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Schloss Haynbach, Wallburg, Ende März 1953

Vom Bahnhof Ettenheim nahm Mabelle ein Taxi, um zum außerhalb der Ortschaft Wallburg gelegenen Schloss Haynbach zu gelangen. Während der schwarze Wagen die schmalen, kurvigen Landstraßen entlangfuhr, beschleunigte sich ihr Herzschlag mit jedem Kilometer, den sie zurücklegten. Wie würden ihre Großeltern reagieren, wenn sie unangemeldet vor ihrer Tür stand? In ihren Briefen war Gräfin Eveline stets distanziert geblieben. Sie hatte ihnen nach dem Krieg mit Stoffen geholfen, die sie in Frankreich besorgt hatte, ihren Paketen jedoch nie ein persönliches Wort beigefügt. Vielleicht hatte sie sich nach all den Jahren verpflichtet gefühlt, den Kindern ihres Sohnes in der Not zu helfen, hasste aber im Grunde ihres Herzens alles, was mit Helmut zu tun hatte. Weil er sich dem Willen seiner Eltern widersetzt und auf ihr Geld und ihren Besitz gepfiffen hatte. Wenn es so war, würden ihre Großeltern sie wahrscheinlich wie einen räudigen Hund wegjagen.

Bei dieser Vorstellung überlief Mabelle ein kalter Schauder, und sie hätte das Taxi am liebsten wenden lassen. Doch das kam nicht infrage, nun, da sie schon so weit gekommen war.

»Halten Sie bitte hier. Den restlichen Weg gehe ich zu Fuß«, wies sie den Taxifahrer an, als sie sich einem weit geöffneten schmiedeeisernen Tor näherten.

»Es ist aber noch ein ganzes Stück bis zum Schloss«, gab der Fahrer, ein älterer Mann mit spärlichem grauem Haar, zu bedenken.

»Das ist kein Problem. Mein Gepäck ist nicht schwer.« Mabelle warf einen Blick auf das Taxameter und reichte ihm einen Geldschein. Zu Fuß die lange gewundene Auffahrt hinaufzugehen, verschaffte ihr wenigstens noch etwas Zeit, darüber nachzudenken, was sie sagen sollte, wenn sie ihren Großeltern gegenübertreten würde.

Erst einmal stand sie mit ihrem kleinen Koffer in der Hand vor den beiden bronzenen Löwen, die den Eingang zum Park bewachten, und sah die aufwärts führende Lindenallee entlang, an deren Ende Schloss Haynbach lag. Der Anblick des riesigen Gebäudes ließ ihre Aufregung noch wachsen. Natürlich war ihr klar gewesen, dass ein Schloss nun einmal kein kleines Häuschen war. Immerhin war sie selbst in einem Herrenhaus aufgewachsen. Die Villa Rabenfels thronte ebenfalls auf einem Hügel und hatte gut zwanzig Zimmer. Doch das Schloss ihrer Großeltern war mindestens dreimal so groß. Es war aus hellem Sandstein gebaut und besaß vier Flügel. Sie umschlossen eine rechteckige freie Fläche, offenbar einen Innenhof. An jeder Ecke des Gebäudes erhob sich ein runder Turm. Ein fünfter Turm, breiter und höher als die anderen, befand sich in der Mitte des vorderen Längsflügels. Dort oben wehte eine Fahne im Wind, auf der Mabelle meinte, ein Wappen zu erkennen. Wahrscheinlich das gleiche, das oben in das schmiedeeiserne Tor eingelassen war. Es zeigte ein Hirschgeweih, zwischen dessen Enden eine Tanne und ein sich dahinschlängelnder Bach zu sehen waren.

Entschlossen packte Mabelle den Griff ihres Koffers fester und marschierte los. Wenn die Fahne über einem Herrensitz gehisst war, bedeutete das in der Regel, dass der Hausherr anwesend war. Der Fahnenmast der Villa Rabenfels war seit dem Tod ihres Großonkels Ludwig leer geblieben. Ihr Vater Helmut als sein Erbe war niemals auf den Gedanken verfallen, die Fahne hochzuziehen. Er pflegte zu sagen, dass der Adel in Deutschland seit Ende des Ersten Weltkriegs abgeschafft worden sei und dass er damit durchaus einverstanden wäre.

