15

Schloss Haynbach, Wallburg, Mai 1953

Mabelle schlenderte durch den Park von Schloss Haynbach. Es war ein stürmischer Morgen. Der Wind raschelte im frischen grünen Laub der Bäume und jagte dicke Wolken vor sich her. Noch regnete es jedoch nicht, und Mabelle hoffte, dass es so blieb, denn sie hatte keinen Schirm bei sich.

Sie war erst gegen Mitternacht auf dem Schloss angekommen, da ihre Abreise aus Paris sich aus verschiedenen Gründen verzögert hatte. Anstelle des Vormittagszugs hatte sie letztlich einen Anschluss am Nachmittag gewählt. Der Abend mit Luc Guérin war lang gewesen, und am nächsten Morgen hatte sie zum Abschied mit Gigi in einem kleinen Bistro gefrühstückt. Sie hatten gelacht und geplaudert, doch als es für Mabelle Zeit gewesen war zu gehen, war Gigi unvermittelt in Tränen ausgebrochen.

»Ich werde dich schrecklich vermissen«, hatte sie geschluchzt. »Am liebsten würde ich mit dir fahren. Hier ist es so … hoffnungslos.«

Mabelle hatte gewusst, dass es um Gigis unerwiderte Liebe zu Luc Guérin ging. Sie hatte der Freundin spontan vorgeschlagen, in München bei ihrer Schwester als Hausmannequin zu arbeiten. Schließlich würde Viktoria jemanden zusätzlich brauchen, wenn Mabelle häufiger unterwegs war.

Sie hatte Gigi die Adresse des Münchner Modehauses aufgeschrieben, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass sie es wirklich über sich bringen würde, Guérin zu verlassen. Aber auf diese Weise hatte sie eine Möglichkeit, über die sie nachdenken konnte.

Zudem beruhigte es Mabelles Gewissen, Gigi diesen Ausweg anzubieten. Nicht nur, weil sie mit Luc Guérin ausgegangen war, was Gigi sich wohl seit Jahren vergeblich wünschte, sondern auch weil durch ihre Anwesenheit im Atelier die Dinge auch für die Freundin schwieriger geworden waren. Die Direktrice hatte ihre Abneigung gegen Mabelle auf Gigi übertragen, auch weil sie diejenige war, die Mabelle stets geholfen hatte.

Sobald sie mit Viktoria telefonierte, würde sie ihr erzählen, was für ein wunderbares Hausmannequin Gigi sein würde. Falls sie tatsächlich jemals nach München kommen würde. Bis dahin wäre Mabelle wahrscheinlich längst ebenfalls wieder zu Hause in Starnberg.

Mabelle schrak aus ihren Gedanken hoch, als einige Meter entfernt die Dogge ihres Großvaters auftauchte. Erstaunt stellte sie fest, dass es nur ein winziger Schreck war, weil Amico noch größer war, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte.

Sie sah sich suchend um, doch der junge Schreiner war nirgends zu sehen. Amico schien sich zu erinnern, dass sie ihm unter Claus’ Anleitung nicht erlaubt hatte, zu dicht an sie heranzukommen. Er blieb eine gute Armlänge entfernt stehen und sah sie abwartend an.

Mabelle zögerte kurz. »Na, komm schon her«, sagte sie dann mutig.

Sofort trottete Amico an ihre Seite und hielt den Kopf so, dass er ihre herabhängende Hand berührte. Ihre Finger bewegten sich ganz von selbst und kraulten ihn an jener Stelle hinter den Ohren, wo es ihm so gut gefiel.

»Wo ist denn Claus? Zeig mir, wo er ist«, forderte sie den Hund nach einer Weile auf.

Amico sah sie an, zog die Lefzen zurück, als würde er grinsen, und wedelte mit dem Schwanz. Eine Antwort blieb er ihr schuldig.

»Dann zeige ich dir, wo er wahrscheinlich ist.« Entschlossen ging sie weiter. Der Hund lief neben ihr her.

