Die Höhle
Die Reise durch die dichten Ostwälder Meribors war für Marl an Eintönigkeit kaum zu überbieten. Seit drei Tagen nichts als Bäume. Große Bäume, kleine Bäume, Bäume mit Nadeln, Bäume mit Blättern, umgefallene Bäume, verrottende Bäume ... Marl konnte kein Grün mehr sehen. Insgeheim wünschte er sich fast zurück in seine Kammer in der Lichtbogenfeste mit dem gemütlichen Eimer. Zu seinem großen Verdruss regnete es auch noch den ganzen Tag unablässig. Genervt pustete Marl sich Regentropfen von der Nasenspitze. »Verfluchtes Grauland«, schimpfte er über die für ihre vielen Niederschläge bekannte Gegend, in die ihn seine Reise inzwischen geführt hatte.
Das pelzige Vieh hatte sich als überraschend angenehmer Reisegenosse erwiesen, was hauptsächlich daran lag, dass es Marl kein Ohr abkaute – im echten, wie im übertragenden Sinne – sondern seine Kommunikation auf ein gelegentliches Grollen reduzierte. Marl konnte die unterschiedlichen Nuancen dieser primitiven Sprache inzwischen recht zuverlässig heraushören und verstand immer besser, was die Grolldrummel ihm sagen wollte. Außerdem brachte sie an jedem Abend nach einem kurzen Ausflug in den Wald Wildbret mit – kleinere Tiere wie Kaninchen, Fasane oder auch mal ein dürres Rebhuhn. Dank des magischen Stabs schafften sie es immer, ein Feuer zu entfachen, auf dem sie die Beute brieten. Nun ja, auf dem Marl seinen Anteil an der Beute briet. Die Grolldrummel hatte bei ihrer ersten nächtlichen Rast böse Brummdrohungen in seine Richtung ausgestoßen, als er es wagte, die von ihr angebeteten Flammen für eine derart schnöde Tätigkeit wie die Essenszubereitung zu missbrauchen. Außerdem aß sie ihr Fleisch lieber roh.
Gerade brach das fellige Wesen durchs Unterholz und rannte auf das einfache Lager zu, das Marl unter einem umgefallenen Baumriesen errichtet hatte. Die kleine Mulde unter dem Stamm würde sie die Nacht über verbergen. Glücklicherweise hatte es aufgehört zu regnen und aus den Wolken schälte sich ein schöner voller Mond hervor, der so hell war, dass die Bäume langgezogene Schatten warfen.
»Heute kein Glück gehabt?«, fragte Marl mit einem Blick auf die leeren Hände seines Begleiters. Er konnte seine Enttäuschung nicht verhehlen. Also würde es wohl Trockenfleisch geben, von dem er so schreckliche Darmwinde bekam.
Das Wesen grollte in schneller, hektischer Folge und zeigte in Richtung des dunklen Himmels.
Marl zog die Stirn kraus. »Schon gut, das ist nur der Mond, der tut dir nichts.«
Grauer stampfte plötzlich laut hörbar mit dem Vorderhuf auf, hatte den Kopf erhoben und die Ohren aufgestellt. Unablässig bewegten diese sich hin und her. Die Flanken des an ein dünnes Bäumchen angebundenen Tiers bebten und die Nüstern waren weit gebläht.
Grauer ist nervös. Warum?
Die Grolldrummel buhlte mit einem tiefen Grummeln um seine Aufmerksamkeit.
Marl ignorierte sie, blickte sich wachsam um, konnte aber beim besten Willen keine Gefahr erkennen. »Was habt ihr denn?«
Die Grolldrummel griff nach seinem Unterarm und zog ihn in Richtung des umgestürzten Baums. Gleichzeitig zeigte sie auf Grauer.
»Sollen wir uns etwa unter dem Stamm verkriechen?«
Das wurde mit einem zustimmenden Brummen bejaht.
Mit verständnislosem Kopfschütteln ging Marl zu seinem aufgeregten Pferd. Er hatte schon als Kind gelernt, die Instinkte der sensiblen Tiere nicht zu unterschätzen. »Ruhig, mein Guter. Was ist los?«
Ein langgezogenes Krähen ertönte.