»Andere Menschen ziehen auch keine Fahnen über ihren Einfamilienhäusern hoch, wenn sie zu Hause sind«, hatte er lächelnd gesagt. »Und auch für uns sollten diese Zeiten vorbei sein.«

Mabelle hatte die bunte Fahne ihres Großonkels gefallen, und sie hatte es gemocht, wenn sie im Wind flatterte und es sich anhörte wie der Flügelschlag eines großen Vogels.

Offenbar hielten ihre Großeltern es mit den alten Traditionen. Aber sie hatten ja auch ihren Sohn enterbt, weil er eine Näherin geheiratet hatte. Bei diesem Gedanken wurden Mabelles Schritte automatisch langsamer. Was der Graf und die Gräfin wohl von einem Mannequin als Enkelin hielten, das noch dazu die Tochter besagter Näherin war?

Entschlossen straffte sie ihren Körper und ging weiter. Wenn ihre Großeltern tatsächlich so hartherzig waren, konnte sie es nicht ändern. Obwohl sie sich Claire und Helmut gegenüber furchtbar verhalten hatten, würde sie ihnen heute die Hand zur Versöhnung reichen. Sie war hier, weil sie eine Ausrede gebraucht hatte. Also sollte es vielleicht so sein, dass sie nun endlich den Grafen und die Gräfin von Haynbach kennenlernte.

Sie hatte schon einige Male darüber nachgedacht, ob sie nicht einfach ihre Großeltern besuchen sollte und diese Idee auch schon ihren Geschwistern gegenüber angesprochen, aber Richard und Viktoria hatten stets abgewinkt. Nun hatte sie sie vor vollendete Tatsachen gestellt.

Inzwischen konnte Mabelle schon das gewaltige Portal des Schlosses sehen und sogar die Frühlingsblumen in den großen Schalen erkennen, die auf den Stufen der Freitreppe standen. Die fröhlichen bunten Blüten machten ihr Mut. Vielleicht hatte ihre Großmutter persönlich dafür gesorgt, dass Besucher von diesem hübschen Anblick erfreut wurden. Vielleicht war sie ja gar nicht so streng und abweisend, wie Mabelle es in manchen Momenten befürchtete.

Der riesige, schwarz-weiß gefleckte Hund stand plötzlich vor ihr mitten auf dem Weg. Sie hatte ihn nicht kommen sehen. Mabelle verharrte bewegungslos und atmete nur ganz flach. Dann stellte sie langsam, um ihn nicht zu reizen, den Koffer neben sich ab. Vorsichtig setzte sie einen Fuß hinter den anderen, und tatsächlich gelang es ihr, zwei Schritte rückwärts zu machen, ohne dass der Hund ihr folgte.

Er interessierte sich mehr für ihren Koffer, der nun herrenlos auf dem Kies der Auffahrt stand. Während das Tier den Lederkoffer beschnüffelte, gelang es Mabelle im Zeitlupentempo, ein paar weitere Rückwärtsschritte zu machen. Plötzlich hob der Hund den Kopf, sah sie an und trottete auf sie zu.

Mabelle starrte entsetzt den riesigen schwarz-weißen Kopf an, der sich ihren Knien näherte. Sie zitterte so heftig, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen.

»Bitte tu mir nichts«, flüsterte sie mit gepresster Stimme. »Bitte!«

Erschaudernd sah sie in das halb geöffnete Maul, aus dem tropfend eine fleischige Zunge hing.

Andächtig schnüffelte der Hund an ihrem Rocksaum. Sie spürte die Feuchtigkeit seiner Nase und seinen heißen Atem an ihren Beinen. Wenn dieses überdimensional große Vieh zubiss, würden ihre Knochen wie Zahnstocher zerbrechen.

»Hilfe«, wisperte sie. Um den Hund nicht zu erschrecken oder gar wütend zu machen, wagte sie nicht, laut zu rufen.