Als sie sich dem Gartenhaus näherte, sah sie schon von Weitem, dass sämtliche Fensterläden geschlossen waren. Niemand saß auf der Veranda, und als sie die Türklinke herunterdrückte, stellte sie fest, dass das Haus abgeschlossen war.

Die Enttäuschung fühlte sich an, als hätte ihr jemand einen Eimer mit kaltem Wasser über den Kopf geschüttet. Seit ihrer Abreise waren zwar mehr als drei Wochen vergangen, aber aus irgendeinem Grund war sie davon ausgegangen, Claus immer noch hier anzutreffen. Er hatte sie freundlicher als ihre Angehörigen behandelt, und für sie gehörte er hierher nach Schloss Haynbach.

Amico schnupperte sogar schnaubend unter der Tür hindurch, als wollte er sich vergewissern, dass sich dort drinnen niemand versteckte.

»Er fehlt dir, nicht wahr?« Seufzend machte sich Mabelle auf den Rückweg zum Schloss. Vielleicht war ihre Großmutter mittlerweile aufgetaucht. Mabelle hatte um neun Uhr allein im Speisezimmer gefrühstückt, wo Eder ihr mit unbewegter Miene köstliches Rührei, Obstsalat und starken Kaffee serviert hatte. Ihr Großvater lag noch immer krank zu Bett, und sie hatte nicht gewagt zu fragen, wo die anderen Hausbewohner waren. Auf die Gesellschaft ihres Onkels und ihrer Tante konnte sie ohnehin verzichten.

Als sie sich nun dem Schloss näherte, kam ihr eines der Stubenmädchen winkend entgegen. »Die Gräfin … Sie sucht Sie, gnädiges Fräulein.«

Mabelle öffnete den Mund, um der etwa gleichaltrigen jungen Frau zu sagen, sie solle sie um Himmels willen nicht gnädiges Fräulein nennen. Als ihr einfiel, dass Eder auf diese Bemerkung lediglich mit einem erstaunten Blick reagiert hatte, sparte sie sich jedoch die Worte. Eder redete sie weiter unverdrossen als gnädiges Fräulein an. Wie sie in diesem Haus angesprochen wurde, bestimmte offensichtlich der Hausherr, der Butler, die Etikette oder wer oder was auch immer. Jedenfalls nicht sie selbst.

»Wo finde ich die Gräfin denn?«, erkundigte sie sich, während sie an der Seite des Stubenmädchens zum Hintereingang des Schlosses ging.

»Ab elf Uhr vormittags hält sie sich gewöhnlich im Frühstückszimmer auf«, berichtete das Mädchen mit den straff zurückgekämmten dunkelblonden Haaren und dem weißen Häubchen. Der Raum, wo Mabelle gefrühstückt hatte, wurde Speisezimmer genannt. Wie verwirrend.

»Aha«, machte Mabelle und sah bedauernd zu, wie das Mädchen Amico wegscheuchte wie eine lästige Fliege, bevor sie ihm die Tür vor der Nase zumachte.

Ihre Großmutter erwartete sie in einem Raum mit zierlichen Möbeln und duftigen Spitzengardinen, hinter denen schemenhaft das Grün des Parks zu erkennen war.

Das Sofa, auf dem Eveline von Haynbach saß, war mit altrosa Samt bezogen. Vor ihr stand ein rundes Tischchen aus poliertem Rosenholz. Nachdem sie einander einen guten Morgen gewünscht hatten, deutete die Gräfin auf eines der beiden Sesselchen, die dem Sofa gegenüberstanden.

Mabelle zögerte, bevor sie sich setzte. Louise, ihre andere Großmutter, küsste sie morgens immer auf die Wange, aber Eveline schien es normal zu finden, dass sie einander nicht berührten. Sie saß kerzengerade da, ohne mit dem Rücken die Lehne des Sofas zu berühren. Ihre schmalen weißen Hände hatte sie im Schoß gefaltet.

