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Schloss Haynbach, Wallburg, Anfang Juni 1953

Zu ihrem eigenen Erstaunen wurde Mabelle bei ihren Besuchen auf dem Schloss ihrer Großeltern zur Frühaufsteherin. Auch am Tag nach der Krönungszeremonie war sie schon um sieben Uhr wach. Sie sprang aus dem Bett, nahm eine schnelle Dusche, fuhr sich mit dem Kamm durch die Haare und zog sich an.

Sie hatte vor, gemütlich ins Dorf zu schlendern, sodass sie etwa um acht Uhr dort wäre. Um diese Zeit würde hoffentlich der einzige Laden öffnen. Ein Blick in das kleine Schaufenster hatte sie bei ihrem Spaziergang am Vortag fast erschlagen. Das Sortiment reichte von Puddingpulver über Katzenfutter bis hin zu Gummiringen für Einmachgläser und Schnürsenkeln. Selten hatte sie ein so wildes Sammelsurium an Waren gesehen, was allerdings beruhigend war, wenn man etwas Seife und Creme kaufen wollte.

Sie lief die Treppe hinunter und verließ das Schloss durch den Haupteingang. Trotz der frühen Stunde war es schon angenehm warm. Die Sonne stand am blank geputzten Himmel, und im Park gaben die Vögel ein mehrstimmiges Konzert.

Tief atmete Mabelle die frische Luft ein, die sich auf der Haut ihrer nackten Arme wie Seide anfühlte. Da sie genug Zeit hatte, wählte sie anstelle der breiten Auffahrt einen schmalen Fußweg, der sich in Richtung Tor dahinschlängelte. Er führte an blühenden Blumenbeeten, einem kleinen Springbrunnen und mehreren niedrigen Hecken vorbei.

»Guten Morgen.« Die Stimme kam so unerwartet von der Seite, dass Mabelle vor Schreck einen kleinen Hüpfer machte.

»Entschuldigung. Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich dachte, du hättest mich gesehen.«

»Wie sollte ich dich gesehen haben? Du sitzt praktisch im Gebüsch.« Erst auf den zweiten Blick hatte Mabelle die langen, in blauen Arbeitshosen steckenden Beine bemerkt, die aus dem Busch zu wachsen schienen. Die Bank, auf der Claus Berger saß, stand direkt hinter einer Ligusterhecke.

Als sie auf ihn zukam, machte er Anstalten, höflich aufzustehen. Doch sie war schneller und ließ sich einfach neben ihm auf die Bank fallen. »Oh. Es gibt Frühstück«, stellte sie erfreut fest.

Neben sich hatte Claus Berger ein Stück Pergamentpapier ausgebreitet, auf dem zwei belegte Brote und zwei Tomaten lagen. Eine der Schnitten war bereits angebissen. Auch die Thermosflasche war da.

»Das sieht lecker aus. Darf ich?« Bis jetzt hatte sie ihr Hungergefühl erfolgreich ignoriert, aber beim Anblick des Frühstücks knurrte sofort ihr Magen. Schließlich hatte Claus schon einmal mit ihr geteilt.

Er nickte, und sie griff nach dem noch unberührten Brot. An den Rändern hing gekochter Schinken heraus. Köstlich. »Bekomme ich auch Kaffee? Ich habe unser gemeinsames Frühstück vermisst.«

Wortlos reichte er ihr den dampfenden Becher, aus dem es herrlich nach Bohnenkaffee duftete. Sie nahm einen großen Schluck und seufzte glücklich.

Er räusperte sich. »Wenn ich mich recht erinnere, haben wir nur ein einziges Mal zusammen gefrühstückt.«

»Heute ist das zweite Mal. Das ist schon fast eine Gewohnheit.« Sie biss herzhaft in ihr Brot. Der Schinken war saftig, die cremige Butter mild gesalzen und das Brot ganz frisch.

»Du rettest mir das Leben«, sagte sie, nachdem sie den Bissen hinuntergeschluckt hatte. »Mal wieder.«

Er musterte sie prüfend. »Man sollte meinen, du hättest in Paris aufregenderes Essen bekommen. Sagt man nicht, dass die Franzosen Feinschmecker sind?«

Es gefiel ihr, dass er sich an ihren Parisaufenthalt erinnerte, den sie im Gespräch nur kurz erwähnt hatte. »Na ja, teilweise fand ich das Essen etwas … gewöhnungsbedürftig.«

Sie musste an das sündhaft teure Restaurant denken, in das Luc Guérin sie eingeladen hatte.

