Freundlich
Nach wie vor stand Dott dem dunklen Magier hilflos gegenüber und konnte weder Arme noch Beine bewegen. Razuhl hob die Hände, dabei verwirbelte er etwas Schattenstaub. »Raus mit der Sprache. Wo ist das Kind?«
Dott musste Zeit gewinnen, um dem Glück wenigstens eine kleine Chance zu geben, ihm zu Hilfe zu eilen. »Wenn Ihr schon so viel wisst, dann doch sicher auch, dass ich Beryll hier finden und nach Kandoria begleiten soll. Ich bin genauso überrascht wie Ihr, dass sie nicht mehr hier ist.«
»Erzähl mir nichts, was ich schon weiß, Ziegenhirte.«
Trotz seiner Todesangst ärgerte sich Dott über die Abschätzigkeit, die er über seinen Beruf aus Razuhls Tonlage heraushören konnte. »Ich weiß nicht mehr als Ihr«, entgegnete er trotzig.
»Sie müssen Hinweise hinterlassen haben, es sind immer noch Kinder, allein können sie sich nicht lange vor mir verstecken«, raunte Razuhl.
Ein Rauschen fuhr durch Dotts Kopf – wie das in einer Muschel. »Ich habe keine Ahnung.«
»Nicht einmal Lügen kannst du, Nichtsnutz.«
Mit einem Mal brach der Winter ein, jedenfalls fühlte Dott, wie eisige Kälte auf ihm lastete. Er konnte seinen Atem sehen. Nun war er nicht nur festgenagelt, sondern auch festgefroren. »Ich … erzähle es Euch. Ich habe tatsächlich etwas gefunden«, sagte er mit steifen Lippen.
»Ich höre!«
»Im Stall, es liegt im Stall.«
Der dunkle Magier trat einen Schritt zurück. »Zeig es mir.«
Mit einem Mal konnte Dott die Füße wieder bewegen. Langsam ging er um den Bretterverschlag herum zur Eingangstür.
Rechts neben ihm flimmerte etwas. Eine Gestalt, die auf den ersten Blick aussah wie er. Auf den zweiten auch. Plötzlich tauchte auch links von ihm ein Spiegelbild auf. Nicht wundern, rennen, war das Einzige, was er tun und denken konnte. Wie ein Wirbelsturm stürmten Dott und seine beiden Ebenbilder los.
Hinter ihm fluchte Razuhl – sogar das klang sanft. Sanft wie eine scharfe Klinge, die eine Kehle durchschneidet.
Drei Dotts flüchteten in Richtung des Trampelpfades, der den einen Dott zum Bauernhof geführt hatte.
Heilige Lichtgöttin, mach dass das Portal noch dort ist.
Ein magischer Einschlag erfolgte direkt neben ihm und pulverisierte den linken Dott.
Die Ziegenhirten erreichten das eigenartige Luftflimmern direkt neben der Stelle, wo das Loch einen von ihnen ausgespuckt hatte. Durchsichtige Flammen formten ein Tor. Nach wie vor schimmerte in der Mitte das Bild der alten Jagdhütte. Es verblieb keine Zeit zu überlegen. Die einzige und letzte Rettung lag vor ihm. Razuhl feuerte einen zweiten Strahl voller tödlicher Energie ab. Die Chance, den echten Dott zu treffen, stand eins zu eins, doch Razuhl erwischte seinen magischen Zwilling. Glück gehabt. Mit einem Hechtsprung wie in einen Badesee stürzte sich Dott in das Flimmern. Abrupt wurde es dunkel um ihn herum, doch schnell gewöhnten sich seine Augen an das Zwielicht. Die Falltür war noch geöffnet, der Tisch lag verkehrt herum auf dem Boden und der Strick baumelte ins Loch. So schnell und einfach konnte die magische Reise also gehen – auf diese Weise hätte er sich den Hinweg auch gewünscht. Ob Razuhl ihm hierher folgen konnte? Mit hämmerndem Herzen schob Dott den Tisch zur Seite, riss das Seil aus dem Loch und schlug die Falltür zu. Er wartete. Nichts geschah. Offenbar war er diesem Schattenmonster entkommen.
Sein nächster Gedanke galt Haserl. Er stürzte zur Tür hinaus und fiel seinem Pferd jubelnd um den Hals. »Du treue Seele hast auf mich gewartet!« Er küsste sie auf die Blesse.
