Schloss Haynbach, Wallburg, Ende März 1953
Mabelle, die normalerweise keine Frühaufsteherin war, erwachte schon gegen halb sieben Uhr morgens. Vielleicht lag es daran, dass sie sich in dem riesigen Bett, das mitten in dem saalartigen Zimmer auf einem Podest stand, ziemlich verloren vorkam. Wahrscheinlich war es aber einfach das Gefühl, sich an einem Ort aufzuhalten, an dem sie nicht willkommen war.
Sie drehte sich auf die Seite und sah durch das große Fenster in den blassblauen Frühlingshimmel. Einen Augenblick zögerte sie noch, dann stand sie auf, duschte in ihrem eigenen Bad direkt neben ihrem Zimmer, schlüpfte in ihre Kleider und fuhr sich mit dem Kamm durch die Haare. Mit einem letzten Blick in den Spiegel beschloss sie, ungeschminkt zu bleiben. Wenn sie hier mit etwas Eindruck machen konnte, dann sicher nicht mit perfekt aufgetragenem Lippenstift und getuschten Wimpern.
Das Abendessen, das sie gemeinsam mit Onkel Albrecht und Tante Hilda in dem riesigen Speisezimmer eingenommen hatte, war steif und wortkarg verlaufen. Wenn Mabelle an den vergangenen Abend dachte, überlief sie noch nachträglich ein Schauder.
Sie hatten an der langen Tafel so weit voneinander entfernt gesessen, dass sie sich gegenseitig nicht einmal den Brotkorb oder das Salz hätten reichen können. Das war allerdings ohnehin die Aufgabe des Butlers, der mit wachsamer Miene neben dem Büfett stand und auf die kleinste Handbewegung von Albrecht oder Hilda reagierte. Die Speisen wurden von einem nervös wirkenden Diener serviert. Vielleicht hatte er von Natur aus schwache Nerven. Vielleicht fürchtete er auch, vor den Augen seiner Herrschaften und des gestrengen Eder etwas falsch zu machen.
Zwei oder drei Mal machte Mabelle den Versuch, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, bekam von Onkel und Tante aber nur einsilbige Antworten. Zwischendurch wurde sie mit finsteren Blicken bedacht. Das Paar tat alles, um ihr klarzumachen, dass sie zwar geduldet wurde, sich jedoch niemand über ihre Anwesenheit freute.
Nach dem Essen hatte Mabelle sich sofort in das Zimmer zurückgezogen, das Hilda durch eines der Hausmädchen für sie hatte herrichten lassen. Da es nichts gab, womit sie sich hätte beschäftigen können, war sie früh zu Bett gegangen. Insofern war es kein Wunder, dass sie schon in aller Herrgottsfrühe wieder wach war. Normalerweise legte sie sich nie vor Mitternacht zur Ruhe.
Als Mabelle die breite Treppe hinunter in die Halle ging, war es kurz nach sieben. Unten angekommen, lauschte sie angestrengt in das riesige Gebäude. Nur aus dem Souterrain, wo wahrscheinlich die Küche lag, drang fernes Geklapper zu ihr herauf. Mabelle schaute ins Speisezimmer. Es war leer, und von einem Frühstück war weit und breit nichts zu sehen. Nicht einmal Gedecke standen auf dem Tisch. Also machte sie sich auf den Weg ins Kellergeschoss.
Im Gegensatz zu der breiten Treppe, die in einem großzügigen Schwung von der Halle in den ersten Stock führte, waren die Stufen ins Souterrain schmal und ausgetreten. Eine Dienstbotentreppe, ursprünglich nicht bestimmt für die herrschaftlichen Bewohner des Schlosses. Doch wer hielt sich noch an die strenge Trennung zwischen dem Personal und der Familie, wie sie noch vor dreißig oder vierzig Jahren üblich gewesen war? In der Villa Rabenfels gingen die Familienmitglieder in der Küche ein und aus. Wenn sie einen Tee trinken oder zwischen den Mahlzeiten eine Kleinigkeit essen wollten, machten sie sich ihren Imbiss selbst. Die Köchin kam nur für drei oder vier Stunden am Tag und bereitete Mittag- und Abendessen so weit vor, dass es nur noch aufgewärmt werden musste. Das erledigte dann eines der beiden Hausmädchen, oft waren es aber auch Viktoria oder Louise. Mabelle neigte dazu, volle Töpfe auf der eingeschalteten Herdplatte zu vergessen, und übernahm diese Aufgabe nur noch im Notfall.