»Ich nehme an, du bist in Paris sehr oft ausgeführt worden«, sagte Claus, als hätte er ihre Gedanken erraten. War er vielleicht ein kleines bisschen eifersüchtig?

»Das ist durchaus vorgekommen«, sagte sie gelassen, obwohl es nur ein einziges Mal passiert war.

»Da bin ich mir sicher.« Mit zusammengekniffenen Lidern schaute der junge Schreiner hinüber zum Schloss, dessen Mauern und Türme sich über den Baumwipfeln des Parks erhoben.

»Das hier schmeckt mir besser.« Sie hob ihre Hand mit dem angebissenen Schinkenbrot.

»Mach dich nicht lustig über mich! Das ist eine Stulle, die ich morgens im Stehen in meiner Küche geschmiert habe. Du bekommst weitaus bessere Sachen. In Paris, wo wohlhabende Männer dich ausführen, und natürlich auch hier im Schloss. Schließlich bist du die Enkelin des Grafen.«

Erschrocken starrte sie ihn an. Worum ging es hier eigentlich? Der Mann, der bei ihren vorherigen Begegnungen mit ihr fröhlich und offen geredet und gescherzt hatte, schien plötzlich ein anderer zu sein. Wieso hatte er vor nicht allzu langer Zeit sein Frühstück mit ihr geteilt und meinte nun plötzlich, sie sei sich zu fein für ein belegtes Brot und Kaffee aus der Thermosflasche?

»In Paris bin ich nur einmal mit einem Mann ausgegangen, und es hat mir nicht besonders gut gefallen«, gestand sie. »Auf der Speisekarte standen Schnecken.«

»Es gab auch andere Gerichte. Da bin ich sicher.« Als wäre ihm der Appetit vergangen, warf er seine angebissene Brotscheibe auf das Pergamentpapier.

»Ich war mit dem Couturier aus, der mich für seine Modenschau engagiert hatte. Es war sozusagen … beruflich.«

Claus’ Miene wurde womöglich noch finsterer. Sie biss sich auf die Lippen. »Es hat mir nichts bedeutet, dass er sich für mich interessierte.« Sie stockte, weil sie spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Wieso entschuldigte sie sich dafür, dass sie in Paris mit einem Modeschöpfer in einem teuren Restaurant gewesen war? Das war schließlich kein Verbrechen. »Was ist denn plötzlich mit dir los?«, fuhr sie Claus an. »Habe ich dir irgendwas getan?«

»Mir ist nur auf einmal klar geworden, wie albern das hier ist.« Er wedelte mit der Hand durch die Luft. »Du bist die Enkelin des Grafen, ein Mannequin aus Paris. Reich und wunderschön und umschwärmt. Keine Frau, mit der man im Park Wurstbrote isst.«

Verblüfft starrte Mabelle ihn an. »Das alles war ich auch schon bei unserer ersten Begegnung. Wieso bist du plötzlich zu der Ansicht gelangt, dass ich zu fein für deine Stullen bin?«

»Das muss ich dir nicht erklären. Du weißt es auch so, wenn du ehrlich bist.« Fahrig schlug er das Pergamentpapier über den Brotresten zusammen. Dann schob er das kleine Päckchen in seine Jackentasche und sprang von der Bank auf.

»Ich verstehe wirklich nicht, wieso du …« Sie stockte.

»Es gibt nichts zu verstehen und nichts zu bereden.« Er sah an ihr vorbei in die Tiefe des Parks.

»Ich habe neulich in dem Buch über die Tauben gelesen. Du weißt schon«, wechselte sie das Thema. »Leider bin ich noch nicht sehr weit gekommen.«

»Dann noch viel Vergnügen mit dem Rest.« Sein Blick traf sie wie ein Guss kaltes Wasser.

