DIE TREUE DER WÄHLER

Spätestens nach dem ersten Wahlgang zur Bundespräsidentenwahl ist die politische Nachkriegsordnung der Zweiten Republik ins Wanken geraten. In einem Artikel für die Schweizer Wirtschaftszeitung „Finanz und Wirtschaft“ analysiert der österreichische Wirtschaftsphilosoph Rahim Taghizadegan dieses einschneidende Ereignis wie folgt:

Mit der Präsidentschaftswahl schrammte die österreichische Nachkriegsordnung nicht an ihrem Ende vorbei, sondern weil diese Ordnung auf der Kippe steht, war die Wahl so knapp. Österreich erscheint dieser Tage wieder einmal als die kleine Welt, in der die große ihre Probe hält. Die dominanten Deutungen sehen Abstiegsängste in einem der wohlhabendsten Länder als Nährboden eines demokratiebedrohenden Extremismus – und führen in die Irre. Das Erfolgsmodell Österreich – als vielgepriesene Insel der Seligen – ist weitgehend barocke Fassade, hinter der die Balken erschreckend morsch sind. Es handelt sich weniger um Täuschung als um Lebenslügen, die man sich immer krampfhafter selbst einzureden sucht … In Österreich lebt es sich noch immer ganz gut – durch Kapitalkonsum in jeder Hinsicht. Das – insbesondere kulturelle – Kapital des Landes ist beeindruckend, aber nicht unendlich. Wie Deutschland weist Österreich Reste eines hohen Ethos von Leistungsbereitschaft und Vertrauenswürdigkeit auf, nur etwas gemildert durch Gemütlichkeit und Schlampigkeit. Letzteres macht einen wutgetriebenen Wandel in Österreich wahrscheinlicher als in Deutschland, denn die Vertrauensseligkeit ist eben ein wenig geringer, und die Verhältnisse sind etwas schlampiger … Man kann nicht alle Probleme Österreichs der intellektuellen Inkompetenz eines Werner Faymann in die Schuhe schieben. Dieser war ein machtbewusster Mann des Parteiapparats ohne jede Erfahrung oder auch nur Ausbildung abseits dieser Strukturen, der als Bauernopfer gehen musste, um die Strukturen zu retten. Ohne den fliegenden Personalwechsel in der Regierung knapp vor der Stichwahl für das Präsidentenamt wäre es wohl zum Sieg Hofers gekommen. Der neue Kanzler Christian Kern gab neue Hoffnung, als hemdsärmeliger und unverbrauchter „Mann der Wirtschaft“ (Parteikarriere im steuerfinanzierten Staatsbetrieb) die österreichischen Lebenslügen noch einmal frisch anstreichen zu können. Am Bundespräsidenten wurde bislang die Qualität am meisten geschätzt, nicht negativ aufzufallen und gemütlich in der Hofburg als Ersatzkaiser gute Miene zum Spiel der Parteien zu machen. Dieses Anforderungsprofil wird der„situationselastische“ Van der Bellen gut erfüllen. Norbert Hofers knappe Niederlage war ein Wink mit dem Zaunpfahl an das Parteienkartell, die Wähler beim Plündern des Landes nicht zu kurz kommen zu lassen – die Massenzuwanderung weckt entsprechende Sorgen.

Hofers FPÖ bloß als „rechtsextrem“ zu verunglimpfen, geht am Kern der Sache vorbei. Sie gewann v.a. Wähler der „linken“ SPÖ hinzu, während die „rechte“ ÖVP im nationalen Schulterschluss für den „linksextremen“ Kandidaten Van der Bellen warb. Diese Kategorien sind längst überholt. In Österreich hat jede Partei notwendigerweise irgendwo unschöne Wurzeln in der Vergangenheit, immerhin waren die Nationalsozialisten eine Bewegung der gesellschaftlichen Mitte, der Kleinbürger und Halbgebildeten. Die Kontinuität zur FPÖ ist keinesfalls grösser als etwa zur SPÖ, eher umgekehrt, und der Faschismus (entgegen Stalins Diktion nicht identisch mit Nazismus) enger mit der ÖVP verbunden. Wesentliche Forderung der FPÖ ist eine Ausweitung direktdemokratischer Verfahren, was man schwerlich als antidemokratisch abtun kann. Einen wirklichen Wandel kann eine FPÖ freilich nicht bringen, sie dient nur als Kanal und Symptom des Unmuts. Aufgrund der Polarisierung zwischen eher urbaner Elite und dem Rest der Bevölkerung ist es für populistische Oppositionsparteien praktisch unmöglich, kompetentes Personal im Gleichschritt mit volatilen Wahlergebnissen aufzubauen.

