Das Wolfsrudel kam näher und wartete auf den Befehl des Biests zum Angriff. Die Schlittenhunde winselten ängstlich. Hoch ragte das monströse Biest über ihnen auf und Speichel tropfte aus dem Maul.
„Ich gehe zu ihm“, beschloss Elenna. „Vielleicht kann ich ihn beruhigen.“
„Er steht unter Malvels Bann“, warnte Tom sie. „Er weiß vielleicht gar nicht mehr, wer du bist.“
„Ich gebe Silver nicht auf“, sagte sie und näherte sich ihm langsam. Das Biest starrte sie an. Seine Atemwolken hüllten Elenna ein, während sie Schritt für Schritt näher kam. Tom hatte den Eindruck, als hätte der Wolf sie wiedererkannt, denn er meinte, ein kurzes Flackern in den Augen der Bestie erkannt zu haben. „Erinnert er sich an sie? Kann sie ihn beruhigen?“, überlegte Tom.
Die Wölfe schlichen sich durch den Schnee heran. Wie viel Zeit blieb Elenna noch, bevor sie angreifen würden?
„Silver? Ich bin es“, rief sie dem Biest zu. „Deine Freundin.“
Das Biest heulte bedrohlich auf und Elenna stolperte erschrocken rückwärts. Sie hielt den Bogen in der Hand.
Mit ausgestreckten Krallen stürzte das Biest sich auf Elenna. Sie duckte sich zur Seite und griff nach einem Pfeil. Aber eine scharfe Kralle zischte herab und riss ihr den Köcher mit den Pfeilen vom Rücken.
„Lass sie in Ruhe!“, schrie Tom und warf sich mit erhobenem Schild nach vorn. Blitzschnell wandte das Biest den Kopf um und schnappte mit den Kiefern nach dem Rand des Schilds. Es riss Tom den Schild vom Arm und schleuderte ihn in den Schnee.
Mit einer fließenden Bewegung zog Tom sein Schwert und ließ es kraftvoll durch die Luft sausen, um das Biest zurückzudrängen. Tom packte Elenna am Arm und zog sie weg, dann sprang er vor und machte einen Schwertstreich. Doch das Biest schien die Bewegung bereits erwartet zu haben. Es sprang über die Klinge auf Tom zu. Tom musste nach hinten ausweichen. Nur eine Haaresbreite von seinem Schwertarm entfernt schnappten die Kiefer krachend zusammen.
Tom brachte sich durch den hohen Schnee stolpernd in Sicherheit. Das Biest ließ ihn nicht aus den Augen.
„Silver kennt uns zu gut“, sagte er schwer atmend und mit heftig pochendem Herzen. „Er ahnt, was wir als Nächstes vorhaben.“
„Wie sollen wir ihn dann besiegen?“, fragte Elenna.
Tom dachte schnell nach. „Indem wir das Unerwartete tun“, erwiderte er. „Er wartet darauf, dass wir ihn angreifen. Also teilen wir uns auf, umkreisen ihn von beiden Seiten und verjagen zuerst die anderen Wölfe.“
Das Wolfsrudel war immer näher gekommen. Die Augen der Tiere leuchteten gelb. Sie hatten die Zähne gefletscht und gierten nach Beute.
„In Ordnung“, sagte Elenna und nickte. „Das machen wir.“
Tom und Elenna rannten rechts und links um das Biest herum. Das Biest wandte den Kopf von einer Seite zur anderen. Es zögerte, dann bewegte sich eine Kralle zuerst in Toms Richtung und dann in Elennas. Aber das Biest war nicht schnell genug.
Elenna hob ihren Pfeilköcher hoch und machte ihn an ihrem Gürtel fest. Dann spannte sie einen Pfeil auf den Bogen und schoss ihn auf das Wolfsrudel. Im gleichen Augenblick hechtete Tom zu seinem Schild.
Laut knurrend drehte sich das Biest zu Tom um und richtete sich auf die Hinterbeine auf. Von seinen Fangzähnen tropfte grüner Schleim. Tom griff nach seinem Schild und kauerte sich dahinter, als das Biest in die Luft sprang. Die Stacheln auf seinem Rücken stießen aneinander und machten ein grauenvolles Geräusch, das Tom zusammenzucken ließ.
Das Biest landete mit seinem ganzen Gewicht krachend auf dem Boden. Tom legte die Hand auf seinen Gürtel und beschwor die Kampfkünste von Tusks Juwel aus Bernstein. Dann sprang er dem Biest mitten zwischen die Beine.