Nicht zum ersten Mal sah das Pferd ihn an, als hätte er sich den Kopf zu fest angestoßen, was Dott jedoch nicht weiter störte.
»Du wirst nicht glauben, was ich erlebt habe, und wie knapp das eben war. Lass uns schleunigst hier verschwinden.«
Dott verstaute das Seil und saß auf. Ein letztes Mal drehte er sich zur Jagdhütte um. So sah also ein versteckter Eingang zu einem geheimen Ort aus. Doch nicht versteckt und geheim genug. Razuhl war ihm zuvorgekommen, hatte diese Welt entdeckt und die Zieheltern brutal umgebracht. Vor Mord und Totschlag war wohl niemand sicher – selbst die auf den ersten Blick so allmächtig wirkenden Lichtmagier nicht. Warum waren die Kinder so wichtig für den dunklen Fürsten? Wo befand sich Beryll nun? Langsam begriff Dott, mit wie wenig Wissen er sich auf diese Mission begeben hatte, wobei ihm kaum etwas anderes übriggeblieben war.
Was hatte er bisher erreicht? Immerhin besaß er ein eigenes Pferd. Und was für ein besonderes! Mit Stolz betrachtete er Haserl. Allein wegen ihr hatte sich sein bisheriger Einsatz gelohnt. Jetzt fehlten noch die fünfzig Goldstücke zu einem Leben mit Clarissa.
»Jedes Rätsel, das wir lösen, wirft drei neue auf, Haserl. Obwohl ich ihn nicht mag, kann offenbar nur Obermagier Belam weiterhelfen, zumal er uns die Belohnung schuldet.« Er betrachtete die beiden Streifen, die mittlerweile seinen Oberarm erreicht hatten. »Und er muss diesen Mist hier aufhalten.«
Der Weg aus dem Roten Forst hinaus dauerte den halben Tag, da Dott das Pferd die ganze Zeit durch dichtes Gestrüpp führen musste. Endlich lichteten sich die Bäume, sodass der Ziegenhirte aufsitzen konnte. Kaum Wolken am Himmel, der Wind fühlte sich angenehm warm an, ideales Reisewetter. Ross und Reiter erreichten die Nord-Süd-Route und schlurften den Weg in Richtung Kandoria entlang.
Noch vor der Abenddämmerung suchte sich Dott einen gemütlichen Platz fürs Nachtlager. Abseits der Straße entdeckte er eine geeignete Stelle an einem Bach, wo er sogleich seinen Wasserschlauch füllte. Auch Haserl schlürfte das Nass gierig in sich hinein, dabei saugte sie es nicht auf, sondern schaufelte es sich mit der Zunge ins Maul wie ein Hund.
»Solange du nicht anfängst zu knurren und zu bellen«, sagte Dott und schüttelte den Kopf. Als Haserl ihren Durst gestillt hatte, befreite er sorgfältig ihr Fell von den unzähligen Kletten aus dem Dickicht des Roten Forstes und kontrollierte die Hufe, genauso wie es ihm Stallmeister Malkan aufgetragen hatte. Währenddessen stand Haserl nur da und klimperte mit den Wimpern – es schien ihr zu gefallen, wenn Dott sich um sie kümmerte.
Am frühen Morgen ritt er weiter durch die Tiefebene von Mandor – zunächst im schnellen Trab, doch diese Gangart strengte Dott zu sehr an. Offenbar mehr als Haserl. Er hütete sich davor, es noch einmal mit dem Galoppieren zu versuchen, sondern ließ sie in den berüchtigten Schlurf fallen, sodass er es sich auf ihrem Rücken gemütlich machen konnte. Das sanfte Auf und Ab wirkte einschläfernd, die Gedanken kreisten in seinem Kopf. Wie würde sich sein großes Abenteuer wohl fortsetzen?
Als der Ziegenhirte die Augen wieder öffnete, sah er Bäume, und die gehörten ganz und gar nicht in die Tiefebene. Sie schlurften durch einen Mischwald, der genügend Platz für einen breiten Weg bot. Wie lange hatte er denn auf dem Pferderücken gedöst?