Im Kern geht es darum, dass das Land auf der Kippe steht, weil es hin- und hergerissen ist zwischen der Sehnsucht, an die eigene Seligkeit zu glauben, und dem drohenden Glaubensverlust, der ein Verlust des Vertrauens in die Eliten des Landes ist. Diese Zerrissenheit zeigt sich an der dramatischen Polarisierung, nach der nun zwei Hälften der Bevölkerung die jeweils andere Hälfte als Zerstörer ihrer seligen Insel ansehen. Die wenigen urbanen Zentren, in denen die Reste des Bürgertums fließend mit Günstlingen des Parteienkartells durchmischt sind, stehen den ländlichen Regionen gegenüber. Es ist der europaweite Gegensatz zwischen zentralistischen Eliten und zu kurz kommenden Nicht-Eliten, wobei sich Letztere als „Volk“ überschätzen. Das gibt ihnen aber keine „völkische“ Intention, und sie stellen keine Gefahr für Europa dar – allenfalls für die EU. Die Polarisierung würde in Österreich durch Gemütlichkeit und Schlampigkeit gemildert, wenn nicht Interventionen und Fehldeutungen von außen mehr Öl ins Feuer gössen. Die Parteinahme von Martin Schulz bzw. Jean-Claude Juncker gegen einen der Kandidaten halfen diesem durch Verstärkung der Frontlinien: Die Stimmen gegen den EU-Zentralismus als antidemokratisch, antieuropäisch und Bedrohung des Rechtsstaats zu verleumden, entblößt eher die Proponenten im Glashaus. Die Mehrheit der Österreicher ist freilich noch nicht bereit, die Entzauberung ihrer Insel in Kauf zu nehmen. Das Image von der weltbesten ökosozialen Marktwirtschaft mit dem weltbesten Gesundheitssystem, die weltweit um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu beneiden sei, ist längst weit von der Realität entfernt – einer Realität systematischer und schamloser Korruption und Plünderung des Landes. Doch selbst die FPÖ-Wähler hängen an diesem Wunschbild; die wesentliche Losung der vermeintlichen Systemveränderer ist die bessere Bewahrung des Bestehenden …

Und genau diese, im Grunde von allen Parteien gestützte, Bewahrung des Bestehenden gilt es zu hinterfragen und sich dagegen zu stellen. Was es braucht, ist eine tatsächliche Opposition von willigen Bürgerinnen und Bürgern. Die Kandidaten Hundstorfer und Kohl der beiden ehemaligen politischen Machthaber haben im April 2016 stellvertretend für ihre Parteien eine „Feste auf die Mütze“ bekommen, um nicht zu sagen, einen Schlag ins Gesicht – ein stehendes K.O. Man hat ihnen die Suppe versalzen. Sogar einstmals treue Wähler haben in die eigene Suppe gespuckt. Wie konnte das passieren? Was meint dazu der Provinzpolitiker?

NADERER: Der sieht das, nachdem er ja nicht betriebsblind ist, sehr ähnlich wie sie, Herr Kollege. Nachdem sie jetzt nach einem Ausflug in die Welt der Weltenretter – zu denen ich mich übrigens auch selbst zähle – wieder den Acker der Realpolitik bearbeiten, erlauben sie mir eine Frage an die geneigte Leserschaft.

DÜRINGER: Gerne, Herr Kollege.

NADERER: Liebe Leserin, lieber Leser: Sind sie ein treuer Wähler?

DÜRINGER: War das schon die Frage?

NADERER: Ja! … und hier die Erklärung warum sie von Bedeutung ist: Bei beiden etablierten Parteien wird bei demokratischen Wahlen immer ein Faktor einkalkuliert. Die Treue ihrer Mitglieder! Der Begriff Treue stimmt natürlich nicht, es ist eher der Grad unmittelbarer, weil materieller Abhängigkeit. Jeder Parteistratege der im Parlament vertretenen Parteien hat nur eine einzige Strategie: Wie binde ich so viele Wahlberechtigte wie möglich zuerst materiell und erst danach ideell, also inhaltlich an unsere Partei! Daraus folgt dann eine später darzustellende Schlussfolgerung jener Strategen und auch schon der von ihnen beratenen Machthaber: Wie verwende ich möglichst jeden Euro Steuergeld dafür, möglichst viele Wahlberechtigte in die Nähe von Abhängigkeit, in eine parteinahe Struktur der öffentlichen Hand zu bringen? Oder: Wie bringe ich die Parteitreue – früher das Parteibuch – so ins Spiel, dass daraus eine für ein Wahlergebnis kalkulierbare Abhängigkeit entsteht?

