordwesten, in Richtung Zwerggebirge. Nicht viele Menschen reisten in diesen Zeiten freiwillig, nicht einmal auf den großen Handelsrouten. Weniger als ein halbes Dutzend Karren kamen ihm entgegen, irgendwelche Kaufleute auf dem Weg nach Kandoria. Er nickte ihnen freundlich zu, sie ignorierten es oder grummelten zurück, ohne ihn anzublicken. Selbst ihre Zugtiere machten mürrische Gesichter. Seit geraumer Zeit befand er sich allein auf der Straße. Während Haserl schlurfte, konnte Dott prima nachdenken. Zunächst einmal über die Begegnung mit den Deserteuren. Der Mantel hatte die Kerle allesamt getäuscht. Diesem musste mächtige Geistmagie innewohnen, jedenfalls hatten die Fahnenflüchtigen ein heruntergekommenes Kerlchen mit einem verlausten, zerrissenen Umhang gesehen. Und wie hatte das Innere seines Umhanges den Geldbeutel verborgen? Dott machte sich klar, wie anfällig der menschliche Geist für derlei Manipulationen war. Selbst ohne großartige Zauberei sahen die Leute oftmals, was sie sehen wollten. Die Kraft der Einbildung! Mit einem Kloß im Hals dachte Dott an das Erlebnis in Belams Gemach zurück, als er lebensecht Clarissa in den Armen eines anderen ertragen musste. Der Ziegenhirte nahm sich für die Zukunft fest vor, jede seltsame Sinneswahrnehmung zunächst kritisch zu prüfen, ob nicht irgendeine wie auch immer geartete Manipulation seines Kopfes vonstattenging. Zumindest kam es auf den Versuch an, sich dagegen zu wehren.
Der Weg schlängelte sich bergauf und Dott folgte dem Pass durch das Zwerggebirge. Warum der Höhenzug diesen Namen trug, wusste er nicht – Zwerge gab es hier jedenfalls nicht oder sie waren so klein, dass man sie nicht sehen konnte. Ach was, korrigierte sich Dott. Zwerge gab es überhaupt nicht, genauso wenig wie Riesen. Das glich sich aus.
Das Schlurftempo strengte Haserl kaum an, nahezu unermüdlich trug sie ihn den Berg hinauf. Dott spürte ihre Kraft und Wärme unter sich. Obwohl sie noch nicht lange zusammen unterwegs waren, liebte Dott dieses Pferd. Nicht so wie Clarissa natürlich, doch ebenso von ganzem Herzen. Er streichelte ihre Mähne.
Zum zweiten Mal auf seiner Reise neigte sich ein Tag dem Ende zu, der Sonnenball gewann an Rot. Wenig später erreichte Dott eine Hochebene, auf der nur noch ein paar Grasbüschel wuchsen. Während Haserl sich diese einverleibte, sah sich der Ziegenhirte um. Mit großen Augen blickte er weit nach Westen, eine unfassbare Aussicht. Der Horizont bestand aus einem sanft gebogenen, blauen Streifen und tatsächlich sah es so aus, als versinke die Sonne im endlosen Wasser. Genauso, wie Dott es in Geschichten von Abenteurern oder Spielmännern abends am Lagerfeuer gehört hatte. Vielleicht ging die Sonne jeden Abend baden, um dann am nächsten Morgen sauber und frisch wieder für Licht und Wärme zu sorgen. Er setzte sich auf einen kniehohen Stein und ließ Blick und Gedanken schweifen.
Sehen konnte er sie nicht, doch von der Karte in seinem Kopf wusste er, dass unweit von hier der Goriam einer unterirdischen Quelle entsprang. Im Südwesten schlängelte sich der Fluss wie ein blaues Band durch das Land; schnell gewann er an Breite, um kraftvoll quer durch den Kontinent zu fließen und letztlich ins Ostmeer zu münden. Schon immer galt er als wichtiger Lebensquell für die Bevölkerung des Reiches, doch in diesen Zeiten war seine Bedeutung unermesslich. Seit der Invasion des Schattenstaubs diente er in seiner ganzen Länge als letzte Bastion, die den Rest des Kontinents vor den Gräueln des grauen Todes schützte. Leider floss der Goriam aufgrund seines geringen Gefälles recht gemächlich, sodass er im Winter regelmäßig einfror. Und das würde diesmal das Ende bedeuten.
