Grüner als Blut
Dieses Kratzen und Hacken, Schaben und Nagen! All die Spinnenbeine, die von unten über die Falltür huschten, all die Krähenschnäbel, die sich in die Fensterrahmen verbissen. Das Gasthaus war wie eine Schildkröte, die sich zwar in ihren Panzer zurückgezogen hatte, aber dennoch von Abertausenden Ameisen überrannt und langsam ausgehöhlt wurde. Fehris dachte nicht mehr darüber nach, ob
sie heute sterben würde, sondern nur noch darüber wie
. An den Auswirkungen des Spinnengifts ersticken oder von Monstern zerrissen werden – das waren wohl die beiden naheliegendsten Varianten. Vielleicht fand das Schicksal ja noch weitere.
»Komm, Fehris, du musst dich hinlegen!« In Marls rauer Stimme klang mit einem Mal so etwas wie Fürsorglichkeit mit – vermutlich eine Halluzination durch das Gift –, doch Fehris nahm diese Illusion von Geborgenheit nur allzu gerne an. Immer spürbarer breitete sich die Schwäche über sie. Es fühlte sich an, als blute das Fieber ihren Geist aus, worauf ihr Körper mit Krämpfen und Schüttelfrost reagierte. Sanft legte sich eine Hand um ihre Schultern, eine andere griff unter ihren Knien hindurch, dann schwebte sie. Wie in Trance legte sie ihre Arme um den Hals des Mannes, der sie trug. Seltsam – in dieser letzten aller Stunden empfand sie seinen Geruch nicht mehr als abstoßend. »Danke!«, brachte sie hervor.
In Ermangelung einer anderen Möglichkeit legte Marl sie auf dem größten der vier Tische ab. Er stand an der Außenwand, deren Fenster von einem Vorhang aus schwarzen Federn verdeckt war. Glücklicherweise hatte irgendjemand schon vor längerer Zeit Bretter als Einbruchschutz vor die Sprossenfenster genagelt, die nun einen zusätzlichen Schutz boten. Tollwütig schlugen die Narbenkrähen mit ihren Flügeln und Schnäbeln dagegen, ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben, gewillt, alles zu tun, um ihre Opfer zu erreichen. Das waren keine normalen Raubvögel mehr, sondern willenlose Bestien, die sich von einer fremden Macht gesteuert in ihren eigenen Untergang stürzten, nur um aus Leibeskräften zu dienen.
»Nein, Grolli, lass Frau Fehris in Ruhe!«, hörte sie Dotts junge Stimme wie von weit her an ihr Ohr dringen.
Marl richtete sich auf und legte die Stirn in Falten. Dabei hob er tadelnd einen Zeigefinger in die Luft.
Von einer Grolldrummel gefressen. Auch kein schöner Tod!
Hatte das Schicksal also doch noch eine dritte Variante für sie gefunden. Mit kraftlosen Fingern haschte Fehris nach Marls Ärmelsaum. »Halte mir das Vieh vom Leib, hörst du!«, raunte sie ihm zu. »Besser kurz und schmerzlos. Kein Feuer, keine Zähne, kein Gift!«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Ein Schiff ist erst verloren, wenn der Kiel splittert. So sagen es die Piraten.«
»Die Räuber sagen: Ein Kampf ist dann zu Ende, wenn man das Weiß in den Augen des Gegners sehen kann«, flüsterte sie und deutete auf das Fenster, wo die geifernden Schnäbel der Riesenkrähen so wild nach allen Seiten hackten, bis grünes Blut an den Butzenscheiben entlang rann.
»Räuber hatten noch nie viel Ahnung vom Sterben«, bemerkte Marl, was vermutlich eine Aufheiterung sein sollte.
»Vom Leben auch nicht.« Fehris’ Stimme brach. Liebend gerne hätte sie jetzt ihre Lider geschlossen und sich der unendlichen Müdigkeit ergeben, die über sie hereinbrach.
Doch die Grolldrummel verhinderte es, indem sie Dott entwischte und mit einem so mächtigen Satz auf den Tisch sprang, dass dessen Holzbeine bedrohlich knackten.
»Grolli!«, entrüstete sich Marl. »Das ist aber nicht die feine …« Jedes weitere Wort blieb ihm im Hals stecken, weil sich die haarige Bestie nun über Fehris beugte und erkennbar zu würgen begann.
