Die Ausdehnung von Marktlogik und staatlicher Macht ging in beiden Epochen Hand in Hand. Die beliebte Gegenüberstellung „freier Märkte“ und „staatlicher Bürokratien“ ist daher reine Fiktion. Die Schaffung von Märkten ist sowohl in der Antike als auch in der Neuzeit unauflöslich mit kriegführenden Staaten verbunden.11
FABIAN SCHEIDLER
Ich drehe gedanklich das Rad der Zeit jetzt noch weiter zurück, als homogene Gesellschaften noch die Regel waren. Werfen wir gemeinsam einen Blick auf frühere Agrargesellschaften. Die Menschen waren sesshaft geworden, bewirtschafteten den Boden und auch ihr Ziel war ein gelungenes Leben – was auch immer das für sie war. Vielleicht war es schon gelungen, wenn man den nächsten Winter überlebte.
Die Menschen lebten in kleinen Strukturen: Familien, Sippen, Clans, kleinen Dorfgemeinschaften und alles, was sie an Werten schaffen wollten, mussten sie mit eigener Körperenergie bewerkstelligen oder auf die Energie von Nutztieren zurückgreifen. Um Korn zu ernten, mussten sie den Boden bewirtschaften; um Wärme in der Hütte zu haben, mussten sie Holz hacken. Von nichts kam nichts. Was ich nicht an Holz herbeigeschafft hatte, konnte ich auch nicht verbrennen. Die Menge an Korn im Speicher für den Winter musste dem Bedarf – der Größe des Dorfes und damit der Anzahl der hungrigen Mäuler – entsprechen und war abhängig von der Ackergröße und der Qualität und Quantität der Ernte. Das war oft Schicksal, die Natur ist eben nicht immer gerecht. Was da war, konnte verbraucht werden; was nicht da war, war nicht da. Man konnte nicht in die Zukunft reisen und sich Korn aus der nächstjährigen Ernte borgen. Meinte es die Natur gut und es gab reiche Ernte, war man dankbar, bedankte sich beim lieben Gott oder anderen Göttern und sah dem Winter gelassen entgegen. Wenn dazu noch tragischerweise bei einem Felssturz eine beträchtliche Anzahl von spielenden Kindern und Jugendlichen verschüttet wurde, war das beweinenswert, aber letztendlich für den Wohlstand der Gemeinschaft von ökonomischen Vorteil, denn man konnte nun die Überschüsse an Korn gegen andere Waren tauschen. Viele gesunde Kinder und eine schlechte Ernte verringerten den Wohlstand der Gemeinschaft. Die gesunden Kinder wurden über den Winter krank und schwach und die Alten und Schwachen überlebten den Winter ohnehin nicht. Nachdem man zukünftige Ernteausfälle nicht prognostizieren konnte, machte es auch keinen Sinn vorausschauend die Nachwuchsproduktion einzustellen, um den Wohlstand auch bei schlechter Ernte zu erhalten. Und Kindermachen macht ja auch Spaß, auch wenn die hungrigen Mäuler bei schlechten Bedingungen zu einer wirtschaftlichen Belastung für die kleine Gemeinschaft werden. Zu wenig Korn im Speicher bedeutet Hunger. Hunger bedeutet wenig Energie, wenig Energie bedeutet zu wenig Kraft zum Holzhacken. Kein Holz, kein Feuer: Erfrieren.
Was hätten diese Menschen damals wohl gegeben für einige persönliche Energiesklaven, die ihnen die körperlichen Anstrengungen abnehmen würden, für die Möglichkeit Liebe zu machen, aber dadurch keine zusätzlichen hungrigen Mäuler zu bekommen und für die Möglichkeit in die Zukunft zu reisen und von dort Korn in die Gegenwart zu bringen. Ich denke, sie hätten dafür ihre Seele verkauft oder zumindest den Erstgeborenen am Altar geopfert. Sie hätten die Möglichkeiten für mehr Wohlstand beim Schopfe gepackt. Genauso wie wir, weil jeder als Leben das Leben will inmitten von anderem Leben, das auch Leben will, letztendlich aus Eigennutz handelt.