»Das ist ein Modell von Viktoria, nicht wahr?« Erfreut erkannte Mabelle das dunkelblaue Seidenkleid mit den weißen Paspeln.

Eveline nickte, ging aber nicht weiter auf ihre Bemerkung ein. »Ich nehme an, du hast hier unten gefrühstückt. Ich nehme die erste Mahlzeit des Tages seit vierzig Jahren im Bett ein.«

»Eder hat mir Kaffee und ein sehr leckeres Frühstück gebracht. Sonst war niemand da.«

»Albrecht ist der Einzige, der unten frühstückt. Er steht oft spät auf. Hilda lässt sich ebenfalls ein Tablett ans Bett bringen.«

»Ist der Handwerker nicht mehr da, der das Gartenhaus für Onkel Albrecht gebaut hat?«, platzte Mabelle heraus. Sie musste an ihren ersten Morgen hier im Schloss denken, als Claus sie zum Frühstück auf der Veranda des Gartenhauses eingeladen hatte.

Eveline runzelte irritiert die Stirn. »Du meinst den Schreiner? Den jungen Mann, der dich zum Bahnhof gebracht hat? Du hättest dir ein Taxi nehmen sollen, mein Kind.«

Mabelle spürte, dass sie rot wurde, ärgerte sich aber gleichzeitig über ihre Verlegenheit. Sie erinnerte sich an die Bemerkung ihrer Großmutter, als sie gehört hatte, dass Mabelle und der Schreiner sich duzten. Was für altmodische Ansichten hier herrschten.

»Ich kümmere mich nicht um die Pläne meines Sohnes und erst recht nicht um irgendwelche Handwerker.« Wieder legte Eveline missbilligend die Stirn in Falten.

Mabelle schnappte nach Luft und wollte schon auffahren und sagen, dass Handwerker – und Näherinnen – keinesfalls schlechtere Menschen waren als solche, die zufällig auf einem Schloss geboren worden waren. Doch sie beherrschte sich. Es war ihr erster Tag mit ihrer Großmutter. Später war immer noch Zeit, sich zu streiten.

Eveline zog ein weißes Tüchlein aus ihrem Ärmel und betupfte sich damit die Lippen. »Lass uns von wichtigeren Dingen reden.«

»Ich glaube, Amico ist unglücklich.«

»Amico?« Die Gräfin zog die Brauen so hoch, dass sie fast unter ihrem exakt frisierten Haaransatz verschwanden.

»Der Hund. Ich dachte, er gehört meinem … Großvater.«

»Das tut er wohl. Aber wie du weißt, kann er sich momentan nicht um das Tier kümmern. Das ist jetzt Sache der Dienstboten.«

»Ich bin ihm eben im Park begegnet, und er scheint sich einsam zu fühlen. Claus meinte, sie sperren ihn tagelang in die Remise.«

»Claus?« Über der Nasenwurzel der Gräfin erschien eine tiefe Falte.

Mabelle richtete sich ebenfalls kerzengerade auf. Die Vermeidung strittiger Themen gelang ihr nicht sonderlich gut. Andererseits konnte sie nicht über alles schweigen, was ihr wichtig war.

»Vielleicht hilft es dem Grafen, wenn er Amico ab und zu bei sich hat.« Sie verzog die Lippen zu jenem strahlenden Lächeln, das in Zeitungsartikeln als »bezaubernd« bezeichnet worden war.

Eveline sah sie schweigend an und schien sich zu wundern, warum ihre Enkelin plötzlich lächelte.

Da ihre Großmutter offenbar nicht vorhatte, sich zu der Dogge zu äußern, blieb Mabelle nichts anders übrig, als das Thema vorerst fallenzulassen. Sie presste die Lippen aufeinander und wartete. Dann sollte ihre Großmutter doch etwas sagen. Schließlich musste es einen Grund haben, dass sie sie hatte rufen lassen.