»Halte ihn auf!«, schrie Dott. »Sonst spuckt er Frau Fehris noch …!«
Doch es war zu spät. Die rhythmischen Bewegungen in der Brust der Grolldrummel stoppten, ihre Augen verdrehten sich, ihr Kinn klappte nach unten und im nächsten Moment schwappte etwas Grünes, Glibberiges aus ihrem Mund, das mit einem unappetitlichen Klatschen auf Fehris’ Brustpanzer landete. »Igitt, da sind ja sogar noch Haare drin!«, entfuhr es ihr. Allein der Anblick der Grolldrummelkotze hätte unter normalen Umständen dafür gesorgt, dass Fehris sich ebenfalls ihrer letzten drei Mahlzeiten entledigt hätte. Man musste schon im Sterben liegen, um so etwas ertragen zu können. »Du widerwärtiger Schmodderhammel. Mach das weg!«, keuchte sie mit einem entsetzten Blick auf ihren geliebten Brustpanzer, der jetzt nicht nur vom Krähenblut grün war.
Marl und Dott schien es bei dem Anblick gänzlich die Sprache verschlagen zu haben. Die abstruse Situation hatte jedoch den Wirt hinterm Tresen hervorgelockt. Bleich und mit stockenden Schritten kam er auf sie zu, seine weit aufgerissenen Augen auf die Hinterlassenschaft der Grolldrummel gerichtet. »Das ist … Drummzopf!«, stammelte er.
Triumphierend hieb Grolli sich gegen die Brust.
»Was für ein Drummzopf?«, fragte Marl fassungslos.
»Ein uraltes Heilmittel! Nur wirksam, wenn es freiwillig von einer lebenden Grolldrummel gegeben wird. Schlachtet man die Viecher ab, um es aus ihren Mägen zu entnehmen, so wird es bitter und zerfällt.«
»Woher weißt du das denn, Wirt?« Marl sah nicht sehr überzeugt aus.
»Von einem betrunkenen Heilkundigen, der hier einst zu Gast war. Seine Mutter hatte vor vielen Jahren Freundschaft mit einem solchen Wesen geschlossen – das hat er mir jedenfalls erzählt. Eines Tages erkrankte sie am Sumpffieber, aber ihre Grolldrummel heilte sie mit dem Zeug, also mit Drummzopf. Später versuchte der Heiler, sich dieses Mittel anzueignen, doch so viele der haarigen Viecher er auch tötete …«
Ein misslauniges Grollen und Zähnefletschen bereitete seiner Erzählung ein Ende.
Fehris starrte die Bestie an, die immer noch breitbeinig über ihr stand. Zu allem Überfluss hob diese auch noch eine fellige Hand an und führte sie zum Mund. Und noch einmal zeigte das Vieh auf die grüne Grütze und dann auf ihr Maul.
»Oh nein! Auf keinen Fall werde ich das essen. Lieber sterbe ich!«
Die Grolldrummel schüttelte den Kopf. Brummelnd und fauchend wandte sie sich zu Marl um, als könnte dieser die Meinung der uneinsichtigen Patientin ändern.
»Ich bin der Ansicht, du solltest es versuchen!«, sagte der Alte.
»Ich auch«, pflichtete Dott ihm bei.
Fehris hätte gern geschrien. Dass die Grolldrummel von ihr runtergehen sollte, dass jemand die Kotze wegwischen und die Monster vor der Tür vertreiben sollte. Doch alles, was noch über ihre zitternden Lippen drang, war ein lahmes »Nein!«
»Bring mir einen Krug Bier. Dunkel und mit einer schönen Schaumkrone, wenn’s geht«, wies Marl den Wirt an.
»Du willst dich besaufen? Jetzt?« Ungläubig deutete der Mann auf die Falltür, an deren Fugen haarige Spinnenbeine hervorquollen, und die Fenster, wo gelbe Krallen durch grünes Blut kratzten.
»Wenn nicht jetzt, wann dann?«
Mit der jahrelangen Erfahrung eines Wirts, der die Bestellungen seiner Gäste niemals infrage stellte, verschwand der Herr des Hauses in Richtung Tresen. Dott flüsterte etwas in Marls Ohr, woraufhin dieser nickte.
»Was habt ihr zwei Deppen vor?«, flüsterte Fehris. Sie fühlte sich wie in einem Folterkeller.
»Wir stoßen auf unser nettes Zusammensein an«, antwortete Marl knapp, ehe er sich an die Grolldrummel wandte und so lange herumgestikulierte, bis diese verstand und schmollend gehorchte. Der Tisch wackelte, als sie mit einem plumpen Hüpfer hinuntersprang. Fehris’ fiebernder Blick blieb auf dem Glibberschleim hängen.