»Amico! Wo bist du?« Als von irgendwo hinter den Büschen eine kräftige Männerstimme ertönte, zuckte Mabelle unwillkürlich zusammen. Der Hund hingegen wandte ruhig den Kopf in der Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

»Amico? Heißt du Amico?«, erkundigte Mabelle sich mit bebender Stimme. Sie musste versuchen, ganz ruhig und freundlich mit dem Tier zu reden, bis Hilfe kam. Sie hatte schon oft gehört, man solle Hunden seine Angst nicht zeigen. Was schwierig war, wenn man am ganzen Leib zitterte.

Aus einer Reihe mannshoher Büsche brach in diesem Moment ein junger Mann hervor und stürzte auf Mabelle und den Hund zu.

»Da bist du ja, du Gauner.« Fröhlich lachend packte er den Hund beim Halsband und zog ihn von Mabelle weg. »Tut mir leid. Amico ist noch jung, sehr neugierig und manchmal noch ungehorsam. Ich hoffe, er hat Sie nicht erschreckt?«

»Ob er mich erschreckt hat?« Angesichts dieser seltsamen Frage schnappte Mabelle nach Luft. Es war aber ohnehin nötig, dass sie tief durchatmete, weil sie die ganze Zeit mehr oder weniger die Luft angehalten hatte. »Ich bin vor Angst fast gestorben. Wieso passen Sie nicht auf ihn auf? Er ist … Er hat …« Sie stockte. Eigentlich hatte der Hund außer ein bisschen Geschnüffel nichts Schlimmes getan.

Der junge Mann zog die Brauen hoch und wartete offenbar darauf, dass sie ihre angefangenen Sätze beendete. Als sie jedoch nichts mehr sagte, schüttelte er verständnislos den Kopf. »Es tut mir wirklich leid. Deutsche Doggen sehen zwar gefährlich aus, aber dieser Hund ist ein Lämmchen. Er würde nicht mal ein Kaninchen beißen, da bin ich mir sicher.«

»Mit diesen Riesenzähnen könnte er innerhalb kürzester Zeit meinen rechten Arm abnagen«, fauchte Mabelle den Fremden an, der ihr einreden wollte, dass ein kalbsgroßer Hund vollkommen harmlos wäre.

»Ist der rechte schmackhafter als der linke?« Um die Mundwinkel des verantwortungslosen Hundebesitzers zuckte ein Lächeln. Jetzt machte er sich auch noch über sie lustig.

»Sie sind für ihn verantwortlich und sollten ihn deshalb nicht auf harmlose Besucher loslassen«, sagte sie streng.

»Wenn Sie ein Problem damit haben, dass der arme Kerl draußen herumläuft, werde ich ihn wieder ins Haus bringen. Leider ist er die meiste Zeit eingesperrt, was für ein so großes Tier eine Quälerei ist. Er braucht Auslauf.«

Mabelle wagte zum ersten Mal, den Hund sekundenlang aus den Augen zu lassen, um den ersten Menschen, der ihr auf dem Gelände von Schloss Haynbach über den Weg gelaufen war, genauer zu betrachten. Er sah eigentlich ganz freundlich aus, dennoch machte ihr diese Begegnung nicht gerade Mut. »Sind Sie Onkel Albrechts Sohn? Mein Cousin? Habe ich einen Cousin?« Um der Bruder ihres Vaters, ihr Onkel Albrecht, zu sein, war er deutlich zu jung.

Ihre Vermutung schien ihn zu amüsieren, denn er grinste breit. »Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen. Ich gehöre nicht zur Familie und habe keine Ahnung, ob Sie einen Cousin haben. Mein Name ist Claus Berger. Ganz einfach Berger, ohne von. Ich bin Schreiner und baue das Gartenhaus aus. Sie scheinen sich nicht sonderlich gut mit der Familie von Haynbach auszukennen. Gehören Sie zur Verwandtschaft?« Mit einer selbstverständlichen Bewegung griff er nach ihrem Koffer und trug ihn in der linken Hand, während er die rechte ins Halsband des Hundes geschoben hatte und so dem Haupteingang des Schlosses entgegenstrebte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als neben ihm herzugehen.

»Wie man’s nimmt«, antwortete sie und lachte nervös. »Man könnte sagen, ich gehöre zum verarmten Zweig. Ich bin Mabelle von Haynbach.« Arm waren sie zwar nicht wirklich, aber sie mussten alle für ihr Geld arbeiten, was ihre Großeltern und wahrscheinlich auch ihr Onkel sicher nicht nötig hatten.