»Erzähl mir von deinen Geschwistern«, forderte Eveline sie schließlich auf.

Mabelle atmete tief durch. »Richard ist der Älteste. Er leitet die Hemdenfabrik. Viktoria hat ein Modehaus und bringt jedes Jahr zwei Kollektionen heraus. Und ich …« Sie lachte nervös auf, weil sie keine Ahnung hatte, wie die Gräfin zu ihrem Beruf stand. »Ich bin so etwas wie ein Mannequin.«

Eigentlich wusste Eveline von Haynbach das alles. Seit Kriegsende schrieben Mabelle und Viktoria ihr regelmäßig, und sie hatte ihnen während der schwierigen Nachkriegszeit französische Stoffe besorgt, ohne die Viktoria ihre Modelle nicht hätte nähen können.

»Darüber bin ich informiert. Ich dachte, du kannst mir auch etwas … Persönliches über eure Familie erzählen.«

Erstaunt bemerkte Mabelle, dass es ihrer Großmutter peinlich zu sein schien, diese Bitte auszusprechen. Wahrscheinlich, weil sie sich all die Jahre nicht sonderlich für Privates aus dem Leben ihrer Enkel interessiert hatte.

»Ich habe sehr darunter gelitten, dass ich nicht wusste, wie es meinem Sohn ging«, sagte Eveline leise. »Zwar er hat Dinge getan, die nur schwer zu verzeihen sind – aber er war mein Sohn. Und wird es immer bleiben. Und nun ist er tot, und ich werde ihn nie wiedersehen.« Die letzten Worte kamen mühsam über ihre Lippen, gefolgt von einem unterdrückten Aufschluchzen. Evelines Augen schimmerten feucht, und als hätte sie keine Kraft mehr, gab sie ihre steife Haltung auf und ließ ihre Schultern nach vorn sinken.

Mabelle schluckte. Fast hatte sie in diesem Moment Mitleid mit ihrer Großmutter. Und doch war allein die Hartherzigkeit des Grafenpaares schuld. Nun, da es zu spät war, nutzte auch das Weinen nicht mehr.

»Unser Vater hat schrecklich darunter gelitten, dass ihr euch nicht ein einziges Mal gemeldet habt«, sagte sie streng.

»Ich weiß nicht, ob Helmuts Vater dazu bereit gewesen wäre. Ich hätte es getan, nachdem die erste Enttäuschung vorüber war. Aber ich wusste ja nicht …«

Es fiel Mabelle schwer, aber sie drängte ihre Wut zurück. Nur zu genau wusste sie von den Geburtsanzeigen seiner drei Kinder, die ihr Vater seinen Eltern geschickt hatte. Ebenso von einer Einladung zur späten Hochzeit ihres Großonkels Ludwig und einigen anderen Nachrichten und Briefen, auf die ihre Großeltern nicht reagiert hatten.

Sie war nicht gekommen, um die alten Streitigkeiten neu aufleben zu lassen, sondern um sich zu versöhnen. Wenn sie auch in diesem Moment befürchtete, es würde schwieriger werden, als sie vermutet hatte.

»Du kannst immerhin noch uns kennenlernen«, sagte sie, während Eveline stumm aus dem Fenster starrte. »Richard, Viktoria und mich. Deine Enkel.«

Sie behielt auch die Frage für sich, warum ihre Großmutter niemals auf persönliche Äußerungen in den Briefen eingegangen war, die Viktoria und sie selbst regelmäßig als Dank für die wunderbaren französischen Stoffe geschickt hatten. Das sollte nun alles vergessen sein, auch wenn es ihr schwerer fiel, als sie vermutet hatte.