Als es dunkler wurde, entdeckte Dott von seinem Aussichtspunkt im Westen einen hellen Streifen wie ein permanentes Wetterleuchten. Er rief sich die Karte in Erinnerung: Es handelte sich um die kritische Zone zwischen Küste und Gebirgszug – dort, wo es keinen schützenden Fluss gab und ein schmaler Streifen Land zwischen Fluss und Meer verblieb. Der Schattenstaub drohte durch diese Enge nach Norden zu kriechen, um sein zerstörerisches Werk fortzusetzen. Daher hatten die Magier des Königs ein mächtiges Leuchtfeuer geschaffen, das den Vormarsch der Finsternis verhinderte. Noch hielt der Wall aus fließendem Wasser und gleißendem Licht.
In seinem Proviantbeutel befand sich ein letztes Stück Hartbrot, das inzwischen sogar noch härter geworden war, sodass Dott es Biss für Biss mit Geduld und Spucke aufweichen musste. Haserl stellte sich neben ihn und nestelte mit ihrem weichen Maul an seinem Mantel herum. Leider konnte das magische Kleidungsstück keine Leckerbissen für Pferde herbeizaubern. An so etwas Wichtiges dachten die egoistischen Zauberer natürlich nicht. Vor seiner Abreise hatte sich Dott aus der Burgküche einen Apfel besorgt, den er sich nun gerecht mit seinem Pferd teilte. Auch das letzte Stück Brot bot er Haserl mit flacher Hand an. Am Rand der Hochebene schlug Dott sein Nachtlager auf.
Am nächsten Morgen erreichte er den höchsten Punkt des Zwerggebirges, von wo aus er in der Ferne im Norden die Ausläufer des Roten Forstes erblickte – dort lag die Jagdhütte. Er folgte dem sich in vielen Windungen bergab schlängelnden Weg. Was wusste Dott über diesen Wald? So viel wie über die meisten andere Dinge: nichts. Er kannte nur die Geschichten über die düsteren Wälder Meribors mit ihren noch düstereren, noch gefährlicheren Wesen, wie die räuberischen Fellkrieger namens Grolldrummeln. Es hieß, sie würden in Horden jagen und am liebsten Ziegen fressen. Das hatte zumindest sein Bauer stets behauptet, damit er gut auf die Tiere aufpasste.
Wie auch immer, nun würde er sich selbst ein Bild von diesem Roten Forst machen.
Was wusste er über das Kind, das er holen sollte? Fast nichts. Ein kleines Mädchen namens Beryll, gerade mal sieben Jahre alt. Was für ein Leben es wohl führte? Und wie würden die Zieheltern reagieren, wenn er plötzlich auftauchte, um die Kleine aus ihrem trauten Zuhause zu reißen? Es musste einen guten Grund geben, warum sie Beryll nicht nach Kandoria zurückgebracht hatten. Das Gleiche galt auch für die beiden Geschwisterkinder, zu denen Fehris und Marl unterwegs waren.
Dott runzelte die Stirn. Nicht, dass dies noch zu einer Angewohnheit wurde.
Haserl schaffte es mühelos, bergab genauso langsam zu schlurfen wie bergauf. Vermutlich würde sie im freien Fall noch schlurfen. Dott fiel auf, dass er auf seinem Pferd noch nie galoppiert war. Ob sie das überhaupt konnte? Hier würde er es jedenfalls nicht ausprobieren, der steinige Weg hinunter war viel zu gefährlich, allzu schnell könnte sie sich eine Fessel brechen – und das würde Dott sich niemals verzeihen. Also machte er es sich auf ihrem Rücken so bequem wie möglich und überließ ihr die Wahl der Geschwindigkeit.