Da er offenbar nicht bereit war, ihr zu sagen, was sie falsch gemacht hatte, konnte sie es nicht ändern. Sie erhob sich ebenfalls. Claus und sie standen nun so dicht voreinander, dass sie seinen Atem auf ihrer Stirn spürte. Kurz wurde ihr schwindelig, als hätten sie miteinander Walzer getanzt. Viel länger und viel schneller, als sie in jener Nacht in Paris mit Luc getanzt hatte. Da war ihr nicht schwindelig geworden, und auch ihr Blut hatte kein bisschen in ihren Adern gekribbelt.

»Ich muss ins Dorf. Eine Besorgung machen«, sagte sie und rührte sich nicht von der Stelle. Es war schwierig, ihren Blick aus seinem zu lösen. Obwohl er so unfreundlich mit ihr gesprochen hatte, schien es ihm schwerzufallen, sich abzuwenden.

Sie hielt die Luft an und wartete. Vielleicht würde er lachen und sagen, dass er sie auf den Arm genommen hatte und sie nun endlich in Ruhe ihr Frühstück beenden sollten. Schließlich war sie immer noch dieselbe, die sie gewesen war, als er ihr zum ersten Mal eins von seinen Broten abgegeben hatte.

Doch er sagte nichts, sondern drehte sich einfach um und ging davon.

»Danke für das Brot. Wir sehen uns«, sagte sie leise, als er schon längst verschwunden war. Dann machte sie sich endlich auf den Weg zum Dorfladen.

Eine halbe Stunde später erreichte Mabelle das Dorf am Fuße des Hügels. Inzwischen stand die Sonne am wolkenlosen Himmel schon so hoch, dass nach dem flotten Spaziergang feine Schweißperlen auf ihren nackten Armen schimmerten. Dennoch beschleunigte sie ihre Schritte. Am Ende der Dorfstraße lag der Krämerladen, der das Ziel ihrer Wanderung war. Sie musste sich beeilen. Zwar hatte sie Eder gesagt, dass sie eine Besorgung machen wolle, aber wenn sie zu lange wegblieb, würden ihre Großeltern sich am Ende vielleicht doch Sorgen machen.

»Fräulein von Haynbach?« Unvermittelt trat ihr ein weißhaariger Mann in den Weg.

Sie musterte ihn verblüfft. Woher wusste der Alte, wer sie war? Sie hatte ihn noch nie gesehen.

»Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Es geht um die Gräfin. Und um den Grafen.« Er ächzte leise, als müsste er eine schwere Last tragen.

Mabelle wandte automatisch den Kopf, sah den Hügel hinauf und betrachtete das prachtvolle Schloss, in dem ihre Großeltern lebten.

»Wer sind Sie überhaupt?«, fragte sie den alten Mann, der seine Hände vor dem Bauch gefaltet hatte und sie gleich darauf nervös wieder löste.

Er zögerte lange, bevor er antwortete. »Mein Name ist Anton Weniger. Ich bin … Ihr … Großvater.«

»Wie bitte?« Mabelle glaubte, sich verhört zu haben.

»Bis vor sechs Jahren war ich dort oben angestellt.« Nun war es sein Blick, der den Hügel hinauf wanderte.

»Und weiter?«, drängte Mabelle ungeduldig. Natürlich war der Alte verrückt. Anders konnte es gar nicht sein. Dennoch spürte sie in ihrem Magen einen eiskalten Klumpen.

»Es ist ein Geheimnis, das ich eigentlich niemandem erzählen darf«, raunte Anton Weniger ihr zu, während er unruhig die menschenleere Dorfstraße entlang schaute.

»Und warum reden Sie dann mit mir darüber?«, erkundigte sie sich barsch.

»Mir wurde zugetragen, dass Sie der Suche nach der Wahrheit sind. Dass Sie Ihre Großeltern kennenlernen wollen.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?« Ihr Misstrauen wuchs mit jeder Minute.

»Ich habe immer noch meine Kontakte ins Schloss.«

»Was wollen Sie von mir?« Ungeduldig tippte Mabelle mit der Fußspitze auf das Straßenpflaster.

Wieder atmete der alte Mann tief durch, bevor er leise anfing zu reden: »Vor gut fünfzig Jahren … Ich war Erster Diener auf Schloss Haynbach. Und die Gräfin … Sie fand Gefallen an mir, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich ahnte es, als er geboren wurde, aber erst zwei Jahre nach seiner Geburt sagte sie mir, dass Helmut, ihr erstgeborener Sohn und der damalige Erbe des Grafentitels, mein Kind war.« Das sprudelte heraus wie auswendig gelernt. Als hätte der alte Mann sich diese Sätze lange überlegt.