Langsam kehrte der Blick der Gräfin zu ihr zurück. »Ich danke dir sehr, dass du gekommen und bereit bist, uns zu verzeihen. Auch ich denke nur noch in Liebe an euren Vater. Nach all den Jahren erscheint alles so nichtig. Nicht nur die Heirat mit einer Näherin. Auch all der anderen Dinge, die Helmut getan hat. Die Diebstähle und Betrügereien.«

»Auf keinen Fall war unser Vater ein Dieb oder ein Betrüger«, protestierte Mabelle erschrocken.

»Leider wohl doch«, die Gräfin stieß einen tiefen Seufzer aus. »Zuerst war es eine Kette, die ich irgendwo im Haus verloren hatte. Helmut behielt sie und versteckte sie in seinem Zimmer. Da hat Albrecht sie zufällig gefunden, als er nach einem Buch suchte. Helmut hat mir die Kette nicht zurückgegeben, obwohl er wusste, wie sehr ich an dem Erinnerungsstück hing. Er wollte sie wohl im Notfall zu Geld machen und vergaß dann, sie mitzunehmen. Nach und nach kamen dann die anderen Diebstähle ans Licht. Dass er unser Sparkonto geplündert hatte und die Wertpapiere aus unserem Tresor verschwunden waren, fanden wir erst im Jahr nach seinem Verschwinden heraus.« Ein weiterer schwerer Seufzer hob die Brust der Gräfin.

»Das kann nicht sein!« Mabelle schüttelte energisch den Kopf.

»Helmut brauchte Geld für seine junge Familie. Wovon sollte er euch ernähren?« Eveline klang überraschend milde.

»Unser Vater hat schwer gearbeitet, um den Lebensunterhalt für sich und unsere Mutter und später auch für uns Kinder zu verdienen. Er hat ganz bestimmt nicht gestohlen, um sich ein bequemes Leben zu machen.« Wie eine Faust umklammerte die Wut Mabelles Magen. Wenn sie auch nicht wusste, auf wen sie zornig sein sollte. Das alles musste ein großer Irrtum sein. Aber warum sollte Eveline sich so etwas ausdenken? Um ihr langes Schweigen zu rechtfertigen? Vielleicht. Allerdings klang sie vollkommen überzeugt von den Diebstählen, die Helmut angeblich begangen hatte.

Mabelle liebte ihren Vater und hatte ihn immer für seine absolute Ehrlichkeit bewundert. Auf keinen Fall hatte er seine eigenen Eltern bestohlen. Und auch niemanden sonst. Sie hatte ihn, bis er 1944 im Krieg gefallen war, kein einziges Mal bei einer Lüge ertappt.

»Wer sollte es sonst gewesen sein? Wäre jemand von der Dienerschaft ein Dieb gewesen, hätte er vielleicht den Schmuck nehmen können. Aber wie sollte er an unser Erspartes kommen? An die Wertpapiere, die im Tresor lagen? Wir mussten der Wahrheit ins Auge sehen: Der Schmuck war fort, ein großer Teil unseres Ersparten war fort und ebenso fast die Hälfte unserer Wertpapiere. Helmut war ebenfalls fort, und er brauchte zweifellos Geld, um sich und seine mittellose Frau durchzubringen. Der Zusammenhang ist offensichtlich.«

Mit einer fahrigen Handbewegung, die Mabelle zeigte, dass die Gelassenheit ihrer Großmutter nur äußerlich war, strich sich Eveline über die Stirn. »Was unsere Ersparnisse betraf, war es nicht so schlimm, dass er sie ausgegeben hat, bevor die Inflation den Wert des Geldes auf ein Minimum schrumpfen ließ. Aber natürlich ändert das nichts daran, dass es nicht richtig war, es sich einfach zu nehmen.«

Mabelle wollte erneut protestieren, aber sie wusste, es hatte keinen Sinn. »Unsere Mutter hat bis zu ihrem Tod darunter gelitten, dass ihr Mann ihretwegen sein Erbe und den Kontakt zu seiner Familie verloren hat«, sagte sie stattdessen.