»Und Sie sind zum ersten Mal hier?«

Mabelle spürte, dass der junge Schreiner sie von der Seite musterte. »Hm«, machte sie, weil ihn das nun wirklich nichts anging. »Ist das Ihr Hund? Bringen Sie ihn mit zur Arbeit?«

»Amico gehört dem alten Grafen. Er liegt krank im Bett und kann sich nicht um ihn kümmern. Und sonst nimmt sich auch niemand die Zeit, mit ihm nach draußen zu gehen. Eigentlich sollen sich die Dienstboten um ihn kümmern, aber die haben ihn einfach in einen leeren Raum im Souterrain eingesperrt. Als ich vorhin in der Küche einen Kaffee getrunken habe, hörte ich ihn jaulen und habe angeboten, ihn mit nach draußen zu nehmen, damit er ein bisschen im Park herumlaufen kann, während ich am Gartenhaus arbeite.«

»Das ist … nett von Ihnen.« Aus dem Augenwinkel schielte Mabelle zu dem Hund hinunter, der brav neben Claus Berger her trabte.

»Ich mag Hunde«, erwiderte er schlicht. »Sie nicht, nehme ich an?«

»Ich bin als kleines Mädchen mal gebissen worden«, gestand sie. »Von einem Dackel. Das klingt wahrscheinlich lächerlich, aber ich war erst vier. Ich wollte ihn streicheln, und er hat mir fast den Zeigefinger abgebissen.«

»Oh«, machte Claus Berger. »Dann ist es kein Wunder, dass so ein großer Hund Sie in Angst und Schrecken versetzt, Fräulein von Haynbach. Und natürlich hilft es in diesem Fall auch nicht, dass ich Ihnen fröhlich erzählt habe, wie harmlos und freundlich Amico ist.«

»Nein. Das hilft nicht. Es fühlt sich aber viel besser an, seit Sie ihn festhalten. Vielen Dank.« Mabelle lächelte verhalten.

Heimlich betrachtete sie den jungen Mann von der Seite. Er überragte sie selbst in ihren halbhohen Absätzen um einen knappen Kopf und war auf jene Weise muskulös, die auf körperliche Arbeit hindeutete. Offenbar hielt er sich oft im Freien auf, denn obwohl das Jahr noch nicht weit fortgeschritten war, hatte seine Haut einen goldbraunen Ton. Sie bildete einen reizvollen Kontrast zu seinen blonden Haaren, die fast die gleiche Farbe hatten wie Mabelles Locken. Allerdings waren seine Augen haselnussbraun und nicht blau wie ihre.

»Und?«, sagte er unvermittelt und wandte ihr sein Gesicht zu.

»Was und?«, fragte sie unschuldig und tat, als würde sie sich nicht ertappt fühlen.

»Habe ich die Prüfung bestanden?« Er grinste sie frech an.

Sie hob die Brauen und schob energisch das Kinn vor. Sie hatte schon oft genug auf dem Laufsteg gestanden, um zu wissen, wie man kühl dreinblickte. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Er lachte leise in sich hinein und blieb vor der untersten Stufe der Freitreppe stehen. »Ich nehme an, als Verwandte der Grafenfamilie gehen Sie durch die Vordertür?«

Sie nickte verdutzt. Zu Hause machten sie schon längst keinen Unterschied mehr zwischen der Tür an der Vorderseite der Villa und dem früheren Dienstboteneingang auf der anderen Seite des Gebäudes.

»Begleiten Sie mich nach drinnen? Wegen des Hundes und so?«, erkundigte sie sich unsicher. Sie wusste ja noch nicht, ob man sie ins Haus lassen würde.

Er schüttelte den Kopf. »Ich muss nur schnell den Hund abgeben.«

Er stand dicht hinter ihr und sah zu, wie sie den Klingelknopf aus Messing drückte. Unvermittelt stieg wieder das unbehagliche Gefühl in ihr auf, das von der Aufregung durch die unerwartete Begegnung mit dem riesigen Hund und dem jungen Schreiner verdrängt worden war.