Kurz darauf kehrte der Wirt mit dem Bier zurück. Marl nahm es ihm aus der Hand, griff in die Grolldrummelgrütze auf Fehris’ Brust – sie hätte schwören können, er sah dabei glücklich aus – und warf eine faustgroße Portion davon in den Krug, woraufhin die Schaumkrone eine unappetitlich grüne Färbung annahm. Ehe Fehris widersprechen konnte, hatte der Alte bereits einen beachtlichen Schluck in sich hineingeschüttet. Er wischte sich die Reste aus den Bartstoppeln. »Ah! Lecker!« Schmatzend leckte er sich über die Lippen und reichte das Bier an Dott weiter.
»Auf den hilfreichen Heilkundigen!«, posaunte der Ziegenhirte heraus, wohl um sich selbst Mut zuzusprechen, dann kippte er sich das ekelhafte Gebräu ebenfalls hinter die Binde. »Gar nicht mal so schlecht, dieses … Drummzopf-Zeug!« Sein Gesichtsausdruck strafte seine Worte Lügen. Mit einem Mal wurde es ganz warm um Fehris’ Herz. Es musste der Atem des Todes in ihrem Nacken sein, aber es fühlte sich dennoch gut an. Sie würde nicht allein sterben.
»Und jetzt du. Hoch mit dir!« Etwas zu schwungvoll zog Marl Fehris in eine sitzende Position. Die Welt drehte sich vor ihren Augen. Von irgendwoher hielt Dott ihr den Krug mit dem grün schäumenden Bier entgegen.
»Nein, ich ... will nicht!«
»Nun komm schon, Frau Fehris. Wir haben es für dich schon probiert« Der Ziegenhirte zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Marl stützte sie, Dott führte das Trinkgefäß an ihre Lippen, der Wirt gaffte. Draußen hackten die Narbenkrähen gegen die Fenster und unten kratzten Spinnen an morschem Holz.
Ich habe versprochen, dich zu finden, Gordyn. Das ist für dich!
Die Grolldrummelkotze schmeckte wie Schneckenschleim. Aber sie schluckte alles davon – und behielt es bei sich.
»Wehe, das haarige Biest hat mich verarscht!« Begleitet von Dotts Applaus und Marls hintergründigem Grinsen sank sie zurück in die liegende Position und schloss die Augen. Sie war so unendlich müde! Sollte sie je wieder aufwachen, so wartete vermutlich ein neuer Kampf auf sie. Denn es würde nicht mehr lange dauern, bis die Ameisen-Armee den Panzer der Schildkröte durchlöchert hatte. Und dann konnte nur die Lichtgöttin persönlich sie noch retten.
Heiseres Geschrei riss Fehris aus ihren düsteren Albträumen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte, doch als sie ihre verklebten Lider öffnete, sah sie die rosafarbenen Schlieren des nahenden Sonnenaufgangs hinter dem blutverklebten Fenster. Einzelne Scheiben waren im Laufe der Nacht aus den Butzen gebrochen, wodurch das Gekrächze der Vögel nun lauter an ihre Ohren drang, doch die schützenden Holzlatten waren durch Bretter zusätzlich verstärkt worden. Zwei Tische verbarrikadierten die Tür. Bisher hielt die Festung aus Holz, Verzweiflung und Hoffnung. Fehris war, als hätte die Anzahl der Krähen abgenommen, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.
»Ich mache mir solche Sorgen um sie!«, jammerte Dott in einem Tonfall, der Fehris rührte. Er stand mit Marl am Tresen und nuckelte an einem Bier, ungeachtet der Monster, die weiterhin von allen Seiten in das Gasthaus einzudringen versuchten.
Der Alte rollte mit den Augen. »Sie hat das sicher gut weggesteckt.«
»Und wenn es zu viel für ihr zartes Gemüt war?«
»Zartes Gemüt?« Marl stand auf und zerquetschte mit seinem Fuß ein Spinnenbein, das sich allzu aberwitzig durch die größer gewordenen Löcher in der Falltür gearbeitet hatte. »Sie ist eine zähe alte Kuh, glaub mir, ich kenne mich damit aus.«
»Sie ist keine Kuh!«, entrüstete sich Dott.
Fehris richtete sich auf. »Und alt bin ich schon gar nicht!«, fuhr sie Marl an. Wie hatte sie nur glauben können, der verfluchte Stinker sei ihr wohlgesonnen. Allem Anschein nach musste man mindestens im Sterben liegen, um diesem Widerling etwas Freundlichkeit zu entlocken. Es hatte sicher am Spinnengift gelegen, dass sie in seiner Nähe so etwas wie Geborgenheit gefühlt hatte.