»Haserl, wo sind wir hier?«
Das Pferd schnaubte, doch so richtig half das nicht weiter. Dott warf den Kopf in den Nacken und blinzelte durch die Baumkronen. Dem Sonnenstand nach ging es auf den späten Nachmittag zu und sie ritten nach Südosten, was im Grunde nicht falsch war. Der Ziegenhirte vergegenwärtigte sich die Karte in seinem Kopf. An der großen Wegkreuzung musste Haserl nach Osten anstatt nach Süden abgebogen sein. Dies bedeutete zwar einen kleinen Umweg, barg jedoch den Vorteil, nicht noch einmal über das steile Zwerggebirge reisen zu müssen. Zeitlich dürfte sich das nahezu ausgleichen. Also folgten die beiden der Route durch den Wald.
Bevor Dott das Wirtshaus sah, roch er es. Der würzige Duft gebratenen Fleisches stieg ihm in die Nase. Wenig später tauchte das Gebäude auf der linken Seite des Weges auf. Es wirkte mit seinen Wänden aus dicken Querbalken und dem Schindeldach wie eine kleine Festung. Neben dem Hauptgebäude schloss sich ein langgezogener Stall aus einfachen Brettern an.
Da sich der Tag inzwischen dem Ende neigte, beschloss Dott, dort einzukehren. Eine Nacht in einem richtigen Bett und eine herzhafte warme Mahlzeit erschien ihm zu verlockend. Und auch Haserl hätte sicherlich nichts gegen eine Abwechslung in Form von frischem Heu einzuwenden. Dott stieg ab und führte als Erstes seine treue Begleiterin in den Stall. Hier standen bereits etliche Pferde, doch direkt hinter dem Eingang fand Dott noch einen freien Ständer. Da es weit und breit keinen Stalljungen gab, versorgte er Haserl gern selbst. Er gurtete den Sattel ab, füllte den Trog mit Wasser aus einem Regenfass und brachte frisches Heu. »So, jetzt bin ich mit Essen und Trinken an der Reihe«, sagte Dott, klopfte Haserl auf den Hals und verließ den Stall. Zwischen zwei Buchenstämmen hindurch bewegte sich ein kleiner, breiter Schatten auf ihn zu und ein merkwürdiger Geruch hing in der Luft. Obwohl das Wesen auf den ersten Blick wie ein stämmiges Kind wirkte, wusste Dott sofort, dass es sich nicht um einen Menschen handelte. Die letzten Sonnenstrahlen brachen durch die Abendwolken und beleuchteten ein felliges Gesicht wie von einem jungen Braunbären. Dott brauchte ein wenig, um zu verstehen. Gesehen hatte er noch keine, doch es konnte sich nur um eine Grolldrummel handeln. Eine leibhaftige Grolldrummel! Er kannte diese eigentümlichen Tiere in Puppenform vom Jahrmarkt in Kandoria. Kinder liebten die felligen Wesen. Doch es war etwas ganz anderes, einem Vertreter dieser Art tatsächlich gegenüberzustehen. Was machte sie hier so alleine? Obgleich sie auf den ersten Blick recht niedlich wirkten, wurde in den meisten Geschichten vor einer Begegnung mit den gefährlichen Fleischfressern gewarnt.
Wie ein betrunkener Seemannszwerg wankte das Biest direkt auf ihn zu.
»Ich tu dir nichts, und was noch wichtiger ist: Du tust mir auch nichts«, verhandelte Dott mit leisen Worten, um sein Gegenüber nicht zu erschrecken. Er vermied den direkten Augenkontakt und sah seitlich an dem Biest vorbei – Micha behauptete immer, dieser Kniff würde sogar Wölfe besänftigen. Je näher die Grolldrummel kam, desto größer und gefährlicher wirkte sie.
Immer schön freundlich. Er lächelte den felligen Knubbel an.
Ein Ruck ging durch das Wesen, und es stieß ein tiefes Knurren aus, wie Dott es noch nie zuvor gehört hatte. Die Grolldrummel warf den Kopf nach vorn und stürzte sich auf ihn. Mit den Pranken voran, sprang das Biest erstaunlich weit, sodass es den Ziegenhirten an der Schulter erwischte. Dott kam es vor, als schleuderte ein Riese einen Sack Mehl auf ihn. Die Wucht des unerwarteten Angriffs riss ihn um. Wenn der Ziegenhirte seinen Freund Micha jemals wiedersah, würde er ihm erzählen, dass der Kniff mit dem fehlenden Augenkontakt zumindest bei Grolldrummeln nicht funktionierte. Das Monster setzte sich auf seinen Bauch und rammte ihm die Klauen in die Brust. Als wäre das nicht genug, schnappte es nach seinem Hals. Der stinkende Atem betäubte ihn fast. Dott ignorierte den Schmerz. Mit der Kraft der Verzweiflung drückte er den Angreifer von sich weg. Es klackte laut, als die kräftigen Kiefer dicht vor seinem Kinn ins Leere bissen. Doch das Gewicht und die Kraft des Ungetüms ließen ihm keine Chance – der nächste Biss würde ihm die Kehle herausreißen.