Das Biest heulte wütend, als Tom unter seinem Bauch hindurchlief. Doch dann wirbelte es blitzschnell herum und sprang mit allen vier Pfoten gleichzeitig in die Luft.
„Er will mich zerquetschen!“, schoss es Tom durch den Kopf.
Tom warf sich zur Seite, bevor das Biest im Schnee landete. Er rappelte sich wieder auf, wurde aber beinahe erneut umgerissen, als der Boden unter ihm erschütterte. Ein lautes Krachen und Splittern erfüllte die eisige Luft. Plötzlich spritzten Wasserfontänen auf und ein lautes Rauschen war zu hören. Durch das Gewicht des Biests war eine dicke schneebedeckte Eisschicht aufgebrochen.
„Hier ist ein Fluss!“, rief Tom Elenna zu. Eisschollen schaukelten in den breiter werdenden Rissen. Wasserstrahlen schossen empor. Es spritzte und schäumte, als das Eis auseinanderbrach.
Tom konnte sein Gleichgewicht gerade so auf einer schaukelnden Eisscholle halten. Elenna sprang ans Flussufer.
Vor Wut heulend kletterte das Biest aus dem Fluss, aber es war jetzt auf der anderen Flussseite als Elenna, Tom und das Wolfsrudel.
Flink rannte Tom über die Eisscholle und sprang ans Ufer. Die Wölfe hatten sich bereits um Elenna versammelt. Sie heulten und schnappten nach ihr.
„Zurück!“, schrie Tom und rannte mit erhobenem Schwert auf die Tiere zu.
Elenna schoss einen Pfeil nach dem anderen ab. „Scheuche sie zum Fluss!“, rief sie Tom zu. „Dann werden sie fortgeschwemmt.“
Tom hieb mit der flachen Seite seines Schwerts nach den Wölfen und sie heulten vor Schmerz. Langsam drängte er sie das steile Flussufer hinab. Er schwang sein Schwert immer und immer wieder, bis ihm der Arm wehtat. Elenna zielte mit ihren Pfeilen in den Schnee neben die Wolfspfoten und zwang sie so zurückzuspringen. Die Wölfe wichen tatsächlich zurück, obwohl sie immer noch mit den Kiefern schnappten und zornig heulten.
Kurze Zeit später rutschte der erste Wolf die Böschung hinunter ins eisige Wasser. Tom und Elenna stürzten vor und drängten die anderen weiter. Die Wölfe purzelten übereinander und rutschten winselnd in den Fluss.
Sie zappelten und jaulten, als die Strömung sie flussabwärts trug. Ihr Fell war nass und platt an die mageren Körper gepresst. Schließlich kamen sie zu einer Stelle, wo das Ufer flach war, und kletterten aus dem Wasser. Mit zerrupftem Fell und die Schwänze zwischen die Beine geklemmt, rannten sie fort und ließen das Biest allein zurück.
Es stieß ein fürchterliches Heulen aus und blickte starr auf die andere Flussseite. Dann sprang es los. Der riesige Wolf landete im Schnee zwischen Tom und Elenna und riss sie beide von den Füßen.
Tom stand schnell wieder auf und erinnerte sich an den Beutel mit den magischen Gegenständen. „Das ist es! Ich muss einen magischen Gegenstand benutzen!“, dachte er. Drei Gegenstände hatten ihren Wert bereits bewiesen. Tom konnte nur hoffen, dass einer helfen würde, Silver zu besiegen, ohne ihn dabei zu verletzen.
Er steckte die Hand in den Beutel, der unter seinem Hemd verborgen war. Seine Finger schlossen sich um ein Glasfläschchen. Er zog es heraus. Es war aus dickem Glas gefertigt, mit drei Messingringen um den Flaschenhals und einem Korken. Im Inneren befand sich schimmerndes grünes Pulver.
„Es sieht genauso aus wie der grüne Schimmel auf dem Fleisch, das Silver gefressen hat!“, dachte er. „Aber wie soll ich es benutzen?“
Ein schreckliches Knurren ertönte. Tom blickte auf und sah, dass das Biest sich an Elenna herangeschlichen hatte. Es hatte ihr Pfeil und Bogen aus den Händen gerissen und sie zu Boden gestoßen. Entsetzt sah Tom zu, wie die Kiefer des Biests sich mit den Fangzähnen um Elennas Bauch schlossen und sie hoch in die Luft hoben.