Zu unseren Zeiten waren die größten Probleme der Welt – zumindest in der Theorie – gelöst. Für die Jungen von heute sind die großen Fragen eben nicht beantwortet. Wir alle glauben, dass Demokratie etwas Gutes ist, aber wir wissen nicht, wie wir diese erhalten können. Die Jungen müssen eine Antwort darauf finden. Dazu braucht es andere Charaktere, eine andere Philosophie, ein anderes In-der-Welt-Sein. Die fette Nachkriegszufriedenheit hat dem menschlichen Geist das Feuer ausgetrieben. Furchtbare Dinge geschehen, wenn ein Weltsystem auseinanderbricht. Siehe Syrien, das könnte nur der Anfang sein. Ich wünsche diese Katastrophen nicht herbei. Aber ich denke, dass die neue Generation von Europäern, Amerikanern und anderen großartig sein muss. Und zwar viel mehr, als es die Generation vor ihnen sein musste. Denn sie müssen eine neue Welt erschaffen.13
WALTER RUSSEL MEAD, PROFESSOR FÜR FOREIGN AFFAIRS UND HUMANITIES
Noch hält das dünne Eis und sie können sich auf ein kaltes Bier und eine warme Dusche freuen. Sie sollten sich dabei aber Gedanken machen, was zu tun ist. Nicht was die anderen für sie tun sollten, könnten und müssten, sondern was sie tun können, um die Zukunft mitzugestalten und für kleinere Anlassfälle gewappnet zu sein. Zwieback wird nicht reichen. Es ist ihr gutes Recht unzufrieden, besorgt oder gar wütend zu sein. Auf wen auch immer, aber fangen sie am besten auch gleich bei sich selber an und reflektieren sie, in welche Fallen sie in der Vergangenheit gelaufen sind. Wo es ihnen leicht gemacht wurde, das eigene Arschlochverhalten auszuleben, ohne an die Folgen zu denken. Falsche Versprechen, Übermut, Leichtsinn, kurzfristiges Denken haben uns aufs Eis geführt und wir versuchen uns nun, mit dem gleichen Denken ans sichere Land zu bringen. Das wird nicht funktionieren, wir werden Umdenken müssen, weil alles in Bewegung ist und uns ein Wandel, in welche Richtung auch immer, bevorsteht.
Bevorsteht ist falsch, wir sind bereits mittendrin. Wir sind am besten Weg, unsere Freiheit zu verlieren und das freiwillig, weil Freiheit auch Verantwortung bedeutet, wollen wir uns vor ihr drücken. Der Soziologe Harald Welzer skizziert in seinem Buch „Die smarte Diktatur“ die Furcht vor der Freiheit: „Die Furcht vor der Freiheit und vor der Verlassenheit des Einzelnen sind die gefährlichsten Antriebskräfte, die zum Kampf gegen die Moderne und ihre Freiheitszumutungen führen können. Diejenigen, die die Werte und die Praxis der modernen Zivilisation bekämpfen, müssen nicht so aussehen wie die Nazis, wie sie uns in Hollywoodfilmen vorgeführt werden. Sie müssen keine Uniformen tragen und Märsche gut finden. Sie müssen auch nicht auftreten wie Skinheads und Neonazis und ,Freiwild‘ gut finden. Sie müssen auch nicht aussehen wie die Mörder und Mörderinnen des IS. Die alle bieten uns den Vorteil, dass wir sie als fremd und feindselig erkennen können; wir haben keine Schwierigkeiten damit, gegen sie vorgehen zu wollen. Schwieriger ist es aber mit den Gefährdungen von Freiheit und Demokratie, die aus dem Inneren der freien Gesellschaft selbst entspringen. Deren Vorreiter sehen nämlich genauso aus wie sie und ich oder wie unsere Kinder. Sie hören auch dieselbe Musik, gehen in dieselben Clubs, sehen dieselben Filme, scheinen dieselben Ansichten zu haben wie wir. Es könnte aber auch sein, dass sie unsere Ansichten so weit geformt haben, dass wir nur noch glauben, es seien unsere, während es längst schon ihre sind. Kurz: Ich fürchte, heute haben wir es mit einem neuen Phänomen zu tun; einer freiwilligen Kapitulation vor den Feinden der Freiheit. Die findet statt, weil die heutigen Freiheitsfeinde nicht in Uniformen und Panzern daherkommen. Sie sagen sehr freundlich, dass es ihnen um die Verbesserung der Welt ginge. Sie sind smart. Sie fragen nur nie, ob sie jemand um die Verbesserung der Welt gebeten hat.