Narbenkrähen? So weit im Osten? Merkwürdig.
Der Laut wurde vielstimmig beantwortet. Es musste ein ganzer Schwarm auf sie zufliegen. Marl dachte mit einem grimmigen Lächeln an seinen Kriegsflegel und den brennenden Stab. Sollten die Krähen frech werden, würden sie beides kennenlernen. Trotzdem legte er keinen Wert auf eine Begegnung mit den aggressiven Viechern, wenn es sich vermeiden ließ. Eine Verletzung hier draußen konnte böse enden.
Hastig führte er Grauer unter einige dichte, tiefhängende Äste ganz in der Nähe ihres Lagers und hoffte, dass dies ausreichen würde, um das Pferd vor den scharfäugigen Vögeln zu verbergen.
Der Grolldrummel schien das alles zu langsam zu gehen, sie drängte an ihm vorbei in die natürliche Mulde unter dem dicken Stamm. Das fellige Wesen hatte zwar seinen Holzspeer bei sich, schien aber auf einen Kampf nicht gerade erpicht.
»Keine Angst, ich kenn mich mit den Viechern aus, sie …«
Mit einem »Ttsssch« kam ein völlig unerwarteter Laut über die dicken Lippen der Grolldrummel.
»Du kannst ja doch noch was anderes als Grollen.« Marl folgte ihr unter den Stamm und lugte vorsichtig nach draußen. Noch immer sah er nur die Bäume, den Mond und einige funkelnde Sterne.
Das Geschöpf wiederholte den Laut und zeigte zum Himmel. Dann hob sie rhythmisch die Hände von oben nach unten und rieb sich über die Oberarme.
»Du hast Angst, dass der Schattenstaub hierherkommt?«, flüsterte Marl. »Es sind doch nur Vögel, oder nicht?« Und dann entdeckte er sie: Etwa zwanzig Tiere und in der Tat handelte es sich um Narbenkrähen, nur dass diese Exemplare um ein Vielfaches größer waren als normale Geschöpfe ihrer Gattung.
Marl wurde eiskalt. Sein Streitkolben und selbst der Stab kamen ihm plötzlich lächerlich klein vor. Wie hatte er nur einen Moment lang glauben können, mit diesen winzigen Waffen etwas gegen derart riesenhafte Kreaturen ausrichten zu können?
Der Schwarm gab ein vielstimmiges Krähen von sich. Unscharf zeichneten sich die massigen Leiber gegen den großen Mond ab.
»Fliegt einfach weiter, hier gibt es nichts für euch«, flüsterte Marl.
Sie kommen, um dich zu holen.
Trotz der Unkenrufe jener bösen Stimme in Marls Kopf, überflogen die großen Schatten sie zügig.
Marl atmete geräuschvoll aus.
Grauer gab ein erleichtertes und ziemlich lautes Schnauben von sich.
Die Grolldrummel forderte sie augenblicklich mit einem weiteren feuchten Zischen zur Ruhe auf.
Ein böses Krähen bewies, dass das Wesen mehr Verstand besaß als Marl und das Pferd zusammen. Einer der Vögel war zurückgekehrt. Langsam kreiste er direkt über ihrem Lager und sank gemächlich herab.
Mist. In Marls Magen grummelte es. Trotz der Dunkelheit erkannte er im Mondlicht, dass die Narbenkrähe fast so groß wie ein Kalb war. Die Krallen an den gelben Beinen waren länger als seine Finger. Selbst nur eines dieser Tiere zu überwältigen, wäre eine schwere Aufgabe. Der ganze Schwarm würde nichts von ihm, der Grolldrummel und dem Pferd übriglassen.
Marl umklammerte seinen Stab fester. Heute gab ihm das Artefakt nicht so viel Zuversicht, wie in den letzten Tagen.
Die Narbenkrähe setzte sich in den Wipfel einer hohen Tanne ganz in ihrer Nähe. Dicke Regentropfen fielen herunter, als die Äste sich unter ihrem Gewicht bogen. Der gigantische Vogel legte aufmerksam seinen Kopf schräg. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er den Grauen entdecken würde.