DÜRINGER: … die auch positiv als Versorgung gesehen werden kann.

NADERER: Genau! Dazu braucht es jetzt ein praktisches Beispiel: In Österreich haben konkret Rot und Schwarz sehr traditionelle und im Ernstfall auch verlässliche Strukturen, die bei beiden nicht über Ideologie, sondern materielle Abhängigkeit – sie nennen das Versorgung – umgesetzt wird. Im Roten Wien sind das etwa die Gemeindewohnung oder ein Job für sich oder das Töchterchen in der Gemeindeoder Bezirksverwaltung, in einem Krankhaus, einer Schule oder einer öffentlichkeitsnahen Körperschaft wie Kammer, Krankenkasse, dem Landesenergieversorger oder -verkehrsunternehmen oder direkt in der Partei.

Im tiefschwarzen Niederösterreich des einzig „Allmächtigen“ sind das eine nach reinem Ermessen gewährte Wohnbauförderung oder ein Job für sich oder das Töchterchen in der Gemeinde-, Bezirks- oder Landesverwaltung, in einem Krankhaus, einer Sozialeinrichtung, einer Schule oder einer öffentlichkeitsnahen Körperschaft wie Kammer, Krankenkasse, dem Landesenergieversorger oder -verkehrsunternehmen oder direkt in der Partei. Bei der NÖ-VP kommen noch die gesamte Raiffeisenorganisation der Lagerhäuser, einige Medienunternehmen und natürlich Banken, die Volksbanken, die HYPO Niederösterreich und die NÖ Versicherung dazu. Es fehlt aber noch die Ergänzung um die parteipolitisch völlig durchgefärbten Strukturen der überbesetzten Landwirtschaftskammer, die in Wien unbedeutende ist, sowie die Quasi-Behörde AMA, die Agrarmarkt Austria, die nicht nur Lebensmittel bewirbt, sondern Bauern von Nebenerwerbsbauern kontrollieren lässt. Dies jetzt alles in Personenzahlen aufzuschlüsseln, ergibt in Wien nach meiner persönlichen Schätzung ca. 140.000 unmittelbar „VERSORGTE“, erreicht aber mit den jeweiligen Familienstrukturen gleich einmal über 700.000 Personen! In Niederösterreich steht ein Verhältnis von 220.000 zu über 800.000 Leuten. Das ist effizienter Einsatz von Steuergeldern, das muss man den Parteistrategen lassen. Natürlich nicht für alle Bürger dieser Bundesländer, aber es könnten sich ja alle an diesem tollen Verteilungssystem beteiligen, was wiederum eine Unzahl von kriminellen Steuerhinterziehern und Menschenausbeutern, die Unternehmer und Partizipanten der Privatwirtschaft verhindern wollen. Wobei die von den Machthabern geordneten Umstände natürlich auch Verlierer, ja sogar Unterdrückte, Gemobbte und Ausgenutzte kennt. Und genau die sollte man ernstnehmen.

DÜRINGER: Ja genau, das sollte man. Danke, Herr Naderer.

NADERER: Stets der Eure.

DÜRINGER: Ja genau, das sollte man. Danke, Herr Naderer.

NADERER. Stets der Eure.

DÜRINGER: Die treuen Wähler und Mitglieder haben also beim ersten Wahlgang bei der Bundespräsidentenwahl am 24. April 2016 einen Seitensprung gewagt und sind dabei vielleicht sogar auf den Geschmack gekommen. „Den Gusto holt man sich woanders, aber gegessen wird dann schon zuhause.“ Das war einmal, denn zuhause schmeckt es schon lange nicht mehr am besten. Geschmäcker ändern sich. Die Seiten werden gewechselt, was gestern noch schlecht war, ist heute schon gut und umgekehrt. Um das Vertrauen der Wähler und Wählerinnen wieder zu gewinnen, inszenierten die ehemaligen Großparteien einen medialen Schulterschluss und es zeigte sich eine beide Lager verbindende Einigkeit. Fast brüderlich, Rücken an Rücken vom kleinen Funktionär bis zu den Parteispitzen schallte es aus allen Löchern: „Wir müssen in Zukunft die Anliegen der Bürger und Bürgerinnen endlich ernstnehmen.“ Für mich ist dieser Satz die öffentliche Bankroterklärung der Parteiendemokratie. Es klingt für mich wie: „Geht’s scheissn es Trottln. Wir haben euch nie ernstgenommen und wir werden euch auch nie ernstnehmen.“ … aber trotzdem eines ist für die handelnden Personen klar: „WIR WERDEN UNS IN ZUKUNFT MEHR ANSTRENGEN MÜSSEN!“

Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, wurden offenbar die Experten, Spindoktoren und die Politberater befragt. Vielleicht werden aber alle Politmoderatoren der ehemalige Großparteien nur von einem einzigen Politstrategen beraten. Hat sich vielleicht gar Herr Fußi das Koalitionsberatungsmonopol gesichert.

