Schloss Haynbach, Wallburg, Mai 1954
Hubert Clarent bereute aus tiefstem Herzen, diesen Auftrag angenommen zu haben. Er war Modefotograf. Ein höchst erfolgreicher Modefotograf, seit im vergangenen Jahr in der Elle eine Fotostrecke von ihm erschienen war und man eines seiner Bilder für den Titel ausgesucht hatte.
»Der Hund muss da weg«, rief er und wedelte wild mit der Hand, weil die riesige schwarz-weiße Dogge sich ständig neben den Schlossherrn drängelte, den Großvater von Mademoiselle Mabelle, die heute geheiratet hatte.
Was hatte ihn nur geritten, nach Deutschland zu fahren, um Hochzeitsfotos zu machen. Hochzeitsfotos! Wie ein simpler Dorffotograf.
Zugegeben, Luc Guérin bezahlte ihn großzügig für diese Mühe. Und die Braut, Mademoiselle Mabelle, war jenes Fotomodell, das ihm sehr viel Glück gebracht hatte. Sie war auf dem Titelbild gewesen, für das er nun in der ganzen Branche bekannt war.
»Amico muss unbedingt mit aufs Hochzeitsbild«, protestierte Mademoiselle Mabelle, und dann musste es wohl auch so sein. Er als Fotograf hatte hier offenbar gar nichts zu sagen.
Die Braut sah in ihrem cremefarbenen Spitzenkleid wunderschön aus, und er hätte sie viel lieber einzeln fotografiert. Höchstens noch zusammen mit Mademoiselle Gigi, die ebenfalls wusste, dass man stillstehen musste, wenn der Fotograf es befahl.
So aber kämpfte er mit einem vollkommen undisziplinierten Haufen. Einer großen, lebhaften Familie, die sich lieber unterhielt, lachte und herumzappelte, als auf das zu hören, was er von ihnen verlangte. Wie sollte er da ein vernünftiges Foto machen?
Zugegeben, die Kulisse war traumhaft. Eine breite Freitreppe vor einem Schloss. Das hatte man nicht alle Tage. Aber was nutzte das, wenn ständig einer der Beteiligten von den Stufen sprang, mit jemand anderem den Platz tauschte oder sonst etwas tat, das beim Fotografieren absolut unerwünscht war?
Gerade löste sich die gesamte Festgesellschaft auf, weil das kleinere der beiden Mädchen davongelaufen war.
»Christine, meine Süße, bleib doch hier«, rief die Schwester der Braut und lief los, um das Kind einzufangen. Sie war Viktoria von Haynbach, eine recht bekannte deutsche Modeschöpferin, wie er wusste. Ihr Mann, den alle nur Lukas nannten, beteiligte sich eifrig an der Jagd nach der gemeinsamen Tochter.
»Wo ist Brutus? Mein Kater muss mit aufs Bild!« Nun machte sich das größere der beiden Mädchen ebenfalls davon. Zu seinem Erstaunen hatte er erfahren, dass sie die Tochter von Mademoiselle Mabelle war. Wer hätte das gedacht? Es waren chaotische Zeiten, fast so chaotisch wie die Familie da auf der Treppe.
»Sylvie, komm sofort hierher! Brutus hält doch nie im Leben lange genug still. Außerdem wissen wir gar nicht, wo er ist.« Nun war auch noch die Braut verschwunden, und der Bräutigam, ein eigentlich ruhiger, sympathischer Mann, lief ihr hinterher. Ob er seine frisch angetraute Frau einfangen wollte oder ihre Tochter, wusste man nicht so genau.
Der Bruder der Braut und seine Frau – sie war klein und zart, mit einem Madonnengesicht, dessen klare, unauffällige Schönheit sein geschultes Fotografenauge sofort erkannte hatte –, standen erstaunlicherweise noch auf der Treppe. Mit ihnen ein etwa achtjähriger Junge, wohl ihr Sohn.
»Richard, kannst du bitte den Hund einfangen? Jetzt ist er hinter den Kindern hergelaufen«, rief in diesem Moment die Gräfin von Haynbach. Sie, ihr gräflicher Gatte und die französische Großmutter der Braut, thronten am vorderen linken Rand des Bildes auf drei Korbstühlen. Man hatte die Sitzgelegenheiten für die betagteren Familienmitglieder herbeigeschafft, als sich herausstellte, dass die Sache mit dem Hochzeitsfoto eindeutig mehr als fünf Minuten in Anspruch nehmen würde.
»Frieda, Wolfgang, kommt mit und helft mir suchen«, rief der als Richard angesprochene Bruder der Braut, und jetzt lief auch Mademoiselle Gigi weg, die – immerhin war sie Profi – bis eben tapfer vor der Kamera ausgeharrt hatte. Damit war die Treppe vor dem Schlossportal leer.
Seufzend schlenderte Clarent zu den drei älteren Herrschaften, die, entspannt und leise miteinander plaudernd, in ihren Korbstühlen saßen, während aus der Tiefe des Parks Stimmen und Gelächter zu hören waren.
»Meinen Sie, die kommen bald wieder?«, erkundigte Clarent sich missmutig.
Die Gräfin lachte. »Natürlich. Man braucht nur ein bisschen Geduld, lieber Monsieur Clarent.«
»Und etwas Optimismus«, fügte die französische Dame hinzu.
»So ist es«, brummte der Graf. »Am Ende wird alles gut. Oder wenigstens fast alles.«