»Grolli! Weg von dem! Der ist pfui!«
Tatsächlich hielt das Monster inne und drehte den Kopf nach hinten. Schleimiger Speichel tropfte Dott auf den Hals.
»Hast du nicht gehört? Runter von ihm!«
Widerwillig ließ die Grolldrummel ihn aus den Pranken. Ein letztes tiefes Fauchen, bevor das Vieh sich erhob und ihn noch einmal mit einem mörderischen Zähnefletschen bedachte.
»Da hast du mal wieder Glück gehabt, Jüngelchen. Glück, dass ich in der Nähe bin«, sagte eine Stimme, die Dott kannte, in seiner immer noch anhaltenden Panik jedoch nicht sofort zuordnen konnte. Durch die Wimpern betrachtete Dott seinen Retter.
Marl, der alte Mönchstinker!
Mit tadelndem Blick und schiefem Lächeln sagte der: »Warum musst du auch den armen Grolli belästigen?«
Dott erhob sich und klopfte den Staub aus dem Mantel. Der dicke Stoff hatte ihn vor den Klauen der Grolldrummel bewahrt. Weder ein Loch noch einen Riss konnte er entdecken.
»Welch ein Wiedersehen!« Misstrauisch beäugte der Ziegenhirte die Grolldrummel, wie sie da so friedlich wie ein Lamm neben Marl stand. »Wie lange kann Grolli sich merken, dass ich Pfui bin?«
»Nur solange er satt ist«, grinste Marl. »Komm, wir gehen ins Wirtshaus! Für den Schreck geht ein Bier auf mich. Und du wirst nicht glauben, wer dort bereits emsig schlechte Laune verbreitet.« Er verdrehte den Mund und rieb sich die Wange. »Grolli, du bleibst hier bei den Pferden, ohne sie zu erschrecken. Und halte dich von Menschen fern.« Auf Dotts erstaunten Gesichtsausdruck hin, erklärte er: »Er hat es nicht so mit Lächeln, schnellen Bewegungen und lauten Geräuschen.«
Mit seinem knorrigen Stab drückte Marl die Tür des Wirtshauses auf. Dott folgte ihm. Im Schankraum waren zwei Tische belegt. An einem saßen vier zwielichtige Burschen, denen Dott nicht allein im Wald begegnen wollte. An einem anderen kippelte eine blonde Frau auf ihrem Stuhl, dabei verschränkte sie die Arme vor ihrer Brust.
»Frau Fehris! So ein Zufall, dass wir drei uns in diesem einsamen Gasthaus treffen!«, rief Dott mit ehrlicher Freude aus.
Die Dame erwiderte sein Lächeln weder mit einem Mundwinkel noch mit den Augen. »Eher Pech!«, grollte sie in einem Ton, der den Ziegenhirten an das Monster vor dem Haus erinnerte. »Und nenn mich nicht so.«
Die Männer am Nebentisch prusteten und prosteten sich zu. »Frau Fehris«, echoten sie und schlugen sich auf die Schenkel.
Dott setzte sich ihr gegenüber. Er beschloss, sich nicht von ihrer rauen Schale abschrecken zu lassen.
»Drei Bier!«, rief Marl und winkte einem schlaksigen Mann in einem Flickenhemd zu, der hinter dem Tresen so nervös hin und her tippelte, als suchte er Deckung vor feindlichen Bogenschützen.
»Wie ist es euch ergangen?«, fragte Dott leise, sodass die Bande am Nebentisch nicht mithören konnte.
Schweigen. Ein Schweigen der unwilligen, unangenehmen, unheilbringenden Art.
Dott fuhr mit den Händen über den Tisch, als wolle er die Stille fortwischen. »Ihr werdet nicht glauben, was ich erlebt habe.«
»Ich weiß nicht, ob mich das interessiert«, sagte Fehris.