Gegen Mittag erreichten Ross und Reiter die Ebene am Fuße des Zwerggebirges. Sein Unterarm pochte, und als er ihn betrachtete, bemerkte er, dass sich die beiden dunklen Streifen um eine Handbreit verlängert hatten.
Obermagier Belam hatte ihm eine schwierige Aufgabe übertragen und dann auch noch für Zeitdruck gesorgt. Ziemlich gemein. Eine ungewohnte Unruhe erfasste Dott, während sein Pferd alle Zeit dieser und anderer Welten zu haben schien.
»Hör mal, Schneckerl. Schau dir meinen Arm an. Das ist ein mieser Zauber, der mich umbringt, wenn wir uns nicht sputen.«
Als Antwort blieb das Pferd stehen. Sanft drückte Dott mit den Schenkeln. Nichts, Haserl dachte gar nicht daran, auch nur einen Huf zu heben.
»Was ist los? Ich habe dir doch erklärt, dass mir die Zeit davonläuft.« Er verstärkte den Druck mit den Beinen und rüttelte an den Zügeln. Gar nichts. Das Pferd schnaubte nicht einmal, sondern stand nur störrisch da. Wie viel Esel steckte in dem Gaul?
Dott sprang aus dem Sattel. »Komm, soll ich dich ein Stück ziehen?«
Es hatte keinen Zweck, egal was der Ziegenhirte tat, das Pferd stand nur da wie ein Reiterdenkmal ohne Reiter – allerdings mit trotzigem Funkeln in den Augen.
»Sag mal … Liegt es vielleicht daran, dass ich dich Schneckerl genannt habe? Und jetzt bist du beleidigt?«
Demonstrativ drehte Haserl den Kopf in die andere Richtung.
Der Ziegenhirte kraulte sie zwischen den langen Ohren. »Das tut mir leid, ich werde es nie wieder tun, aber diese Streifen machen mich schon nervös.« Er hielt ihr erneut seinen Unterarm entgegen – das Pferd beschnupperte ihn. »Daher müssen wir etwas schneller reisen, wir wissen nicht, wie lange es dauert, bis wir das Kind im Wald finden.«
Begleitet von einem leisen Schnauben wackelte Haserl mit dem Kopf, aber Dott konnte nicht erkennen, ob es sich um ein Nicken oder Kopfschütteln, um Zustimmung oder Widerspruch handelte. Dessen ungeachtet beschloss er, es erneut zu versuchen. Er schwang sich in den Sattel und wartete. Nichts geschah. War sie immer noch beleidigt?
Beinahe wäre er nach hinten runtergefallen, denn urplötzlich verfiel Haserl in einen schnellen Trab. Dott hoppelte auf ihrem Rücken auf und nieder, er musste sich erst ihren Bewegungen anpassen.
Als er sich halbwegs an den wilden Ritt gewöhnt hatte, klopfte er seinem Pferd dankbar auf den Hals und rief: »Danke. Schön, dass du mich verstanden hast!«
Am frühen Abend erreichte Dott ein kleines Dorf. Einfache Hütten aus Lehm mit Stroh säumten den Weg. Einige standen leer, die Tür fehlte oder das Dach war eingefallen. Niedergang, wo er auch hinsah. Menschen konnte Dott nur wenige ausmachen, die meisten drehten sich weg, sobald sie ihn sahen.
Auf dem kleinen Marktplatz herrschte gähnende Leere. Also hielt Dott Ausschau nach einem Bäcker oder Fleischer, bei dem er seinen Proviant aufstocken konnte, doch nichts wies auf einen Verkaufsstand oder einen Handwerksbetrieb hin. In was für einer heruntergekommenen Ortschaft war er nur gelandet?