Seit den Kriegsjahren war nur noch wenig Personal in der Villa beschäftigt, es gab aber auch nicht mehr so viele Regeln. Mabelle erinnerte sich an ihre Kindheit, als ihr Großonkel Ludwig ihr immer wieder gesagt hatte, dass sie nicht in die Küche laufen solle. Es war auch nicht erlaubt, in der Gesindestube mit dem alten Hausdiener Mensch ärgere dich nicht zu spielen.
»Die Dienstboten haben ein Recht auf Räume, in denen sie unter sich sind«, hatte Onkel Ludwig mit erhobenem Zeigefinger gesagt, wenn Mabelle wieder einmal für Stunden im Souterrain der Villa verschwunden gewesen war. Da sie aber dort unten stets freundlich empfangen worden war, hatte sie sich auch immer wieder auf Zehenspitzen die Treppe hinuntergeschlichen. Ohnehin hatte sie nicht verstanden, wieso die Dienstboten nicht »unter sich« waren, wenn sie bei ihnen ein Honigbrot aß oder mit einigen von ihnen ein Würfelspiel spielte.
Am Fuß der Dienstbotentreppe von Schloss Haynbach schaute Mabelle sich suchend um und folgte dann dem Klang von Frauenstimmen einen schmalen Gang entlang. Die Küchentür stand offen, und als Mabelle den Raum betrat, blieb sie überrascht stehen. Ebenso wie der Rest des Gebäudes war auch diese Küche um einiges größer als die in der Villa Rabenfels. Der Arbeitstisch in der Mitte hatte eine Länge von mindestens acht Metern. Daran konnten bestimmt bis zu zehn Menschen gleichzeitig Teig kneten, Gemüse putzen und was es sonst noch zu tun gab. Es gab zwei sechsflammige Herde, mehrere Backöfen und einen gewaltigen Geschirrschrank.
»Eder hat gesagt, sie tät behaupten, sie wär die Enkelin vom Grafen«, sagte soeben eine der beiden Frauen, die vor dem Tisch standen.
Sie bereiteten offenbar das Frühstück vor. Die eine verschlug Eier in einer Schüssel, die andere säbelte Brotscheiben von einem großen Laib.
»Wo soll denn jetzt plötzlich ›ne Enkelin herkommen?« Die Frau mit dem Brot hielt für einen Moment mit ihrer Arbeit inne und fuchtelte mit dem Messer gefährlich durch die Luft. »Oder meinst du, Graf Albrecht hat einen Bastard in die Welt gesetzt?« Sie kicherte leise.
»Guten Morgen«, sagte Mabelle fröhlich.
Die Frauen fuhren zusammen, als hätte sie statt eines freundlichen Grußes einen Kanonenschuss abgefeuert. Ihre Köpfe fuhren herum, und sie starrten den Eindringling in ihre Küche mit weit aufgerissenen Augen an.
»Ich wollte nur fragen, ob ich schon etwas zu essen haben kann«, unterbrach Mabelle die plötzliche Stille.
Die Frau, die soeben noch Vermutungen über mögliche Verirrungen ihres Onkels Albrecht angestellt hatte, ließ das Messer klirrend auf die Tischplatte fallen. Sie war knallrot geworden und bewegte die Lippen, ohne einen Laut hervorzubringen.
»Mir würde Brot mit etwas Butter reichen. Oder ein Apfel«, schlug Mabelle vor.
Die ältere der Frauen legte ihren Schneebesen weg und sah Mabelle unschlüssig an. »Oben wird das Frühstück ab halb neun serviert. Die junge Gnädige bekommt ein Tablett ans Bett, der junge Graf frühstückt manchmal erst um neun oder noch später.«
»Und Graf Wilhelm?«, erkundigte sich Mabelle.
Die Frauen sahen erst einander und dann Mabelle an, sagten aber kein Wort.
»Ich bin seine Enkelin«, fügte Mabelle hinzu. Das half, obwohl die Frauen sich eben noch darüber lustig gemacht hatten, wo denn so plötzlich eine Enkelin herkommen sollte.