Sie suchen nach dir, Schwarzer Marl. Eure Mission ist verraten worden, genauso wie es der alte Zauberer vorausgesagt hat. Eventuell wird Meribor nun endlich vom Schwarzen Marl erlöst.
Hatte die Stimme vielleicht recht? Marl wurde kalt. Viel kälter als es dem spätsommerlichen Wetter angemessen gewesen wäre. Es war eine unnatürliche Kühle. Eine, wie sie nur der Schattenstaub verbreitete. Hatte nicht auch seine Grolldrummel genau davor Angst gehabt? Waren diese riesigen Wesen etwa eine Ausgeburt des alles verschlingenden grauen Todes?
Marl bekam es mit der Angst. Ein schwer zu unterdrückender Urinstinkt in ihm schrie danach, aus der engen Mulde zu kriechen und sein Heil in der Flucht zu suchen. Doch etwas hielt ihn zurück. Ein Bild, das sich in den letzten Tagen immer mehr in seinem Kopf verfestigt hatte. Das Gesicht eines etwa neunjährigen Jungen. Jetzt endlich griff Marls Geist auch nach dessen Namen: »Arn.« Das leise auszusprechen war – trotz der bedrohlichen Situation, in der sie sich befanden – eine unglaubliche Genugtuung. Er lächelte zufrieden.
Die Grolldrummel fletschte ihrerseits die Zähne. Sie dachte wohl, dass es jetzt zum Angriff ginge.
So weit kam es glücklicherweise nicht. Ein weiteres Krächzen zerriss die Luft.
Die Narbenkrähe beantwortete es kurz, blickte sich noch einmal um und erhob sich dann schwerfällig in die Luft.
Sie fliegen nach Süden. In Richtung Kandoria. Vielleicht hat der alte Magier doch nicht nur Blödsinn erzählt. »Arn«, wiederholte er andächtig den Namen des Jungen, den zu retten seine Aufgabe war. »Kommt, wir müssen los! Die Zeit läuft uns davon.«
Trotz der aufziehenden Dunkelheit fand Marl einen Weg durch den dunklen Wald. Die Karte in seinem Kopf war so exakt, dass er ihn eigentlich gar nicht verfehlen konnte. Auch hier erwies sich die Grolldrummel als unverzichtbarer Helfer. Ihre nachtsichtigen Augen bewahrten ihn vor tiefhängenden Ästen, Sumpflöchern und Fieberspinnennestern und warnte ihn ein weiteres Mal vor einem Schwarm vorüberziehender Narbenkrähen.
Mit dem Morgengrauen erreichten sie schließlich ihr Ziel. Der unscheinbare, fast komplett von Farnranken verdeckte Höhleneingang, befand sich an der Querseite eines flachen Steinmassivs, das in der ebenen Umgebung irgendwie deplatziert wirkte.
Bei dem Anblick brummte Marl irritiert. Die Grolldrummel verspritzte vor Schreck scharf stinkenden Urin in seine Richtung, dem er gerade noch ausweichen konnte. Vermutlich fühlte sie sich durch sein Brummen bedroht, oder er hatte versehentlich etwas Anstößiges damit ausgedrückt.
»Beruhige dich, mein kleiner Freund! Das war nicht gegen dich gerichtet. Ich kann nur nicht glauben, dass hier ein Kind leben soll.«
Grauer wieherte langgezogen und blieb jäh stehen. Das sonst so ruhige Pferd weigerte sich, näher an den Höhleneingang heranzutreten. Marl verzichtete darauf, es zu zwingen und knotete die Zügel locker an einem Baum fest. Er spürte die besondere Ausstrahlung dieses Orts ebenfalls. »Und was ist mit dir?«, fragte er die Grolldrummel. »Kommst du mit hinein?« Er zeigte erst auf sie und dann auf den Höhleneingang.
Hektisch schüttelte das Wesen den Kopf und klopfte dann auf die Satteltaschen mit dem Proviant.
»Du willst hierbleiben und auf unsere Sachen aufpassen, Grolli?« Marl wusste, dass der Name für seinen Reisebegleiter nicht besonders originell war, aber er hatte schlicht keine Lust, sich einen besseren auszudenken.