Erst jetzt bemerkte er sie: Vor einer windschiefen Kate saß auf einer Bank eine alte Frau, die vor sich hinzustarren schien, doch ihre Augen waren geschlossen. Dott hielt neben ihr an und stieg vom Pferd. »Seid gegrüßt, Mütterchen. Sagt bitte, ich brauche Proviant und auch Hafer für mein Pferd. Wo kann ich etwas kaufen?«
Die Alte hob den Kopf, so als wolle sie ihn anblicken, doch sie öffnete nach wie vor nicht die Augen. Sie war in eine graue, unförmige Decke gehüllt, der ihren Körper vom Hals abwärts verbarg. Kein Tuch zierte ihr Haupt, die grauen Haare wucherten auf ihrem Kopf in alle Richtungen, die Wangen hingen schlaff herunter und die zahlreichen Flecken im Gesicht machten sie vermutlich noch älter, als sie ohnehin schon war. Ihre Lippen bebten, so als versuchte sie zu antworten, heraus kam jedoch kein Laut. Ein Rinnsal Speichel lief ihr aus dem rechten Mundwinkel.
Vielleicht ist sie stumm oder einfach nur zu alt und wirr, um zu begreifen. Dott sah sich nach einem anderen Dörfler um, den er befragen konnte.
Die Stimme der Alten raschelte wie trockenes Herbstlaub im Wind, als sie plötzlich zu sprechen begann. »Hast du einen Kupferling für mich, Junge?« Eine Hand fand den Weg aus einer geheimen Öffnung in der Decke – verknöcherte, verkrümmte, faltige Finger streckten sich ihm fordernd entgegen.
»Nein, ich habe keinen Kupferling«, antwortete Dott.
Nach wie vor hielt die Greisin die Augenlider geschlossen. »Wieso habe ich mir das nur gedacht?«, nuschelte sie, und wie die Fühler einer Schnecke wanderte die Hand dorthin zurück, von wo sie gekommen war.
Dott betrachtete das Großmütterchen. »Ich habe nur Silberlinge. Sogar dreißig Stück. Gern gebe ich Euch einen davon ab.« Er griff in seinen Mantel und holte den Geldbeutel heraus. Ein Silberling war so viel wert wie hundert Kupferlinge, das sollte wahrlich reichen.
Die knochigen Finger kamen wieder zum Vorschein, und Dott drückte einen seiner Silberlinge hinein. Konzentriert befühlte die Alte die Münze zwischen Daumen und Zeigefinger. Auf einmal schoss die andere Hand unter der Decke hervor und packte den Saum von Dotts Umhang. Jetzt fiel Dott auf, dass sein Mantel und die Decke der Alten aus dem gleichen Material bestanden. Zischend ließ sie den Stoff wieder los, ihre Augen öffneten sich. Die Pupillen leuchteten in einem tiefen Blau, mit festem, alterslosem Blick taxierte sie ihn. »Du bist ein Kind der Widersprüche.« Urplötzlich klang ihre Stimme sanft und melodisch wie die einer jungen Frau.
Dott erholte sich schnell von seiner Überraschung. Das Kind ließ er der Greisin durchgehen – in ihrem Alter mussten ihr alle anderen Menschen wie ihre Enkel vorkommen. Doch was meinte sie mit Widersprüche
Bevor er fragen konnte, fuhr sie fort: »Du bist es! Der vom Schicksal Gesegnete, verhüllt in mächtige gebundene Magie.«
»Ist das was Gutes?«, fragte Dott, während er sich noch darüber wunderte, dass die Alte so schnell die magische Natur seines Mantels erkannt hatte.
»Zunächst einmal bedeutet es Macht. Doch jetzt kommt es darauf an, was du daraus machst. Ich habe mir dich älter und reifer vorgestellt.«
»Das passt doch gut zusammen«, freute sich Dott. »Dann habe ich ja noch Zeit, reifer zu werden. Soll ich in einem Jahr noch einmal vorbeikommen?«
Sie stutzte nur kurz, dann versammelten sich ihre Falten und formten ein Lächeln, was sie jünger aussehen ließ. »So viel Zeit haben wir nicht, Gesegneter.«
»Warum nennt Ihr mich so? Ich komme mir alles andere als gesegnet vor«, erklärte der Ziegenhirte.