Agrargesellschafften hatten es nicht leicht. Wie konnte man aus diesem Kreislauf aussteigen, ohne in die Zukunft zu reisen? Ganz einfach: Man muss ja nicht gleich in die Zukunft reisen, um Korn zu bekommen, man konnte sich auf den Weg machen und das Korn aus der Gegenwart ins eigene Dorf bringen, indem man es anderen Dörfern einfach wegnahm. Rauben und Plündern war einfacher – und auch unterhaltsamer als Ackerbau. Und wenn es einmal gut gelang, weil die Gegenwehr gering war, bekam man natürlich Lust auf mehr. Mehr Raub und Plündern bedeutete mehr Wohlstand, allerdings war es auch mit Risiko behaftet, denn man konnte in fremden Dörfern auf unerwartete Gegenwehr stoßen und fern der Heimat erschlagen werden. Wobei sich ein Heldentot auf der persönlichen Vita besser macht, als daheim in der Hütte zu verhungern.
Um erfolgreich zu rauben und zu plündern, war Gewaltbereitschaft die Voraussetzung. Man musste schon ein paar erschlagen, um an die Schätze zu kommen und lebte fortan in Angst vor der Rache der Beraubten. Feiner wäre es, als Räuber und Plünderer mit den Beraubten und Geplünderten gar nicht erst in Kontakt zu kommen. Dazu kann man Stellvertreter schicken, die dann aber unter Folter möglicherweise den Namen der Auftraggeber preisgeben und die Beraubten ihrerseits wiederum ihre Stellvertreter schicken, um grausige Rache zu üben. Die eleganteste Lösung, um als Räuber und Plünderer unerkannt und geachtet zu bleiben, ist nach wie vor: Jemanden zu berauben, den es noch gar nicht gibt. Jemanden, der noch gar nicht geboren ist.
Wenn man heute als Jugendlicher auf seine Zukunftsaussichten blickt, Pensions- und Berufsaussichten, Klimawandel, Bankenkrisen, Zuwanderung, Spaltung der Gesellschafft, dann kann man schon wütend auf uns werden, die wir unbedacht in Saus und Braus gelebt haben. Die vielbeschworene „Insel der Seligen“ wird die nächste und die übernächste Generation systematisch geplündert haben. Unser Wohlstand beruht zu einem guten Teil auf Raub und Plünderung. Heißt das jetzt, dass wir, die Nachkriegsgeneration, böse verantwortungslose Menschen sind? Zum beträchtlichen Teil wohl nicht, wir haben einfach nur die Gelegenheiten beim Schopf gepackt. Und: Wir haben uns nie die Frage gestellt, warum es uns eigentlich so gut geht und wer die Rechnung für den Wohlstandszuwachs dereinst bezahlen wird. Wir hatten einfach Vertrauen. Vertrauen in die Politik, in die Institutionen, in die Wirtschaft, in die Banken. Wir hatten Vertrauen in die vermeintlichen Eliten, weil es immer etwas zu verteilen gab. Damit ist jetzt Schluss. Die tatsächlichen Eliten, die haben vorgesorgt und ihre Schäfchen im Trockenen. Uns, so lese ich auf orf.at, empfiehlt man indessen Zwieback einzulagern.