Der sonst so wilde Grolli scharrte verlegen mit seinen felligen Krallentatzen über den weichen Waldboden, als würde er sich seiner Feigheit schämen. Ein gieriges Schlecken seiner Zunge und das aufgeregte Schwingen seines Schwanzes konnte er allerdings nicht unterdrücken und das verriet Marl, dass er offensichtlich nicht nur plante, auf ihre Vorräte aufzupassen.
»Also gut, aber wehe, du frisst das ganze Trockenfleisch! Auf der Rückreise haben wir noch ein Maul mehr zu stopfen.«
Die Grolldrummel brummte vergnügt und lehnte sich an eine dicke Eiche.
Marl holte tief Luft. »Los geht es! Dafür habe ich den ganzen Mist hier auf mich genommen.« Kurz zuckten Bilder von den Prüfungen durch seinen Kopf, merkwürdigerweise aber auch die Gesichter von Fehris und Dott. Marl schüttelte sich. Gut, dass ich die nie wiedersehen muss. Er zwang sich, an die gewaltige Belohnung zu denken, die ihm gehören würde, wenn er den Bengel erst nach Kandoria geschafft hatte. Arn, sein Name ist Arn.
Er klopfte dem friedlich grasenden Grauen auf die Seite und band die Zügel kürzer, damit er nicht darüber stolperte. Dann fischte er ein Stück Trockenfleisch aus der Satteltasche, warf es der Grolldrummel zu und machte sich auf, das letzte Stück seines langen Weges endlich hinter sich zu bringen.
Der Eintritt in die Höhle gestaltete sich unspektakulär. Marl schob einfach einige der schmierigen Farnranken zur Seite und trat durch die halbrunde Öffnung in die feuchte Dunkelheit. Seine Schritte erzeugten ein leichtes Echo. Irgendwo vor ihm war das leise Plätschern von Wasser zu vernehmen. Je tiefer er hineinging, desto kühler und dunkler wurde es. So routiniert wie liebevoll strich er kurz über seinen Stab und eine kleine Flamme erschien, genau in der richtigen Größe, um die Dunkelheit im Umkreis von drei Schritten zu vertreiben. Das reichte Marl.
Ein wenig ratlos, aber nicht überrascht blickte er sich um. Ihm war von Beginn an klar gewesen, dass ein kleiner Junge niemals in einer Höhle hausen würde. Auf die verfluchten Magier trafen eine Menge Dinge zu, nicht aber, dass sie ein bequemes Leben verschmähen würden. »Wo versteckt ihr ihn?«, murmelte Marl vor sich hin. Das alles hier war vermutlich nur ein ausgefeilter Blendzauber, der andere davon abhalten sollte, den Jungen zu finden.
Es gibt Verräter und Spione, hallten die Worte Belams in Marls Kopf wider. Mit Grauen dachte er an den Narbenkrähenschwarm.
Er durchmaß die Kaverne. Sie war nicht besonders groß und zum Wohnen höchstens für einen Bären oder eine kleine Grolldrummelhorde geeignet. An den Wänden wucherte irgendein Moos und am Boden Teppiche von weißköpfigen Pilzen. Dazu gab es immer wieder Senken voller Wasser, um die Marl einen Bogen schlug, um keine nassen Füße zu bekommen. Nichts deutete darauf hin, dass hier irgendwo eine Familie lebte. Er kam aber nicht umhin, sich einzugestehen, dass der Zauberer, der dieses Versteck ersonnen hatte, sein Handwerk verstand.
Gerade als er darüber nachdachte, ob er die Grolldrummel um Hilfe rufen sollte, fiel sein Blick auf eine besonders dunkle Stelle an einer der Wände. Marl schwang seinen Stab in diese Richtung, doch selbst die magische Flamme konnte jenen Bereich nicht erhellen. Hab ich dich! Mit klopfendem Herzen ging er darauf zu. Ich komme, Arn! Kurz erschien das blasse Gesicht des Jungen mit den blonden Haaren vor seinen Augen.
Als Marl direkt vor der unnatürlichen Schwärze stand, nahm er ein feines Rauschen von Wasser wahr – und er hasste Wasser. Es war der natürliche Todfeind des Feuers und damit sein eigener. Sogar die Flamme an seinem Stab bewegte sich merkbar in die Gegenrichtung, als er noch näher heranging. Diese verfluchten Zauberer. Der Junge und seine Zieheltern mussten hinter jener Wand stecken.