»Glück ist geben. Du besitzt die seltene Gabe. Du bist ein Glücksgänger«, erklärte sie.
»Hm. Ich denke, Fröhlichkeit und Lebenslust sind Glück.« Trotz der Schwere seiner Aufgabe verspürte Dott bei diesen Worten gute Laune.
»Das bestätigt nur meine Worte.« Sie spitzte die Lippen. »Verrate mir deinen Namen, Gesegneter.«
»Aber nur die Kurzversion.« Er sang: »Male einen Lachmund auf der Seite, dann ein Ei, und am Schluss mache zwei Kreuze. Das geht flott und ergibt Dott.«
Ein Jahrhundert Lebensgüte fand sich in ihrem Lächeln wieder. »Willst du mir dein Begehr verraten, Gesegneter?«
»Seht es mir nach, doch darüber darf ich nicht reden – das wurde mir von höchster Stelle strengstens untersagt«, erklärte Dott und breitete entschuldigend die Arme aus.
»Ehrlich und doch verschlossen«, resümierte die Alte.
»Und immer noch hungrig, wie auch mein Pferd«, kam der Ziegenhirte auf sein ursprüngliches Anliegen zurück. Außerdem wollte er die merkwürdige Unterhaltung von sich ablenken.
»Dir wird gegeben werden, doch vorher sage mir wenigstens, wohin dich deine Reise führt.«
»In den Roten Forst.«
Die Falten auf der Stirn der Alten mehrten sich. »Sieh dich vor! Seit die Schatten wandern, sind die Wesen in den Wäldern noch gefährlicher.«
»Vielleicht lassen sie den Gesegneten in Ruhe oder übersehen ihn«, sagte Dott hoffnungsvoll. Er suchte ihren Blick: »Mir dünkt, Ihr habt mich erwartet?«
Ihre blauen Augen durchleuchteten ihn. »Du stellst die richtigen Fragen.« Sie erhob die Stimme: »Lass dir gesagt sein, Dott aus Kandoria: Selbst ein Gesegneter kann eine Mission wie die deinige nicht ohne Hilfe zum Erfolg führen. Es sind mehr Helden vonnöten – ein Dreigestirn aus Glück, Erfahrung und Zähigkeit. Allein wirst du gnadenlos scheitern und untergehen.«
Die Alte schien es ehrlich zu meinen. »Ich danke Euch für den Ratschlag«, antwortete der Ziegenhirte, ohne recht zu wissen, was er von diesen Worten halten sollte.
Sie erhob sich und zeigte auf ein Haus schräg gegenüber. »Dort drüben bei Rudolf findest du, was du brauchst.«
»Wem darf ich für das nette Gespräch danken?«, fragte Dott. Gern hätte er ihren Namen erfahren.
»Ich habe zu danken«, wich sie aus und ließ den Silberling erstaunlich geschickt durch die knochigen Finger hin und her wandern. Dann setzte sie sich auf die Bank und schloss wieder die Augen.
»Lebt wohl!«, verabschiedete sich der Ziegenhirte und führte Haserl am Zügel zu dem Gebäude. Als er näher kam, entdeckte er ein schiefes Schild mit einer verwitterten Wurst darauf, das ihm vorher nicht aufgefallen war. Er rief in die geöffnete Pforte hinein: »Grüße! Ich bin auf der Suche nach Reiseproviant!«
Ein Mann mit einer Schürze, die vor Dotts Geburt eventuell mal weiß gewesen war, kam heraus und stemmte die Arme in die Hüften. »Was bist du denn für einer?«
»Dott heiße ich und bin auf der Durchreise. Mir wurde gesagt, bei Euch könnte ich mich mit Nahrung eindecken.«
»Ich verkaufe seit Jahren nichts mehr an Fremde. Wer erzählt einen solchen Blödsinn?«
Dott antwortete: »Die nette alte Frau dort hinten auf der Bank gab mir den Ratschlag.« Er drehte sich um und deutete ins Nichts.
»Was für eine Alte und was für eine Bank?«, knurrte der Mann.