»Er hat seit fast zwei Wochen sein Zimmer nicht verlassen. Eder serviert ihm alle Mahlzeiten. Heute ist die Krankenschwester wieder da. Sie hatte gestern ihren freien Tag. Und die Gräfin kommt wohl auch heute irgendwann zurück.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür, die von draußen durch einen kleinen Vorraum in die Küche führte, und der Hund Amico stürmte in die Küche. Ihm folgte Claus Berger. Als er Mabelle bemerkte, rief er den Hund sofort zu sich.
»Guten Morgen«, sagte der junge Schreiner freundlich und sah dabei Mabelle an.
»Guten Morgen«, antworteten die beiden Frauen einstimmig. Die Jüngere wurde rot. Der gut aussehende Mann im blauen Overall schien ihr zu gefallen.
»Der Kaffee ist fertig.« Die ältere Frau deutete auf eine kleine Thermoskanne am Tischende.
»Kann ich bitte auch eine Tasse haben?«, fragte Mabelle.
»Wir servieren oben in ›ner Stunde«, wiederholte die ältere der Frauen stur.
»Kommen Sie mit. Wir teilen. Ich habe Stullen mitgebracht.« Claus Berger griff nach der Thermoskanne und lächelte sie quer durch die Küche an. »Vor allem kenne ich den schönsten Frühstückplatz in diesem Garten.«
Freundlich lächelnd ging Mabelle an den beiden Frauen vorbei zur Hintertür. Nicht einmal der riesige Hund an Bergers Seite konnte sie aufhalten.
»Ich will Ihnen aber nicht Ihr Frühstück wegessen«, sagte sie, als sie draußen in der Morgenluft standen, die so frisch war, dass sie auf Mabelles Wangen kribbelte.
»Ich habe genug mit. Und wenn ich zwischendurch Hunger bekomme, kann ich mir in der Küche etwas geben lassen.«
»Da geht es Ihnen besser als mir.« Mabelle hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Mit seinen langen Beinen entfernte er sich rasch vom Gebäude und strebte in die Tiefe des Parks. Neben ihm lief Amico, den er am Halsband festhielt.
»Frau Reiners ist ziemlich streng. Man muss sie zu nehmen wissen.« Er lachte leise. Dann blieb er stehen und musterte Mabelle prüfend von der Seite. »Ich lasse jetzt den Hund los. Ist das in Ordnung? Er läuft nur um uns herum und schnüffelt an den Bäumen.«
»Oder an meinen Beinen.« Sie sah an sich hinunter. An diesem Morgen hatte sie sich für eine schmale, knöchellange Stoffhose entschieden. Was immerhin den Vorteil hatte, dass sie die nasse Hundenase nicht direkt auf der Haut spüren würde.
»Ich zeige Ihnen, was Sie tun müssen, damit er Ihnen nicht zu nahe kommt.« Berger zog die Hand aus dem breiten Lederhalsband. Sofort stürmte der Hund los und lief mit großen Sprüngen über das Gras.
Unruhig fixierte Mabelle das große Tier. »Was mache ich also, wenn er mich beschnüffeln will, mir das aber nicht gefällt?«
Als hätte er ihre Worte verstanden, drehte Amico sich um und schaute sie quer über den Rasen interessiert an. Dann galoppierte er entschlossen auf sie zu.
»Machen Sie sich groß und breit, strecken Sie den Arm aus und deuten sie auf einen Fleck möglichst weit von sich weg«, kommandierte Berger mit ruhiger Stimme.
Sie folgte seinen Anweisungen, indem sie sich breitbeinig hinstellte, den Kopf hob, die Schultern straffte und mit der rechten Hand, deren Finger unübersehbar zitterten, auf ein paar Krokusse im Gras in etwa fünf Metern Entfernung zeigte. Dabei musste sie sich zusammennehmen, um nicht auf dem Absatz kehrtzumachen und wegzulaufen. Zu ihrem Erstaunen blieb Amico wie angewurzelt stehen und starrte sie eine Weile intensiv an. Sammelte er seine Kräfte, um sich mit voller Wucht auf sie zu stürzen? Wenn Mabelle sich auch nur die geringste Chance beim Wettlauf mit dem Hund ausgerechnet hätte, wäre sie weggerannt. So aber blieb sie stehen und zitterte nur ein bisschen vor sich hin. Unvermittelt wandte Amico sich ab und lief auf eine Buschreihe zu, die er aufmerksam beschnüffelte.