“ Er sieht in den digitalen Möglichkeiten und auch in den sozialen Netzwerken einen Angriff auf unsere Freiheit: „Genauer gesagt: Die digitalen Möglichkeiten der Einführung von Selbstzwangstechnologien sind uferlos. Heute muss man schon daran erinnern, dass die Zeit nicht so lange zurückliegt, in der es digitale Überwachung überhaupt noch nicht gab … Die Skandale der Übertretung von Bürger- und Völkerrecht seither sind unzählbar; das eigentlich Erstaunliche dabei ist die ausbleibende Beunruhigung auf Seiten der Bevölkerung in den westlichen Demokratien darüber, dass hier die Grundvoraussetzung von Rechtsstaatlichkeit systematisch unterminiert wird … womit wir de facto konfrontiert sind, ist eine staatlich-privatwirtschaftliche Formation zur Erzeugung von informeller Macht über Menschen. Diese Formation macht die totale Überwachung von Menschen so perfekt umsetzbar wie noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit … Denn dabei geht es um die Macht, die formal freie Menschen übereinander ausüben. Weil es die Möglichkeit dazu gibt.“
Damit sind wir wieder bei den Möglichkeiten. Menschliches Handeln aus Eigennutz – auch Bequemlichkeit dient ja kurzfristig dem eigenen Nutzen – kombiniert mit angebotenen Möglichkeiten, ökonomischen, technischen, gesellschaftlichen. Das ist der hochprozentige Cocktail, der uns nach und nach die Kontrolle über unser Dasein verlieren lässt und unsere kulturellen Werte und gesellschaftlichen Errungenschaften langfristig gefährdet. Die fortschreitende Digitalisierung von Arbeitsprozessen wird ein Übriges dazu tun und all die „bequemen Arbeitsplätze“ wie ein Industriestaubsauger wegschlucken. Und der frisst nicht nur den Staub, sondern auch den Teppich und den Boden, auf dem unser Wohlstand und der soziale Friede stehen.
Der Chefredakteur der Gratiszeitung „Heute“, Herr Christian Nusser, meinte zu mir in einer TV-Diskussion, ich sei ein Pessimist und ein Schlechtredner. Das mag aus seiner Sicht stimmen, dafür bin ich kein Schönschreiber im Dienste der Parteien, finanziert mit Steuergeld. Aber bin ich „ein Pessimist und ein Schlechtredner, einer der unbegründete Ängste schürt und die Menschen verunsichert“ oder bin ich einer der wenigen nüchternen Gäste einer feuchtfröhlichen Party, die sich langsam dem Ende zuneigt, und jemand, der sich Gedanken darüber macht, wie man die illuminierten, aber auch derangierten Partygäste sicher nach Hause bringen kann. Wer heute Verantwortung übernehmen will, wird nicht darum herumkommen, das Arbeitslicht im Partyraum einzuschalten und die Unmutsäußerungen der Gäste in Kauf zu nehmen.
„In Wahrheit ist jeder, der einen Schreibtisch vor sich hat, potenziell eine gefährdete Spezies.“14 Bundeskanzler Christian Kern wird sich mit dieser Aussage nicht viele Freunde machen, nicht unter den Wählern und auch nicht in seiner Partei. Aber genau darum geht es: Politik hat nicht die primäre Aufgabe, sich Freunde zu machen und dem Wahlvolk nach dem Mund zu reden. Wer heute Politik macht, um Wahlen zu gewinnen, wer nicht den Mut hat, unpopulär zu sein, handelt verantwortungslos. Diese Zeiten sind vorbei und die Rechnung schon teilweise präsentiert. Wer wachsam ist, kann dies nicht negieren. Es scheint, als würde kein Stein auf dem anderen bleiben. Unglaublich, mit welcher Rasanz sich die Dinge verändern. Alles ist im Laufen. Nur etwas läuft ständig hinterher und will nicht wahrhaben, dass es für sie bereits gelaufen ist: Der Großteil der heimischen Polit-Elite und ihre verkrusteten Strukturen, manche von ihnen glauben ja fest daran, dass das Internet nur eine vorübergehende Erscheinung ist und der Bedarf an Mindestsicherungen wieder zurückgehen wird – man muss nur fleißig Zäune bauen.