Dott drehte sich um. Tatsächlich konnte er weder die Frau noch die Bank vor der Kate entdecken. »Sie schickte mich zu Euch. Seid Ihr Rudolf?«
»Der bin ich! Doch in der Hütte lebt seit fünf Jahren niemand mehr. Was ist los mit dir?« Misstrauisch beäugte Rudolf den Ziegenhirten.
Dott fing sich schnell, ihm war klar, dass jede weitere Diskussion über die wundersame Dame nicht weiterhalf. »Jetzt haben wir uns ja bekannt gemacht. Bitte helft und verkauft mir ein wenig Reiseproviant. Und Hafer für mein Pferd.«
Der Fleischer zögerte, dann nickte er mit einem Glitzern in den Augen. »Na gut. Ich habe noch einige Streifen Trockenfleisch, eine Hartwurst und zwei Würstchen. Einen Sack Hafer lege ich auch dazu. Für … «, er schien zu rechnen, »… vierzig Kupferlinge.«
»Einverstanden. Ich danke Euch.«
Rudolf verzog das Gesicht. »Nein, so geht das nicht!«
»Was meint Ihr?«
»Zum Donnerwetter – du musst verhandeln! Die Augen verdrehen, schnaufen, keuchen und ausrufen: Das ist Wucher! Ihr verlangt viel zu viel! «
Darüber wollte Dott nicht lange verhandeln. Er verdrehte die Augen, schnaufte, keuchte und rief aus: »Wucher! Soviel Geld für ein bisschen Essen! Was seid Ihr nur für ein Mensch!«
Der Mann grinste zufrieden. Dann wurde seine Miene ernst und rot, denn er schaffte es, eine Menge Blut der Empörung in seinen Kopf fließen zu lassen. »Fünfunddreißig Kupferlinge. Mein letztes Wort.«
»Na gut«, sagte Dott.
»Das ist doch immer noch viel zu viel, Kerlchen!«, flüsterte der Fleischer.
»Ach so. Da bin ich doch glatt auf Euer letztes Wort reingefallen.«
Rudolf stöhnte.
Pflichtgemäß maulte Dott: »Das ist immer noch Beutelschneiderei! Ich gebe Euch … äh … vierunddreißig Kupferlinge.« So unnachgiebig wie felsenfest schob er hinterher: »Höchstens!«
Rudolf schüttelte den Kopf. »Gut, du hast gewonnen. Vierunddreißig Kupferlinge. Ich hole dir die Ware.« Er verschwand im Haus und kam nach kurzer Zeit mit einem lecker duftenden Leinenbeutel wieder heraus. Rudolf hatte sogar fünf Würstchen eingepackt. Im Stall schräg hinter dem Haus holte der Fleischer noch einen Beutel Hafer und drückte auch diesen in Dotts Hände.
Nachdem er bezahlt hatte, verabschiedete er sich. Welch ein Segen für den Gesegneten! Nach harter, erfolgreicher Verhandlung war für den heutigen Abend und den morgigen Tag zumindest fürs Essen gesorgt. Dott wollte sein Glück nicht überstrapazieren und hatte daher darauf verzichtet, nach einer Übernachtungsmöglichkeit zu fragen. Es sah nicht nach Regen aus, somit beschloss er, wie die Nächte zuvor abseits des Weges unter freiem Himmel zu schlafen. Dott führte Haserl noch einmal zur Kate, vor der die Alte gesessen hatte, und steckte den Kopf in die kleine Behausung. Allein der Geruch sagte ihm, dass hier seit vielen Monaten niemand mehr wohnte. In der Ecke lag ein zerbrochener Stuhl, eine Bank konnte er nicht entdecken. Wer oder was war die alte Dame gewesen? Ein Geist? Eine Vision? Ein Traum? Der Ziegenhirte holte den Geldbeutel aus dem grauen Mantel und zählte seine Silberlinge. Achtundzwanzig. Einen hatte er Rudolf gegeben. Wie auch immer, der Geist, der Traum oder die Vision hatte einen Silberling von ihm bekommen.