Ich bin für sie da.

Mich hat dazu keiner gefragt und ich finde es auch höchst entbehrlich hierorts auf so einen edlen Berufstand wie den meinen völlig unreflektiert hinzubrunzen und bitte untertänigst darum mir eine Entgegnung und Richtigstellung zu erlauben.

Manche sagen ja, dass Berater sowas wie das Krebsgeschwür in der Politik seien. Die Berater seien schuld, dass Politiker das tun, was sie tun und so reden, wie sie reden und so versagen, wie sie versagen. Da kann ich Ihnen sagen: Das ist ziemlich falsch. Denn in meiner jahrelangen Berufszeit hatte ich echt viele Klienten und wissen Sie welchen Rat noch nie jemand umgesetzt hat? „Sei doch einfach wie Du bist!“ – Das hat sich noch nie jemand getraut. Also werden wir doch damit nicht anfangen. Seien wir lieber so, wie uns das System gerne hätte. Wir geben keine Antworten, scheißen uns nix, außer um uns, und, das Allertollste: Wir leben in einer Welt ohne Sorgen. Und wenn es Sorgen und Probleme gibt, dann haben sie die „anderen“ verursacht. Dazu komm ich später noch, wie wichtig „die anderen“ sind. Es gibt natürlich unterschiedlichste Arten von Beratern. Ich bin einer, der Geld von jedem nimmt, bis auf die Freiheitlichen halt, weil selbst die letzte Nutte am Straßenstrich hat noch einen Rest an Würde. Und ich sag denen aber MEINE Meinung. Dafür bezahlen die. Das ist auf Dauer nicht erfolgreich, denn MEINE Meinung unterscheidet sich fast immer von den Meinungen meiner Kunden. Die weit verbreitetste Art von Beratern ist der sogenannte Sugarblower. Für die Germanen unter Ihnen, die der englischen Sprache nicht so mächtig sind, was übrigens kein Nachteil ist: Der Sugarblower, auf deutsch sowas wie Zuckerbläser, ist der Platzhirsch in der österreichischen Beraterlandschaft. Seine einzige Aufgabe besteht darin, alles was der Kunde sagt oder tut, „super“ zu finden. Wow, Super. Wow, bist Du geil. Wow, Wahnsinn, also echt, Du schaffst es ganz nach oben. Das führt in der Regel zum Ergebnis, dass Politiker mit dem Intellekt einer abgelaufenen Wurstsemmel und dem Auftreten eines weitschichtig Verwandten, für den man sich bei jedem Zusammentreffen furchtbar schämt, mit SO großen Eiern durch unser Land stolzieren, im Glauben, sie seien eine unentdeckte Kreuzung von Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Helmut Khol und Andreas Gabalier. Die Wahrheit ist aber: Man kann als Berater aus Scheiße kein Gold machen, man kann maximal Scheiße als Gold verkaufen. Unser Job besteht darin, dass die Scheiße nicht mehr als solche erkennbar ist, nicht mehr stinkt und eigentlich nett aussieht. Wenn Sie sich zum Beispiel ein Hundstrümmerl vorstellen, das ist ja von der Form einem Cevapcici relativ ähnlich. Ich nehm dieses Hundstrümmerl und richt das kosmetisch so her, dass Sie glauben, es sei ein Cevapcici. Was für ein jämmerlicher Beruf eigentlich. Die Welt der Politik ist eine komplizierte, oft übelriechende und fast immer geschmacklose Welt der Wiesel und Ratten, der Tarner und Täuscher – eine gefährliche Welt. Darum kann ich sie, als Politiker dann ja auch nicht allein lassen. Da lauern so viele unterschiedliche Gefahren auf sie da draußen. Überzeugung, Anstand, Einsatz, Ehrlichkeit, Würde – all das muss mit professionellen Mitteln verhindert werden. Das führt nur zu Unmut. Aber seien sie sicher – wenn es soweit ist, dann BIN ICH FÜR SIE DA! Unser Ziel ist es, die Lüge an sich in Zukunft ganz glaubwürdig zu vermitteln und dafür stets die richtigen Worte zu finden: „Für mich ist die oberste Regel in der Politik, Sie und Ihren Willen ernst zu nehmen; wir Politiker dienen den Menschen und wir haben den Willen des obersten Souveräns umzusetzen.“15

(Rudi Fußi in seinem sehenswerten Polit-Kabarett „Jetzt rede ich“)