Marl zögerte. Welche Überraschungen hatten sich die Magier wohl für ungebetene Besucher wie ihn einfallen lassen?
Du bist doch der Auserwählte.
Der spöttische Klang seiner inneren Stimme sagte ihm, dass sie ihn ärgern wollte, trotzdem stärkten Marl die Worte. Er holte tief Luft, straffte seinen Rücken und trat in die unnatürliche Dunkelheit hinein.
Das Erste, was er bemerkte, war, dass sein Stab augenblicklich zischend erlosch. Das Zweite, dass seine Kleidung und alles andere an ihm klatschnass waren. Das Dritte und Furchtbarste: Er war unter Wasser und totale Finsternis umschloss ihn.
Marl begann panisch mit Händen und Füßen zu paddeln. Instinktiv hielt er die Luft an. So wie jeder Pirat, der etwas auf sich hielt, konnte er nicht schwimmen, hatte aber schon oft Hunde und Ratten dabei beobachtet. So schwer konnte es also nicht sein. Tatsächlich schaffte er es damit, seinen Körper am Sinken zu hindern, doch die entscheidende Frage war: Selbst, wenn er es hinbekam zu schwimmen, wohin sollte er sich wenden? In der Dunkelheit konnte er weder oben noch unten unterscheiden, geschweige denn irgendeine Art von Ziel ausmachen.
Er zwang sich dazu, sich zu beruhigen. Das alles war doch wieder nur magisches Blendwerk. Wahrscheinlich kann ich den Mund aufmachen und … Als er die Lippen nur einen Spalt öffnete drang augenblicklich nach Eisen schmeckendes Wasser in seine Kehle.
Oder sie haben dich in eine Todesfalle gelockt. Der Schwarze Marl ersäuft, dafür wird er aber während seiner letzten Herzschläge endlich mal sauber. Ein ganz schönes Ende für deine Geschichte, findest du nicht auch?
Die Stimme zu ignorieren, war in dieser Situation das Beste – eigentlich in jeder Situation. Marl wollte schlicht nicht sterben. Nicht, weil sein Leben besonders schön gewesen wäre, er hoffnungsfroh in die Zukunft schauen oder gar irgendwo jemand um ihn trauern würde, sondern weil er noch so viel gutzumachen hatte. All die Menschen, denen er Leid zugefügt hatte – dafür musste er Buße tun, und dieser schweren Bürde würde er sich nicht feige durch seinen Tod entziehen. Die Rettung des Jungen hätte der Anfang sein sollen. Arn. Auch wenn er es vor der zickigen Fehris und dem naiven Dott nicht zugegeben hätte – es hatte sich von Anfang an gut angefühlt, endlich einmal auf der richtigen Seite zu stehen. Im Laufe seiner Reise war in Marl immer mehr die Erkenntnis gereift, dass der Junge der Einzige war, der den Schwarzen Marl in ihm für immer zum Schweigen bringen könnte.
Ihm ging die Luft aus. Er hatte keine Kraft mehr zu rudern. Langsam sank sein Körper hinab. Noch konnte er dem Drang widerstehen, den Mund aufzureißen – im sinnlosen Versuch zu atmen.
Wieder sah er das scharfgeschnittene Gesicht des blassen Jungen vor sich. Arn.
Marls Blick verschleierte sich. Seine Lungen schmerzten furchtbar. Er hatte genug Menschen sterben sehen, um zu verstehen, dass es mit seinem Leben zu Ende ging, ob er wollte oder nicht. Du hast es wenigstens versucht. Diese Erkenntnis löste in ihm vollkommen überraschend ein Gefühl der Zufriedenheit aus. Er starb bei dem Versuch, etwas Gutes zu tun. Niemals hätte sich der Schwarze Marl ein derartig würdiges Abtreten für sich auch nur erträumen dürfen. Ein letztes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Tut mir leid, Arn!