Dott streckte den Arm aus dem Umhang und entblößte ihn halb unter dem Tisch. »Zumindest sollte dich interessieren, wie wir das hier loswerden.«
Sie bellte los: »Das schaffe ich auch ohne euch. Wo bleibt das Bier, Wirt?«
Schön. Auf die blendende Laune der Dame ist wenigstens Verlass , dachte Dott.
Oder hatte er es laut gesagt, denn Marl ergänzte grinsend: »Ich steh auf zänkische Frauen.« Zur Bekräftigung dieser Worte rülpste er zärtlich in ihre Richtung.
Die vier Gestalten am Nebentisch sahen nach wie vor herüber. Einer, der im Gesicht ähnlich fellig aussah wie diese Grolldrummel vor der Tür, rief: »Holde Maid, setz dich wieder zu uns – am besten auf meinen Schoß. Was willst du mit den beiden Versagern? Der eine weiß noch nicht, wie man Frauen wie dich richtig verwöhnt, und der andere hat es längst vergessen.« Die Männer lachten und grölten um die Wette. Schwer zu sagen, wer gewinnen würde.
Dott ignorierte die lustige Gesellschaft.
»Ich denke, wir haben das gleiche Ziel – zurück nach Kandoria«, erklärte er.
»Mit euch habe ich nur Streit«, zischte Fehris.
»Hör doch mal auf. Nie ist einer allein schuld. Zum Streiten gehören immer zwei«, appellierte der Ziegenhirte an ihre Vernunft.
»Ja, genau meine Rede!«, fauchte Fehris und warf die Arme in die Luft. »Ein Dott und ein Marl.«
Der Wirt kam und knallte hektisch jedem einen Humpen Bier auf den Tisch, um schnell wieder in Deckung gehen zu können. Er schien zu überlegen, vor wem er sich mehr fürchtete: den vier Halunken oder den drei Streithähnen.
Fehris lehnte sich vor, ergriff den Krug und leerte ihn mit einem Zug. Sie leckte sich den Schaum von den Lippen und wandte sich an Dott. »Hast du die Grolldrummel von dem Bekloppten kennengelernt?«
»Zwangsläufig! Das Vieh wollte mir das Herz herausreißen«, antwortete der Gefragte.
»Ach was, Grolli wollte nur spielen«, widersprach Marl. 
Stirnrunzelnd suchte Fehris den Blick des Ziegenhirten, dabei deutete sie mit dem Kinn in Richtung des Alten. »Merkst du nicht, welch Geistes Kind der ist? Zieht mit einer Grolldrummel durchs Land.«
»Das wirkt durchaus etwas befremdlich«, gab der Ziegenhirte ihr recht.
Fehris nahm weiterhin kein Blatt vor den Mund. »Keine Pferdelänge reise ich in Gesellschaft eines solchen Grollhaufens. Selbst ohne weiß ich nicht, wie lange ich den alten Furzer überhaupt ertrage.«
Marl stupste Dott an die Schulter. »Unter uns, Junge: Sie ist scharf auf mich. Doch ich habe sie abblitzen lassen.«
»Das bringt uns nicht weiter«, versuchte Dott einen Themenwechsel, bevor sich Fehris auf den Alten stürzen konnte. »Was ist mit dir? Offenkundig ist es auch dir nicht gelungen, dein Kind zu finden.«
Kühl wie ein Gebirgsbach meinte sie: »Der Obermagier hat uns an unterschiedliche Orte geschickt. Jeden für sich. So soll es auch bleiben. Ich setze mich jetzt zu meinen Freunden an den anderen Tisch.« Sie machte Anstalten, sich zu erheben.
»Warte einen Moment. Wir müssen alle drei mit Belam sprechen. Wir sitzen in einem Boot, ob du es willst oder nicht.«
»Was weißt du schon von Booten?«, fiel Marl ihm in den Rücken. »Erklär mir mal, wieso sich ein unerfahrenes Würstchen wie du überhaupt für die Prüfung gemeldet hat? Klebte dein Kopf etwa auch schon auf dem Richtblock?«
Offenbar interessierte dies auch Fehris, denn sie ließ sich auf den Stuhl zurücksinken.
»Ich brauche die fünfzig Goldstücke als Mitgift für den Bruder des Truchsesses.« Dott schilderte den beiden seine Situation, schwärmte dabei ein wenig von Clarissa und erklärte ihnen die Abmachung mit ihrem Vater.
Ausnahmsweise waren sich seine Tischgefährten mal einig: Beide verdrehten die Augen – sogar in die gleiche Richtung.