»Bravo!«, lobte Berger sie lächelnd. »Das war sehr gut. Amico ist es peinlich, dass er zu Ihnen wollte und Sie ihn abgewiesen haben, aber das ist in Ordnung. Er ist ein braver Hund. Vielleicht versucht er es noch ein oder zwei Mal, und wenn Sie dann genauso reagieren, wird er Ihren Willen respektieren.«
Mabelle lachte atemlos. »Funktioniert das bei anderen Hunden auch?«
»Bei den meisten schon.« Der Schreiner setzte sich wieder in Bewegung.
»Ich hätte nie gedacht, dass das so einfach ist«, stellte Mabelle verwundert fest, beobachtete den Hund aber heimlich aus den Augenwinkeln, während sie neben Berger herlief. »Und wo ist nun der schönste Frühstücksplatz in diesem Park?«
»Wir sind gleich da.« Er führte sie in einem weiten Bogen um den Ostflügel des Schlosses herum. Hier ging es zwischen Büschen und weitläufigen Blumenbeeten noch ein wenig aufwärts. Plötzlich standen sie vor einem Gartenhäuschen, das an drei Seiten von Bäumen umgeben war. Die kleine Holzveranda jedoch bot einen weiten Blick in Richtung Tal.
»Das ist das Gartenhaus, an dem ich arbeite«, erklärte Claus Berger mit Stolz in der Stimme.
Aufmerksam betrachtet Mabelle das Holzhaus im Stil einer bayrischen Berghütte.
»Hübsch«, sagte sie dann. »Und wozu dient es? Im Schloss stehen Dutzende von Zimmern leer. Ich dachte, es wäre eine Art Pavillon. Aber hier könnte man ja praktisch leben.«
Berger zuckte mit den Schultern. »Ich sollte es entwerfen und bauen, und das habe ich getan. Was der Auftraggeber damit vorhat, geht mich nichts an.«
Auf der von einem geschnitzten Geländer umgebenen Veranda standen hölzerne Möbel: ein Tisch, eine Bank und zwei Stühle. Amico ließ sich mit einem Seufzer in einem Sonnenfleck auf den Holzdielen nieder und schloss die Augen. Offenbar begleitete er Claus Berger nicht zum ersten Mal hierher.
»Meine Eltern hatten einen großen schwarzen Hund. Sie haben uns Kindern oft von ihm erzählt. Er hieß Enno. Aber ich habe ihn leider nicht mehr kennengelernt«, platzte Mabelle heraus.
»Wie ärgerlich, dass Sie stattdessen den unfreundlichen Dackel getroffen haben.« Berger stellte die Thermosflasche auf den Tisch, zog ein in Pergamentpapier gewickeltes Päckchen und einen Apfel aus der Tasche seines Overalls und legte beides daneben.
»Ja«, antwortete sie. »Aber jetzt weiß ich ja, was ich machen muss, wenn ein Dackel angerannt kommt und mich beißen will.«
Berger rückte Mabelle einen der Stühle zurecht, und sie setzte sich. Er ließ sich auf der Bank nieder, schlug das Wachspapier auseinander und strich es glatt. In dem Päckchen befanden sich zwei große, zusammengeklappte Weißbrotscheiben. An den Rändern konnte Mabelle sehen, dass sie mit hart gekochten Eiern und Salatblättern belegt waren.
Anschließend wischte Berger den Apfel mit einem sauberen weißen Tuch blank, das er ebenfalls aus der Tasche gezogen hatte, presste beide Daumen in die Vertiefung, aus der der Stiel wuchs, brach ihn in zwei Hälften und legte ihn neben die Brote aufs Wachspapier. Zum Schluss füllte er den Becher, der oben auf der Thermosflasche steckte, mit Kaffee und stellte ihn genau in die Mitte zwischen Mabelle und sich.
»Guten Appetit.« Mit großer Geste deutete er auf den Tisch, als hätte er ein Festmahl angerichtet. »Und beim Essen unbedingt die Aussicht bewundern.«
Beherzt griff Mabelle nach einem Brot und biss hinein. Während sie kaute, blickte sie gehorsam hinunter ins Tal. Dort schlängelte sich ein kleiner Fluss zwischen grünen Wiesen und kleinen Felsen dahin. Sein Wasser glitzerte in der Morgensonne. Das rote Auto auf der schmalen Straße dort unten sah aus der Ferne wie ein Spielzeug aus, ebenso die Bäume, die ihre noch kahlen Äste in den blassblauen Himmel reckten.