Mabelle schüttelte irritiert den Kopf. »Und diese seltsame Geschichte soll ich Ihnen glauben? Sie hatten also eine Affäre mit meiner Großmutter, und niemand wusste davon? Niemand auf dem Schloss dachte darüber nach, ob der Erbe des Grafen auch wirklich sein Sohn war?«

»Was glauben Sie, wie viele Kinder in Adelshäusern in Wahrheit einen anderen Vater haben, als nach außen hin erklärt oder als selbstverständlich angenommen wird?« Der Alte kicherte vor sich hin und rieb sich nervös die Hände. »Mag sein, der Graf weiß es oder ahnt es zumindest. Aber falls es so ist, wird darüber Stillschweigen bewahrt. Ich musste der Gräfin mein Wort geben, das Geheimnis mit ins Grab zu nehmen.« Mit einer dramatischen Geste presste er sich den Zeigefinger gegen die Lippen.

»Und da stellen Sie sich mitten auf die Straße und sagen es mir? Sie kennen mich doch gar nicht. Wie wollen Sie wissen, dass ich nicht sofort zu meinem Großvater renne und ihm alles erzähle?«

Mabelle versuchte, die Übelkeit zu ignorieren, die in ihr aufstieg. Wahrscheinlich war die seltsame Geschichte von Anfang bis Ende erfunden. Vielleicht war Anton Weniger nicht einmal Diener auf Schloss Haynbach gewesen. Gab es nicht in jedem Dorf einen Verrückten, der herumlief und wirre Dinge von sich gab? Falls aber irgendetwas an der Sache stimmte, war Wilhelm von Haynbach möglicherweise nicht ihr Großvater. Seltsamerweise machte dieser Gedanke sie traurig. Trotz seiner bärbeißigen Art hatte sie ihn lieb gewonnen. Nachdem sie ihn endlich gefunden hatte, wollte sie ihn nicht sofort durch einen anderen alten Mann ersetzen.

Prüfend starrte sie Anton Weniger an. Nein, sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er tatsächlich der Vater ihres Vaters sein sollte. Nicht weil er kein Graf war. Titel hatten keine Bedeutung für sie – so wie sie seit vielen Jahren offiziell in Deutschland bedeutungslos waren. Doch Wilhelm von Haynbach war, selbst wenn er nicht ganz gesund war, eine imposante Persönlichkeit. Die Art, wie er sprach, seine energischen Handbewegungen, wie er sie ansah … Vieles an ihm erinnerte sie an ihren Vater. Anton Weniger dagegen wirkte nervös und schwach. Er war klein und schmal, und der Blick seiner fast farblosen Augen huschte ziellos herum wie eine Maus auf der Suche nach einem Versteck.

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich werde über das nachdenken, was Sie mir erzählt haben.«

»Aber Sie müssen schweigen. So wie ich all die Jahre geschwiegen habe.« Der Alte knetete unruhig seine Hände. »Denken Sie daran, welches Unglück Sie sonst über die Gräfin bringen. Und über den Grafen natürlich auch.«

»Wenn es tatsächlich um ein so furchtbares Geheimnis geht, hätten Sie es mir nicht verraten sollen«, sagte Mabelle ungeduldig.

Er rollte mit den Augen, als müsste angestrengt über eine Antwort nachdenken. »Recht auf Wahrheit?«, stieß er dann hervor, als würde er sie fragen, ob sie das als Begründung gelten ließ.

»Wo finde ich Sie? Falls ich noch Fragen habe.«

Erschrocken starrte er sie an.

»Außerdem haben Sie eben behauptet, dass Sie mein echter Großvater sind, der Vater meines Vaters. Da sollte ich wissen, wo Sie wohnen.«

»Reden Sie mit niemandem darüber«, raunte er. »Verhalten Sie sich nur entsprechend. Der Graf ist nicht Ihr Großvater. Und Ihre Großmutter ist eine Betrügerin. Sie sollten abreisen und diese Leute vergessen.«

Damit wandte er sich um und verschwand erstaunlich behände in einer schmalen Seitengasse. Seine Adresse hatte er ihr nicht verraten.