Am 14. 10. 2016 wird auf ORF.at folgender Bericht veröffentlicht. Es wird nach wie vor am Image gearbeitet und dabei die Lebensrealität der Menschen negiert, aber machen sie sich dazu ihre eigenen Gedanken:
ÖVP will sich kantigeres und emotionaleres Profil geben. Um Profilschärfung geht und ging es gestern und heute bei der Teamkonferenz der ÖVP. Bundesparteiobmann Reinhold Mitterlehner und Generalsekretär Werner Amon haben 150 hauptamtliche Funktionäre aus den Landes-, Bezirks- und Teilorganisationen der ÖVP in Wien zusammengerufen, um über die Schwerpunkte der Herbstarbeit und die Markenpositionierung der ÖVP zu informieren. „Wir wollen den Wirtschaftsstandort stärken, den Sozialstaat neu denken und den Menschen Sicherheit im Land garantieren“, so Mitterlehner. Wichtig ist dem Vizekanzler und ÖVP-Chef auch der Grundsatz, dass Leisten vor Verteilen komme und nicht umgekehrt. „Solidarität mit jenen, die wirklich Hilfe brauchen, aber auch Solidarität mit jenen, die das gesamte System mit ihren Steuern und Abgaben finanzieren“, forderte Mitterlehner.
„Es geht darum, die ÖVP kantiger und emotionaler zu machen. Es geht um eine Schärfung des Profils der ÖVP“, sagte ÖVP-Generalsekretär Amon der APA. Von einer Einstimmung auf etwaige Neuwahlen im kommenden Jahr und den dazu passenden Wahlkampf will Amon aber nicht reden. „Ich bin nicht nur ein Gegner eines Wahlkampfes, sondern auch ein Gegner von vorgezogenen Neuwahlen. Die Bürger wollen, dass die Regierung und das Parlament arbeiten.“ Dass der Werber Alois Schober für die ÖVP bereits ein Wahlkampfpapier ausgearbeitet hat, das der Partei ein distanziertes, kaltes und unemotionales Image attestiert und für den kommenden Wahlkampf deshalb eine positive Emotionalisierung empfiehlt, wollte Amon nicht kommentieren.“ Amon spricht lieber von einem Markenkernprojekt. „Wir wollen, dass der Leistungsbegriff, der manchmal als kalt und unnah dargestellt wird, wieder positiv besetzt wird. Wir stellen den Angstmachern die Mutmacher gegenüber. Die „Angstmacher“ sieht Amon etwa in der Debatte über das CETA-Freihandelsabkommen und in der Migrationspolitik am Werk. Vizekanzler Mitterlehner soll dabei offenbar als „Mutmacher“ positioniert werden. Den Auftakt dafür bildet Mitterlehners groß inszenierte Grundsatzrede zur Wirtschaftslage Österreichs am 21. Oktober in der Aula der Wissenschaften.
(Anmerkung Roland Düringer: Alois Luigi Schober war im Oktober 2016 Gast im Vernehmungszimmer der „Gültigen Stimme“. Er erzählte mir stolz, dass er siebzehn Wahlkämpfe geführt und nur einen verloren hat. Sein schönster Sieg war der Überraschungssieg von Alfred Gusenbauer im Jahr 2006. Mit dem Slogan „Wohlstand gerecht verteilen“ gelang damals die Emotionalisierung der Wähler, meint der Werbeprofi Schober. Ich konnte es mir nicht verkneifen und fragte ihn, ob man für so einen Satz tatsächlich von irgendjemanden Geld bezahlt bekommt. Ja, das tut man und das nicht zu knapp – und steuerfinanziert.)