Seiner schmähenden Worte zum Trotz stand Marl hastig auf und kam zu ihr, gefolgt von seiner Grolldrummel. Hätte Fehris es nicht besser gewusst, so hätte sie ihm die Freude in seinen Augen beinahe abgekauft. »Du bist wohlauf – was für ein Glück! Da hat mein haariger Freund wirklich ganze Arbeit geleistet!« Lobend tätschelte er den Kopf der Bestie.
»Oder es liegt daran, dass ich so eine zähe alte Kuh
bin!«, zischte sie.
Einen kurzen Moment lang schien Marl nicht zu begreifen, was sie sagte, dann fiel endlich der Groschen. Er bog den Oberkörper zurück und lachte. »Haha, wir haben nicht von dir geredet, sondern von Haserl … Dotts Pferd!«
Noch schlimmer. Dann sorgt ihr euch also mehr um den Gaul als um mich!
Fehris zwang sich zum Durchatmen. Obgleich sie zugeben musste, dass auch sie um das Wohlergehen von Hott besorgt war, den sie draußen im Pferdestall so völlig seinem Schicksal überlassen hatten.
»Wie ist die Lage?«, fragte sie, anstatt das Thema zu vertiefen.
»Unverändert. Ein paar Scheiben sind aus der Fassung gebrochen und der Riegel der Falltür wird bald nachgeben. Wir haben alle Zugänge zusätzlich verbarrikadiert, sonst hätten wir die Nacht nicht durchgestanden. Jetzt vertreiben wir uns die Zeit mit Saufen, während wir auf unser Ende warten.«
»Ich muss auch was trinken, solange es sich nicht um das popelgrüne Erbrochene eines Fellknäuels handelt.« Sie stieg von dem Tisch herunter und tastete nach ihren Waffen. Alle drei Sterne waren noch in ihrem Beutel und irgendwer – vermutlich Marl – hatte sich sogar die Arbeit gemacht, ihr Schwert und ihren Brustpanzer von Krähenblut und Grolldrummelgrütze zu befreien. Kurz dachte sie darüber nach, den Alten für seine unerlaubte Annäherung an ihre intimen Körperstellen zu rügen, aber dann ließ sie es bleiben. Zu viel Zickigkeit so kurz vor dem Tod stand niemandem gut zu Gesicht.
»Frau Fehris, hat dir schon mal jemand gesagt, dass deine Wangen im Sonnenaufgang sehr hübsch leuchten?«, versuchte der Ziegenhirte etwas Nettes zur Aufheiterung beizutragen.
Marl sah erst Fehris an, dann schweifte sein Blick zum Fenster, wo das Licht eines orangeroten Feuerballs durch die fehlende Butzenscheibe drang. Gleichzeitig erstarb das Flattern der Flügel. Eine Narbenkrähe nach der anderen zog sich zurück, manche fliegend, andere hüpfend. Auch unterhalb der Falltür, in der Wildererkammer, verebbten die Kratzgeräusche der Fieberspinnen, als hätte jemand alle Bestien des Waldes zum Essen gerufen – oder zum Schlafengehen.
»Was geschieht hier?«, fragte der Wirt. Er sah verwirrt aus.
Dott rannte zum Fenster. »Sie ziehen ab«, staunte er. Lange starrte er durch das verschmierte Glas, fast ohne zu atmen, dann riss er beide Arme in die Luft und jubilierte: »Tatsächlich! Das Sonnenlicht vertreibt alle Monster. Wir müssen nicht sterben!« In seiner Euphorie umarmte er erst Marl, dann Fehris, ehe er mit großen Sprüngen zur Tür hinausstürmte, um nach »Haserl« zu sehen.
Marl rannte ihm zur Sicherheit hinterher, doch schon nach kurzer Zeit kam er zurück und verkündete, dass die Luft tatsächlich rein war. Alle Bestien – mit Ausnahme der Grolldrummel – waren verschwunden.
»Das ist nicht normal«, sagte Fehris. »Die Fieberspinnen und Narbenkrähen, die ich
kenne, fürchten das Tageslicht nicht.«
»Und die Viecher, mit denen ich bislang Kontakt hatte, waren auch weitaus kleiner und weniger aggressiv. Das heißt …«
Sie sahen einander ernst an.
»… irgendjemand hat uns eine Schar verzauberter Mörderbestien auf den Hals gehetzt«, vollendete Fehris seinen Satz.
Marl nickte. »Wir müssen dringend darüber reden, wie es nun weitergehen soll.«