Prustend schlug Marl plötzlich auf weichem Gras auf. Die Schwärze und das Wasser waren verschwunden. Um ihn herum türmten sich Berge auf, deren weiße Spitzen im strahlenden Sonnenschein wie gezuckert aussahen. Er drehte sich zur Seite und erbrach einen Schwall Wasser. »Verflucht sollt ihr sein, ihr elenden Magier!«
Langsam richtete er sich auf und sah sich um. Er war auf einer Bergweide mit saftigen grünen Wiesen gelandet. Sein Blick fiel auf ein Holzhaus mit Legschindeldach und Schwersteinen darauf. Ich komme, Arn. Dass seine Stiefel bei jedem Schritt ein quietschendes Geräusch abgaben, ignorierte er. Er stützte sich zufrieden auf seinen Stock, der langsam wie ein zusätzliches Körperteil für ihn wurde.
Jemand trat aus dem Haus. Eine blonde Frau.
»Ahhh, das Begrüßungskomitee.« Er erhob seine Hand zu einem freundlichen Winken.
Überrascht legte die Frau den Kopf schräg.
Sie könnte Angst vor mir haben. Sie verstecken sich hier schließlich. Vielleicht sah er nach den furchtbaren Prüfungen und der langen Reise sogar noch etwas mitgenommener aus als ohnehin schon. Verstohlen versuchte Marl, seine Robe etwas glattzuzupfen.
Ein breitschultriger Mann trat neben die Frau. Er hatte einen länglichen Gegenstand in der Hand.
Ist das ein Kurzschwert? »Hallo Freunde«, rief Marl laut, damit er das Knarzen seiner Schuhe übertönte. »Belam schickt mich, um nach dem Rechten zu schauen. Ihr erinnert euch doch an den Spitzbart? So ein Großer, mit blauem Umhang. Immer ein bisschen grummelig, denn wenn er Lachen muss, geht er in den Keller zum Schattenstaub.«
Die beiden blickten ihn nur starr an.
Mit Humor komme ich hier wohl nicht weiter. »Wie dem auch sei. Er macht sich Sorgen, weil er so lange nichts von euch und dem Kind gehört hat.«
Jetzt legte auch der Mann den Kopf schief. In einem unmöglichen Winkel. Marl tat der Nacken schon vom Zuschauen weh. Sein Mund öffnete sich und ein undefinierbarer Laut erklang. So recht konnte er sich auf das Verhalten von Arns Zieheltern keinen Reim machen. »Keine Angst, ich komme in Frieden. Der Spitzbart hat mir verraten, wo ihr euch versteckt.«
Die Frau stieß einen böse zischenden Laut aus.
Plötzlich liefen die beiden in einem unnatürlich schnellen Tempo auf Marl zu. Der Mann, dessen Beine länger waren, überholte die Frau. Bevor Marl überhaupt reagieren konnte, war dieser auch schon bei ihm, hob das Schwert und schlug mit voller Wucht zu.
Instinktiv riss Marl seinen Stab zur Verteidigung hoch.
Die stählerne Klinge des Kurzschwertes hätte diesen eigentlich in der Mitte durchtrennen müssen, stattdessen spürte er nur einen heftigen Ruck in Händen und Armen – und dem Mann flog die Klinge aus der Hand.
Erst jetzt, als sie ihm so nahe waren, erkannte Marl, dass die Haut der beiden Zauberer bleich und wächsern war. Ihre Kleidung dreckig und zerschlissen. Die blonden Haare der Frau waren verfilzt und voller Spinnenweben. Dem Mann fehlte ein Ohr. Das Schlimmste aber waren ihre Augen. Vollkommen weiß. Pupillenlos. Die beiden mussten blind sein. Dennoch bewegten sie sich mit einer Geschmeidigkeit, als könnten sie Marl genau sehen.
Die Frau war unbewaffnet. Das hielt sie nicht davon ab, Marl ebenfalls zu attackieren. Sie sprang mit gebleckten, scheußlich gelben Zähnen auf ihn zu.
Der Stab flog wie von selbst nach oben und zertrümmerte ihren Kiefer. Sonst hätte sie vermutlich Marls Kehle aufgerissen.
Kein Schmerzenslaut drang aus der Kehle der Frau. Mit ihren blinden Augen blickte sie nur wütend zu Marl auf.