»Schön«, murmelte sie mit vollem Mund, schluckte und biss gleich noch einmal ab. Das Brot war wunderbar frisch, und das in Scheiben geschnittene Ei war mit fein gehackten Kräutern bestreut. Es schmeckte köstlich, und zusammen mit der frischen Luft und der herrlichen Aussicht war es eines der besten Frühstücke, die Mabelle je genossen hatte.
Berger schob ihr den Metallbecher hin. »Ich trinke meinen Kaffee schwarz. Hoffentlich mögen Sie das auch.«
Obwohl sie sonst Milch und Zucker nahm, nickte sie und nippte an der pechschwarzen Flüssigkeit. Das war gar nicht so schlecht.
Als sie ihr Brot aufgegessen hatte, griff sie nach dem halben Apfel. Ihr größter Hunger war gestillt, aber sie hätte noch eine weitere Scheibe Brot geschafft, obwohl sie normalerweise morgens mit einer Tasse Kaffee und einem Happen Toast zufrieden war.
Kurz huschte der Gedanke durch ihren Kopf, dass sie eigentlich nicht so viel essen sollte. Vor den Modeaufnahmen in der kommenden Woche durfte sie auf keinen Fall zunehmen.
Ihr Blick fiel auf das Buch, das mit dem Rücken nach oben aufgeschlagen auf dem Tisch lag.
»Tauben im Gras«, las sie den Titel vor. »Ist das gut?«
»Mir gefällt es.«
»Wolfgang Koeppen. Nie gehört«, gab sie zu. »Worum geht es in dem Buch?«, erkundigte sie sich etwas verspätet. »Um Tauben?« Das schien ihr kein besonders interessantes Thema zu sein.
Er lachte. »Vögel kommen eigentlich nicht vor. Es geht um eine Gruppe Menschen. Der Autor will ausdrücken, dass wir Menschen uns so zufällig durchs Leben bewegen wie Tauben, die nach Körnern pickend im Gras herumlaufen. Mal nach rechts, mal nach links, wie es gerade kommt. Genauso zufällig begegnen wir anderen Menschen oder laufen an ihnen vorbei und bemerken sie gar nicht.« Nachdenklich betrachtete er den Einband des Buchs, hob den Kopf und sah in Mabelles Gesicht.
»Klingt spannend«, behauptete sie, obwohl sie selten las, und schon gar keine Bücher, die von Tauben handelten, die eigentlich Menschen waren. Oder so ähnlich. »Soll das bedeuten, dass im Leben alles Zufall ist? Zum Beispiel, dass wir zwei heute hier zusammensitzen?« Fragend sah sie ihn an und kaute dabei auf dem Kerngehäuse herum.
»Was würde Ihnen besser gefallen? Zufall oder Bestimmung?« Er erwiderte ihren Blick.
»Ich habe zuerst gefragt.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah hinunter ins Tal.
»Wolfgang Koeppen würde wahrscheinlich behaupten, es sei der reine Zufall. Mir gefällt die Idee besser, dass die Ereignisse in unserem Leben einen Sinn haben. Dass irgendjemand – und sei es das Schicksal – beschlossen hat, dass wir uns hier begegnen.« Berger sah sie ernst an.
»Im Grunde ist es ja egal. Wir sind hier, das ist die Hauptsache«, stellte Mabelle fest. Sie hielt nichts davon, die Dinge unnötig kompliziert zu machen.
»Wer ist Ihr Lieblingsautor?« Er wischte sich mit einem sauberen Taschentuch den Mund ab.
»Oh.« Mabelle spürte, dass sie rot wurde.
»Colette«, stieß sie hervor und wusste nicht, ob sie verlegen sein sollte. Tatsächlich hatte sie sich auf dem Weg nach Paris im Zug die Zeit mit einem Buch vertrieben. »Sie schreibt über das Leben in Frankreich.«
»Colette«, wiederholte er mit einem so ratlosen Gesichtsausdruck, dass sie lachen musste.
Eine Weile starrte er sie verblüfft an, dann stimmte er in ihr Gelächter ein.