Wiens Haushalte sollen Zwieback lagern. In Deutschland ist dazu aufgerufen worden, für den Krisenfall Lebensmittel einzulagern. Auch in Wien gibt es eine Notfallliste für Haushalte. Die Lagerung von Trinkwasser sei nicht notwendig – von Zwieback und Teigwaren aber schon. Im Falle eines großflächigen Stromausfalls muss man sich in einem Notfall keine Sorgen um das Wiener Hochquellwasser machen, denn „95 Prozent der Haushalte sind aufgrund des Gefälles von der Quelle mit Wasser versorgt“, sagte Wolfgang Kastel, Geschäftsführer von „Helfer Wiens“, gegenüber Radio Wien … Die Präventionseinrichtung hat bereits vor Längerem eine Notfallliste für Wiener Haushalte veröffentlicht. In Deutschland sorgt derzeit eine solche Checkliste für Verunsicherung. Die Bevorratungsliste, wie sie genannt wird, ist für Kastel nur vernünftig: „Es macht einfach Sinn, sich zu bevorraten, für kleinere Anlassfälle wie Krankheiten und Stromausfälle. Sich mit Sicherheit zu beschäftigen hat nichts mit Angst, sondern mit Vernunft zu tun.“
Und damit sind wir im Jahr 2016 wieder beim Korn im Speicher in Form von Zwieback und Marmelade angelangt. Die verderbliche Butter kann man sich im kleinen Anlassfall dazudenken. Na ja, dann schauen wir einmal, was für „kleinere Anlassfälle“ über uns hereinbrechen werden. Lassen wir uns einfach überraschen. Eine kleine Grippe, ein verstauchter Knöchel, ein Wasserrohrbruch vor ihrer Haustüre? Vielleicht aber bleiben eines Tages die elektronisch gesteuerten Billa-Türen verschlossen, weil der Hausverstand am Weg zur Arbeit sich verirrt hat. Jedenfalls ist es sinnvoll vorzusorgen, was auch immer kommen mag. Andere haben auch schon vorgesorgt und eingelagert. Ein lieber Freund unserer Familie ist Büchsenmacher und arbeitet in einem Waffengeschäft. Er kann bestätigen, dass fleißig eingelagert wird. Das Geschäft mit Verteidigungswaffen blüht, die Umsätze erreichen Rekordzahlen, kurzläufige Schrotgewehre – die klassische Hausverteidigungswaffe, mit der auch ungeübte ihr Ziel nicht verfehlen können, im schlimmsten Fall sich selbst den Vorderfuß wegschießen – sind ausverkauft. Gängige Munition Kaliber 9 mm ist teilweise vergriffen, beim Großhandel wurden 120.000 Schuss bestellt, geliefert wurden 1.000 Schuss. Auch Polizisten und andere Behördenbedienstete, so berichtet mir mein Freund, lagern privat Munition ein. Das ist kein gutes Zeichen. Übrigens: Mein Freund arbeitet nicht in Dallas/Texas, sondern mitten in Wien. Womöglich handelt es sich dabei nur um vollkommen überzogene Reaktionen auf eine Ungewissheit, welche die von den politischen Eliten beschworene Glückseligkeit „Im-Vergleich-zu-anderen-Ländern-stehen-wir-noch-gutda“ als nicht mehr aufrechtzuerhaltende Illusion entlarvt. Natürlich im Vergleich zum Strampeln im kalten Wasser ist es selbst am dünnen Eis noch recht komfortabel, aber das Eis wird immer dünner und dünner.
Der uns als Krieg gegen den Terror verkaufte Krieg ums billige Öl wird immer härter und offener geführt und Mitgliedsstaaten der EU – dem größten Friedensprojekt aller Zeiten – machen sich als Handlanger der us-geführten NATO nützlich und entsenden Truppen und Kriegsmaterial in die Krisengebiete. Die Russen haben die Herausforderung angenommen und bomben eifrig in Syrien. Auch die Türkei möchte ein Stück vom Kuchen abbekommen. Nebenbei macht man in Europa Milliardengeschäfte mit Waffen und beklagt die Flüchtlingsströme. Scheinheiligkeit und Doppelmoral! Deutschland beliefert kurdische Kämpfer mit dem Panzerabwehrwaffensystem „MILAN“.
Frau Merkel ist berührt und freut sich über jeden neuen Milan und teilt ihre Freude beim CDU-Zukunftskongress mit Gleichgesinnten: „Wir haben ihnen [den Peschmerga] dieses Panzerabwehrsystem ‚Milan‘ geliefert und mich hat es dann sehr berührt, als mir ein Vertreter der Kurden im Nordirak erzählt hat, dass das Wort ‚Milan‘ jetzt ein Vorname für Babys ist, für männlich Babys, weil sie so entzückt sind von der Wirkung dieser Waffe“.12
Wie man am Gelächter im Saal hören kann, freut sich auch das Publikum. Und auch Frankreich rasselt mit den Zähnen und schickte nach den Terroranschlägen von Paris den Flugzeugträger Charles de Gaulle ins östliche Mittelmeer. Frankreich ist im Krieg. Vielleich ist dann Herr Hollande auch von jedem neuen kleinen syrischen Charles entzückt. Je suis Charlie. Die USA und Russland führen im Nahen Osten einen Stellvertreterkrieg und die NATO-Bündnispartner mischen mit. Vielleicht bin ich da ein wenig übersensibel, aber ich mag es nicht, wenn Großmächte mit den Säbeln rasseln, ich habe da kein gutes Gefühl dabei.