Dott ließ diesen stummen Spott nicht an sich heran. »Wie dem auch sei – ist es nicht ein toller Zufall, dass wir uns alle hier wiedertreffen?«
»Ich glaube nicht an Zufälle«, grummelte Marl.
»Ich schon. Ich liebe glückliche Zufälle.«
Marl stöhnte. »Hör zu, Junge. Du brauchst also eine Mitgift in Höhe von fünfzig Goldstücken, richtig?«
Dott nickte schnell.
»Rein zufällig wurde exakt diese Summe für die Prüfung ausgerufen.«
Dott nickte langsam.
»Merke dir: Zwei Zufälle auf einmal sind kein Zufall! Der Bruder des Truchsesses hat dich sehenden Auges in den sicheren Tod geschickt. Ohne jeden Skrupel.«
Fehris meinte: »Ich gebe dem alten Furzer ungern recht, doch das sehe ich ähnlich. Dein zukünftiger Schwiegervater scheint dich nicht besonders zu mögen.«
Darüber musste der Ziegenhirte kurz nachdenken. Er schluckte. »Wisst ihr was, ihr habt recht. Manchmal vernebelt mir der Glaube an das Gute im Menschen die Sicht, sodass ich solche Hinterhältigkeiten nicht gleich bemerke.«
»Süß«, kommentierte Fehris mit eiserner Miene.
»Immerhin ist er lernfähig«, stellte Marl fest.
Fehris stöhnte: »Also gut, schick die Grolldrummel weg – am besten direkt in die Krallen des Schattenfürsten. Dann überlege ich mir, ob ihr euch mir anschließen dürft.«
»Niemals! Ich lasse mir doch von einer Frau nicht vorschreiben, was ich zu tun habe«, knurrte Marl.
Nur selten verlor der Ziegenhirte die Gelassenheit, weil er keinen Geduldsfaden, sondern eher ein Gedulds-Tau sein Eigen nannte. Doch nun drohte selbst Letzteres zu reißen. »Was seid ihr nur für zwei unerträgliche Meckerer! Mag sein, dass ich vieles zu rosig sehe, doch das ist immer noch besser als eure ewige Schwarzmalerei, die Herz und Geist vergiftet.«
»Zischt ab, euch braucht keiner – und ich schon gar nicht!«, antwortete Fehris.
»Sie soll sich ruhig mit den Dummbeuteln trösten«, knötterte Marl. »Was ist mir dir? Hast du etwa auch was gegen den armen Grolli?«
Dott stutzte und druckste.
Das reichte Marl offenbar aus. »Auch auf so einen grünschnabeligen Weltverbesserer wie dich kann ich gut und gern verzichten.« Dann erhob er sich, knallte ein paar Kupferlinge auf den Tisch und verließ das Gasthaus.
Mit einem spöttischen Grinsen starrte Fehris auf ihren leeren Bierkrug.
Die Männer nebenan jubelten Marl hinterher. »Einer ist aus dem Rennen!«, rief ein langer, dünner Kerl.
»Hast du noch was von den dreißig Silberlingen übrig?«, flüsterte Fehris.
Dott nickte langsam.
»Kannst du mir was davon geben? Mein Geld ist futsch, und ich muss dem Wirt mein Zimmer bezahlen. Aber so, dass die deinen Geldbeutel nicht sehen. Die haben schon für weniger getötet.«
Na klar, zum Bezahlen war der süße Naivling gut genug. Dott sehnte sich nach seiner Ziegenherde zurück, in deren Gemeinschaft es weder Hinterhältigkeit noch Verschlagenheit gab. Und keine Zicke war zickiger als Frau Fehris. Niemals! Bevor er ihr eine Antwort geben konnte, drang ein fürchterliches Kreischen, Zischen und Grollen in den Schankraum. Ein menschliches Brüllen ertönte. »FORT MIT EUCH! IHR MISTVIECHER!« Die Kampfgeräusche wurden noch lauter, noch fieser. »Ich brauche … HIIILFE!« Marls Stimme überschlug sich.
Im gleichen Augenblick geschah etwas Verwunderliches. Ohne auch nur einen Wimpernschlag zu zögern, sprang Frau Fehris auf und rief: »Der alte Idiot braucht uns! Schnell!« Entschlossen stürmte sie durch den Schankraum zur Tür. Auch Dott überlegte nicht lange und rannte ihr hinterher.