Das Wolfsrudel

Tom zögerte und betrachtete unbehaglich die Gesichter der bewaffneten Männer. Mindestens ein Dutzend von ihnen stand zwischen ihm und dem Schlitten. Normalerweise vermied er es, anderen von seiner Mission zu erzählen, aber er musste die Leute überzeugen, ihn durchzulassen.

„Hört mir bitte zu“, sagte er. „Ein böser Magier namens Malvel treibt hier in Seraph sein Unwesen. Er ist mächtig und wird euer Land ins Verderben stürzen, wenn es mir nicht gelingt, ihn zu besiegen. Ihr müsst uns gehen lassen.“ Er deutete auf die Schneelandschaft. „Malvel hat unseren Wolf verzaubert, deshalb ist er außer Kontrolle. Ich muss ihm folgen und ihn aufhalten.“

Elenna stellte sich neben ihn. „Es ist wahr“, sagte sie. „Werdet ihr uns helfen?“

Der Gesichtsausdruck des Anführers wurde etwas milder. Für die Bewohner von Seraph war Gastfreundschaft sehr wichtig – würde er einlenken und ihnen helfen?

„Ich habe davon gehört, dass Bestien unser Land unsicher machen“, gab er schließlich zu. „Sind sie etwa das Werk dieses Malvel?“

„Das sind sie“, antwortete Tom und erwiderte den Blick des Mannes.

„Dann werden wir euch nicht länger aufhalten“, sagte er. Er wandte sich zu den anderen Männern um. „Lasst sie gehen. Seid wachsam, aber lasst sie unser Lager friedlich verlassen.“

Tom und Elenna sahen sich erleichtert an, als die Männer ihre Dolche und Messer senkten.

„Kommt“, forderte der Mann sie auf und ging zu dem Schlitten hinüber. „Ich verrate euch die wichtigsten Kommandos. Den Rest übernehmen die Hunde.“

Tom stellte sich auf den Holzschlitten und wickelte die langen Leinen auf. Elenna stellte sich hinter ihn und hielt sich am Lederriemen seiner Fellweste fest.

„Behalte immer die Kontrolle über die Hunde“, sagte der Mann zu Tom. „Um nach rechts zu fahren, sage ‚hott‘, für links ‚hü‘. Damit die Hunde rennen, sage ‚Marsch‘.“ Er klopfte Tom auf die Schulter. „Viel Glück!“

„Kümmert ihr euch um Storm, bis wir zurückkehren?“, fragte Tom. Den Beutel mit den magischen Gegenständen hatte er bereits aus der Satteltasche genommen und ihn sich über die Schulter gehängt.

„Wir kümmern uns um den Hengst“, sagte der Mann. „Aber wenn ihr den Schlitten und die Hunde nicht bis zum Vollmond zurückgebracht habt, gehört das Pferd uns!“

„Einverstanden“, sagte Tom.

Der Mann trat zurück und rief laut: „Marsch!“

Die Hunde bellten und rannten los.

Der Schlitten glitt erst langsam und dann immer schneller durch den Schnee. Tom und Elenna hielten sich gut fest. Tom warf einen letzten Blick über seine Schulter auf das hinter ihnen liegende Lager.

Mühelos und leise rannten die Hunde vorwärts und zogen den Schlitten mit gesenkten Köpfen und heraushängenden Zungen durch den tiefen Schnee.

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Der Wind war kalt und Tom kniff die Augen zusammen. Er suchte den Horizont ab und hoffte auf ein Zeichen von Silver. Seine Finger waren bereits taub. Wie lange würde es dauern, bis er die Leinen nicht mehr halten konnte?

Sie rasten weiter, vorbei an den vielen schneebedeckten Felsbrocken und durch steile Täler, wo Eiszapfen wie Speere von den hoch aufragenden Felsen hingen.

Endlich entdeckte Tom einen dunklen Fleck, der sich rechts von ihnen durch den Schnee bewegte.

„Hott!“, rief er. Seine Stimme krächzte, weil die Luft in seinen Lungen so kalt war. „Hott!“

Die Hunde gehorchten und steuerten nach rechts. Der Schlitten folgte nun dem schwarzen Fleck.

Langsam holten sie auf. Tom konnte jetzt erkennen, dass es wirklich Silver war. Aber der Wolf hatte sich verändert. Er war um einiges größer und muskulöser als sonst.

„Silver!“, rief Elenna. „Bleib stehen! Wir wollen dir helfen!“

„Er versteht dich nicht“, meinte Tom.

Doch als der Wolf Elennas Stimme hörte, blieb er tatsächlich stehen. Er drehte sich um und knurrte sie an.

Toms Herzschlag setzte für einen Moment aus. Silver war fast nicht mehr wiederzuerkennen. Sein Gesicht war scheußlich und verzerrt, seine Augen glühten bösartig. Seine gekrümmten Kiefer öffneten sich und entblößten abscheuliche, speichelbedeckte Fangzähne. Seine Krallen waren lang und gebogen wie scharfe Sensen und sein Fell dick und struppig. Auf seinem Rücken bildeten die Haare eine Reihe spitzer Stacheln.

Tom zog an der Leine und die Hunde blieben stehen. Sie wichen zurück und drückten sich in den Schnee. Manche winselten beim Anblick des Biests, das vor ihnen aufragte.

Tom und Elenna sprangen vom Schlitten.

„Was sollen wir tun?“, rief Elenna. „Ich kann nicht auf ihn schießen! Ich kann einfach nicht!“

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„Wir müssen tun, was getan werden muss, um Malvels Pläne zu durchkreuzen“, sagte Tom entschlossen und legte die Hand auf den Schwertgriff. „Auch wenn das bedeutet, dass wir mit Silver kämpfen müssen.“

Er machte einen Schritt vorwärts. Da hob das Biest seinen riesigen zotteligen Kopf und heulte laut.

In Toms Ohren hallte das schreckliche Heulen noch nach, als er plötzlich sah, wen das Heulen angelockt hatte. Am Horizont tauchten dunkle Gestalten auf. Wölfe!