Die Schulden der HYPO versucht man noch durch Plünderung unserer Brieftaschen zu begleichen. Auch wenn der Untersuchungsausschuss wohl substanziell ergebnislos beendet und diese Akte offiziell geschlossen sein wird, die Rechnung dafür ist noch lange nicht bezahlt, das Geld dafür noch gar nicht verdient. Und dann gibt es da noch die Bank Austria, dann die Raika und „Die Erste“ – die dann vielleicht „die Letzte“ gewesen sein wird, weil sie wie alle heimische Banken, „was die Ostgeschäfte betrifft, gut aufgestellt ist“ – oder eben war. Jetzt fällt mir gerade mein Gespräch mit Rainer Voss ein. Ja, da ist ja noch die Deutsche Bank. Sie wird als Systemrelevant und daher gefährlich eingestuft. Sie hat, so hört man, schon etwas Schieflage. Wie hoch das Kippmoment ist, und wie viel es noch braucht, um diesen Koloss zum Kippen zu bringen, wissen nicht einmal die Experten. Sie werden uns aber mit Sicherheit sagen können, warum sie gekippt ist und auch, warum kein Ökonom das zuvor wissen konnte. Und liegt einmal die Deutsche Bank am Boden, dann sind wir froh, dass wir gut vorbereitet sind und auf ein knuspriges Stück Zwieback zurückgreifen können.
Aber hoffen wir, dass Europa auf diesen Fall genau so gut vorbereitet ist, wie auf die Flüchtlingsströme 2015. Dass alle Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft an einem Strang ziehen und keine nationalen Regierungen aus Eigennutz handeln werden. Darauf wollen wir alle hoffen. Ja, und ich als Teil der Babyboomer-Generation hoffe, dass die Antibabypillen-Generation meine Pension bezahlen wird und mich, wenn ich selbst dazu nicht mehr in der Lage sein werde, mit Brei füttert und bei Bedarf die Windeln wechselt. Ganz ehrlich, das tue ich nicht. Das will ich auch nicht, da müsste ich mich fast ein bisschen schämen. Man kann auch würdiger abtreten. In einer kleinen Hütte, wenn das Korn im Speicher verbraucht und das letzte Brennholz verbrannt ist, verhungern und erfrieren. Das Leben ist eben nicht gerecht.
Jetzt ehrlich. Soll man, wenn man am Eis steht und es knirschen hört, den Kopf in den nicht vorhandenen Sand stecken und seinen Weg fortsetzen? Ist das klug? Ist es nicht höchste Zeit innezuhalten und hinzuhören, in alle Richtungen Ausschau zu halten und wachsam zu sein. Den Atem und den Puls herunterfahren, um die sich ankündigende Panik schon im Entstehen zu blockieren, langsam und vorsichtig ein paar Schritte – wenn nötig auch bäuchlings – zurück wagen, auch wenn die Herde sich unaufhaltsam weiter und weiter bewegt und das immer schneller? Als könnte man im Zentrum des halbgefrorenen Sees im Laufschritt dem kalten Wasser entkommen, wenn das Eis bricht einer Gazelle gleich von einer Scholle zur anderen hüpfen und so das sichere Land erreichen. Man hört es knirschen und diskutiert munter darüber, ob und wie lange das Eis noch hält. Die Frage, die sich jeder für sich stellen sollte: Kann ich schwimmen? Und wenn ja, wie lange halte ich es im eiskalten Wasser aus? Wann war ich überhaupt das letzte Mal im kalten Wasser, habe ich diese Erfahrung jemals in meinem Leben gemacht? War ich zeit meines Lebens ein Warmduscher, aber Kalttrinker, war meine einzige Erfahrung mit eiskaltem Wasser gemeinsam mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet. Wie lange hat DiCaprio im Eiswasser überlebt? Spätestens jetzt wäre es Zeit für eine zünftige Panikattacke. Zeit, die Komfortzonen zu verlassen! Harte Worte, stimmts? Habe ich mich jetzt bei ihnen unbeliebt gemacht? Ja? Gut.