»Sie haben ein wunderschönes Lachen«, sagte er. »Irgendwie ansteckend.«
»Danke«, erwiderte sie artig und freute sich über sein Kompliment fast so sehr wie darüber, dass in einem Zeitungsartikel über Viktorias letzte Modenschau ausdrücklich ihr strahlendes Lächeln erwähnt worden war.
»Haben Sie die Möbel auch gebaut?«, wechselte sie das Thema und strich über die seidig-glatte Oberfläche der hölzernen Armlehne ihres Stuhls.
Er nickte. »Auch die Inneneinrichtung stammt von mir.«
»Ich würde es mir gern von innen ansehen.« Sie sprang auf und ging durch die offen stehende Tür in das kleine Haus. Hier drinnen duftete es würzig nach frischem Holz. Die zahlreichen Schränke bestanden aus dem gleichen hellen Holz wie die Innenwände.
»Ich weiß nicht … Graf Albrecht möchte nicht, dass jemand …«, hörte sie Berger von der Tür aus sagen, tat aber, als hätte sie nichts gehört. Was war schon dabei, ein unbewohntes Haus anzusehen?
»Hier zu wohnen, muss sich anfühlen, als würde man in einem Baum leben. Der Boden ist wunderschön.« Sie deutete auf das polierte Parkett aus heller Eiche. »Besonders viele Möbel gibt es aber nicht.«
Der Schreiner zuckte mit den Schultern. »Was mich betrifft, werden es auch nicht sehr viel mehr. Ich habe die Schränke gebaut, einen Tisch und ein paar Stühle.«
»Aber wofür ist dieses Haus gedacht?«, fragte Mabelle noch einmal und spazierte durch die offene Tür ins Nebenzimmer.
»Vielleicht als Gästehaus?«, schlug Berger vor.
»Und mit wie vielen Schrankkoffern soll ein Gast anreisen, um all diese Schränke zu füllen?«
Auch im zweiten Zimmer waren zwei komplette Wände mit Einbauschränken versehen. Da Berger wohl noch damit beschäftigt war, die Fächer einzufügen, standen die meisten Schranktüren offen. Als Mabelle einen neugierigen Blick ins Innere des Schranks warf, stellte sie erstaunt fest, dass die Hälfte der Rückwand fehlte. Auf dem Schrankboden stand ein Metallkasten.
»Ist das ein Tresor?«
Erschrocken sah der Schreiner sie an. »Lassen Sie uns jetzt wieder nach draußen gehen. Wenn Herr von Haynbach wüsste, dass ich Sie hier hereingelassen habe …«
Mabelle zuckte mit den Schultern. »Erstens gehöre ich zur Familie. Zweitens habe ich nicht vor, das Ding zu knacken. Und drittens haben wir dann eben jetzt ein Geheimnis. Ich werde niemandem verraten, dass ich dieses Häuschen betreten habe.«
»Dann sollten wir jetzt wirklich …« Nervös deutete Berger nach draußen.
Wortlos folgte Mabelle ihm wieder hinaus auf die Veranda. Als Amico sie sah, erhob er sich von seinem Sonnenplatz und trottete auf sie zu.
»Jetzt wäre es wieder Zeit für Ihren Trick«, raunte Berger.
Mabelle machte Anstalten, den Arm zu heben, damit der Hund nicht zu ihr kam, ließ jedoch die Hand wieder sinken.
»Komm ruhig her«, forderte sie das Tier auf und kam sich sehr mutig vor. Ihr Herzschlag hatte sich zwar etwas beschleunigt, aber sie spürte nicht mehr den Drang, davonzurennen.
Amico blieb trotz ihrer Aufforderung einen halben Meter von ihr entfernt stehen und streckte weit den Hals vor. Seine feuchte Nase zuckte. Offenbar versuchte er, sie zu beschnüffeln, ohne ihr durch seine Nähe Angst zu machen.
»Komm schon her«, flüsterte Mabelle.
Dann spürte sie dem warmen Kopf, den Amico gegen ihren Schenkel in der Baumwollhose schmiegte.
»Er mag es am liebsten, wenn man ihn hinter den Ohren krault«, sagte Berger leise.
Erst ganz zart, dann etwas kräftiger bewegte Mabelle ihre Fingerspitzen an der Stelle, die er ihr beschrieben hatte. Sie spürte, dass der Hund seinen Kopf fester gegen ihr Bein drückte.
Erstaunt sah sie Berger an. »Ich habe gar keine Angst mehr vor ihm.«