Die Gräfin hatte sich wieder kerzengerade aufgerichtet und war blass geworden. »Deine Mutter ist tot?«

»Hast du die Karte mit der Todesanzeige auch nicht bekommen?« Mabelle runzelte die Stirn. Sie hatten höflicherweise eine Karte ins Schloss geschickt, wenn sie auch nicht damit gerechnet hatten, dass von dort jemand zur Beisetzung kommen würde. Schließlich war Claire der Grund gewesen, aus dem das Grafenpaar den Kontakt zu dem ältesten Sohn abgebrochen hatte.

»Nein. Es tut mir leid. Ich hätte sonst einen Kranz geschickt.« Nervös strich Eveline sich die perfekte Frisur glatt.

Langsam hatte Mabelle das Gefühl, dass die Gräfin vielleicht doch gut im Schwindeln war. Wenn sie etwas nicht wusste, musste sie keine Entscheidung treffen, ob sie reagieren wollte. Wie sie es allerdings geschafft hatte, all die Nachrichten ihres angeblich so geliebten Sohnes zu ignorieren, konnte Mabelle nicht verstehen. Diese Frau war ihr ein Rätsel. Aber sie war ihre Großmutter, und deshalb würde sie zumindest versuchen, das Rätsel zu lösen. Ob ihre Großeltern dann noch einen Platz in ihrem Leben hätten, würde sich zeigen.

»Viktoria ist also verheiratet und hat eine kleine Tochter«, unterbrach Eveline die Überlegungen ihrer Enkelin. »Das bedeutet, wir haben schon eine Urenkelin. Sie sieht es denn bei dir aus? Steht uns demnächst eine Verlobung ins Haus? Du bist eine so hübsche junge Frau und hast sicher eine Menge Bewerber.«

»Ich lasse mir Zeit«, erklärte Mabelle mit einem gezwungenen Lächeln. Sie fragte sich, wann sie ihren Großeltern gestehen sollte, dass es da noch Sylvie gab. Und dass sie, Mabelle, deren unverheiratete Mutter war. Falls sie sich empörten oder sie als unmoralisch ansahen und fortschickten, sollte es eben so sein. Dann hatten der Graf und die Gräfin ihre Enkel und ihre beiden süßen Urenkelinnen nicht verdient.

Dennoch wollte sie nicht an diesem Morgen damit herausrücken. Zunächst gab es einige Wahrheiten, die sie auf Schloss Haynbach herausfinden musste.

»Meinst du, wir können jetzt nach oben gehen?«, fragte Mabelle vorsichtig. »Wir sollten Amico mitnehmen. Großvater vermisst seinen Hund bestimmt.«

Eveline zögerte kurz und nickte dann. »Möglicherweise muntert ihn das Tier etwas auf.«

Erstaunt sah Mabelle ihre Großmutter an. Ihre Zustimmung überraschte sie. »Ich könnte Amico rufen. Vielleicht kommt er. Wir haben uns schon ein bisschen angefreundet.«

Mabelle und ihre Großmutter gingen gemeinsam hinaus in die Halle. Dann rief Mabelle von der Haustür aus nach dem Hund. Es dauerte keine zwei Minuten, da stürmte ein schwarz-weißer Blitz die Freitreppe herauf. Amico bremste auf dem oberen Absatz, indem er alle vier Pfoten gegen den polierten Marmor stemmte, blieb einen halben Meter vor Mabelle stehen und sah sie aufmerksam an. Offenbar wartete er auf das Zeichen, näher kommen zu dürfen.

»Du hast ein Händchen für Hunde, wie es aussieht«, stellte Eveline fest.

Mabelle zuckte mit den Schultern. Dass sie bei ihrer ersten Begegnung mit Amico vor Angst gezittert hatte, und wer ihr damals geholfen hatte, diese Furcht zu überwinden, behielt sie für sich.

»Komm«, sagte sie zu dem großen Hund, der ihr tatsächlich auf dem Fuß folgte.