Beide Zauberer begannen jetzt, Marl lauernd zu umkreisen.
Was ist mit denen nur passiert? Vorsichtig versuchte er rückwärts zu gehen. Sie finden mich nur, wenn ich sie mich hören können. Prompt trat er auf einen kleinen Ast, der sogleich zerbrach. Das Knacken brachte die beiden sofort wieder auf seine Spur.
Der Mann schwang seine großen Fäuste und die Frau versuchte ihn umzureißen.
Erschrocken schloss Marl seine Hand fester um den Stab. Ein kindskopfgroßer Flammenball schoss daraufhin heraus und detonierte, als die Frau in ihn hineinlief. Die Explosion riss ihr den Kopf von den Schultern. Der Torso sackte kraftlos in sich zusammen. Grünes Blut quoll träge aus der riesigen Wunde.
Dem Mann schien der Verlust seiner Gefährtin egal zu sein. Er setzte zu einem gewaltigen Hieb gegen Marl an. Erneut rettete ihn sein Stab. Der blockte den Schlag ab und setzte die Stelle, an der er den Unterarm des Manns berührt hatte, sofort in Brand.
Die Flammen breiteten sich rasend schnell aus. Der Magier begann lichterloh zu brennen. Er versuchte dennoch, Marl ein weiteres Mal zu attackieren, bevor er endgültig zusammenbrach.
Marl schnaufte kraftlos und blickte entgeistert auf die beiden Toten. Was sollte das denn? Konnte das das Werk Razuhls gewesen sein? Hatte Belam nicht erwähnt, dass der für seine Schandtaten geblendet worden war? Tat er jetzt etwa dasselbe seinen Opfern an? Wenn dem so war, musste er hier gewesen sein.
Das bedeutet …
Bevor Marl den Gedanken zu Ende bringen konnte, durchzuckte es ihn. »Arn!« Panisch rannte er auf das Haus zu. »Arn? Arn? Arn, bist du hier?«
Kaum, dass er an dem Gebäude angekommen war, sah er, dass die einst prachtvolle Tür der Almhütte eingeschlagen war. Ich bin zu spät gekommen!
Hastig durchmaß er den Flur des Hauses, das von einem bescheidenen Wohlstand zeugte, wie ihn sich Bauern erarbeiteten, die über mehr als nur ihre eigene Scholle verfügten und erfolgreich Viehzucht betrieben. Geschnitzte Heiligenfiguren aus der Lichtgeschichte und Regale voller Bierkrüge säumten seinen Weg. Eine bedrückende Stille hatte sich über die Räume gelegt, die Marl regelrecht beklommen machte.
Er durchsuchte das ganze Haus, fand aber weder die Leiche des Jungen noch den Burschen selbst.
Aus einem Schwarzen Marl macht allein der gute Wille noch keinen weißen.
Marl war den Tränen nah. Abgrundtiefe Enttäuschung übermannte ihn. Zum ersten Mal in seinem Leben war er bereit gewesen, für einen anderen Menschen sein Leben zu geben – für diesen unbekannten Jungen. Und nun scheiterte er so kläglich. Es fühlte sich an, als würde er gerade erneut an der Schwelle des Todes stehen.
Sein Blick fiel zufällig auf ein großes Ölgemälde. Es zeigte ein Schiff, das zwischen irgendwelchen palmenbewachsenen Inselchen in schweres Wasser gekommen war. Erinnerungen an sein früheres Leben kamen in Marl hoch. Er stand auf, um es sich genauer anzusehen. Der Maler war ein Meister gewesen. Die Wellen sahen so echt aus, als könnten sie jeden Moment aus dem Rahmen herausschlagen. Ehrfurchtsvoll strich Marl über die in dicken Schichten aufgetragene Farbe und glaubte zu spüren, dass die Kuppen seiner Finger feucht wurden. Versehentlich verrückte er das Bild. Etwas, das dahinter verborgen war, sank zu Boden. Überrascht blickte Marl auf den am Boden liegenden Gegenstand. Es war eine blaue Feder.
Vorsichtig hob er sie auf. Es ist noch nicht vorbei. Ein breites Lächeln schlich sich auf sein Gesicht.