Die beiden Frauen stiegen nebeneinander die geschwungene Treppe zu der Galerie im ersten Stock hinauf. Auf halber Höhe verlor Amico die Geduld, und er lief voraus. Offenbar wollte er so schnell wie möglich zu seinem Herrn.

Auf dem Flur kam ihnen Hilda entgegen. »Guten Morgen«, grüßte sie knapp und ließ sich nicht anmerken, dass sie Mabelle seit ihrer Rückkehr nach Schloss Haynbach zum ersten Mal sah. Sie wandte sich sofort an Eveline.

»Ihr wollt doch wohl nicht zu zweit und zusammen mit dem Vieh Wilhelm überfallen?«, erkundigte sie sich in scharfem Ton.

»Wir überfallen ihn nicht, wir statten ihm einen Besuch ab.« Eveline hob nicht einmal die Stimme.

»Der Arzt hat ihm Ruhe verordnet.« Hilda schien äußerst besorgt um ihren Schwiegervater.

»Bisher hat ihm die Ruhe kein bisschen geholfen. Im Gegenteil. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, wirkt er noch ein bisschen schwächer und trauriger. Vielleicht kann Mabelle ihn aufmuntern. Oder sein Hund.«

Energisch nahm Eveline den Arm ihrer Enkelin und zog sie weiter. Obwohl sie sich ein bisschen dafür schämte, bereitete es Mabelle Genugtuung, dass zwischen ihrer Großmutter und ihrer Tante Hilda augenscheinlich keine Harmonie herrschte. Sie mochte weder ihre Tante noch ihren Onkel, zumal beide ihr das Gefühl gaben, im Schloss unerwünscht zu sein. Ihre Großmutter war auch kein sonderlich herzlicher Mensch, aber sie gab sich Mühe. Und sie schien Gefühle zu haben, auch wenn es ihr schwerfiel, sie zu zeigen.

Amico stand bereits leise winselnd vor dem Zimmer seines Herrn und kratzte ungeduldig auf der Schwelle.

»Er will tatsächlich zu Wilhelm.« Eveline klang so erstaunt, als wäre die Zuneigung des Hundes zu ihrem Mann etwas Neues für sie.

Sie klopfte kurz und öffnete die Tür. Dieses Mal waren die Gardinen zurückgezogen. Die Sonne war hinter den Wolken hervorgekommen und schien direkt ins Zimmer.

»Sie wollen nicht mit dem Hund, gnädige Frau … Das geht wirklich nicht.« Eine Krankenschwester in einer blütenweißen Schürze, ein Häubchen auf dem dauergewellten Haar, eilte ihnen entgegen.

»Sie können Pause machen, Frau Lübecke. Ich bleibe für mindestens eine halbe Stunde bei meinem Mann.« Eveline warf der Schwester einen so strengen Blick zu, dass diese ohne weitere Proteste verschwand. Der Hund war bereits zum Bett des Grafen gestürzt und leckte begeistert die Hand seines Herrn.

»Mein Amico.« Wilhelm hob den Kopf vom Kissen und betrachtete liebevoll seinen Hund.

»Mabelle hat vorgeschlagen, ihn zu dir zu bringen.« Energisch schob die Gräfin ihre Enkelin zu ihm hin.

»Guten Morgen«, flüsterte Mabelle unsicher und blinzelte ins helle Sonnenlicht.

»Wer ist das?«, erkundigte sich der Graf mit brüchiger Stimme.

»Helmuts jüngste Tochter«, erklärte Eveline. In ihrer Stimme war plötzlich ein kaum merkliches Beben. »Unsere Enkeltochter.

Wilhelm kniff die Augen zusammen und richtete einen überraschend lebhaften Blick auf Mabelle.

»Komm näher«, sagte er dann in so barschem Ton, dass sie leicht zusammenzuckte.

Zögernd folgte sie seinem Befehl.